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Glanz & Elend

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Impressum | Mediadaten | Letzter Stand: 26.06.2014, 14:17

10 Lektüretipps
für Herz & Hirn
empfohlen von Herbert Debes

Artikel online seit 15.03.13

Geisterbeschwörung

Stefan Zweig, Joseph Roth, Irmgard Keun, Kisch und Toller, Koestler und Kesten, die verbotenen Dichter. In Ostende, 1936 kommen Sie ein letztes Mal zusammen.
Stefan Zweig reist mit seiner Geliebten Lotte und der Schreibmaschine an, Joseph Roth kommt trotz Schnapsverbot, um Ferien mit seinem besten Freund zu machen und zu schreiben. Er verliebt sich ein letztes Mal: in Irmgard Keun, die bloß wegwollte aus dem Land der Bücherverbrenner. So sonderbar die Freundschaft zwischen dem Millionär Zweig und dem begnadeten Trinker Roth ist, so überraschend ist die Liebe zwischen Roth und der jungen, leidenschaftlichen Keun.
Es kommen noch mehr Schriftsteller nach Ostende. Sonne, Meer, Getränke – es könnte ein Urlaub unter Freunden sein. Wenn sich die politische Lage nicht täglich zuspitzte, wenn sie nicht alle verfolgt würden, ihre Bücher nicht verboten wären, wenn sie nicht ihre Heimat verloren hätten. Es sind Dichter auf der Flucht, Schriftsteller im Exil.
Volker Weidermann erzählt mitreißend von diesem Sommer kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, in dem Zweig, Roth und Keun mit ihren Freunden noch einmal das Leben feiern. Ein wunderbares Buch, das trotz aller Wehmut glücklich macht. Leseprobe


Volker Weidermann - 1936, Sommer der Freundschaft
Kiepenheuer & Witsch - 160 Seiten, gebunden - 17,99 €      
978-3-462-04600-7

Auf großer Fahrt

Eines Frühsommertages fahren Julio Cortázar und seine Ehefrau Carol Dunlop mit ihrem VW-Bus auf die Autobahn Paris – Marseille. Ausgestattet mit Proviant, Musik, einer Kamera und zwei Reiseschreibmaschinen, verfolgen sie, beide bereits sterbenskrank, ein letztes gemeinsames Vorhaben: unterwegs alle 63 Rastplätze anzusteuern, auf jedem zweiten zu übernachten. Mit dem drängenden Eifer von Forschungsreisenden dokumentieren sie ihre Expeditionserlebnisse in einem Logbuch. Es gehen da die bukolischen Horizonte, Begegnungen mit Müllmännern, Beschreibungen erster Skorbut-Symptome, überdies Fotos von allerhand Fauna und Seltsamkeiten und detailgetreue Geländeskizzen ein – bald auch, unter tätiger Mithilfe ihrer Fantasie, dunkle Bedrohungen durch mörderische Hexenjäger und Geheimagenten. Und bei alledem leben diese Reisenden in der Enge ihres Gefährts wie Liebende auf einer einsamen Insel. Das wunderbarste, absurdeste & liebenswerteste Reisebuch dieses Sommers. Leseprobe

Julio Cortázar, Carol Dunlop - Die Autonauten auf der Kosmobahn - Eine zeitlose Reise Paris – Marseille - Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer - Bibliothek Suhrkamp 1481 - 358 Seiten - 22,95 € - 978-3-518-22481-6

Zwischen den Welten

»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte: Ich werde Stand-up-Comedian. Die gute: Ich trage ab heute Burka – allerdings nur auf der Bühne.«
Die schüchterne Azime, 20, aus kurdischer Familie wächst in London auf. Ost und West, Islam und Säkularismus, Burka und bauchfrei - in Azimes beiden Welten gibt es klare Regeln, wie sie zu sein hat und was sie darf. Zwischen den Welten knirscht es gewaltig. Ihre kurdische Schulfreundin verliebt sich und kommt auf mysteriöse Weise ums Leben. Azime beginnt nachzuforschen. Als jedoch kurz darauf Terroranschläge in der U-Bahn Hunderte Opfer fordern, weiß sie, dass sie ihre Stimme erheben muss. Auf ihre Art. Heimlich besucht sie einen Comedy-Kurs, schlüpft in eine Burka und tritt auf: als weltweit erste muslimische Komikerin. Der Auftritt ist wie Sprengstoff. Ihre Familie verstößt sie, die englische Presse feiert sie als Sensation, im Internet hagelt es Morddrohungen. Es wird ernst. Und doch immer komischer. Und ganz anders, als man jetzt denkt.

Anthony McCarten - funny girl - Roman - Aus dem Englischen von Manfred Allié - Diogenes - 384 Seiten - 21,90 € - 978-3-257-06892-4

Junge Wilde

Sie kiffen, klauen, hängen ab. Der Anführer Zarco, der allen Angst einjagt, die verführerische Tere mit den grausam grünen Augen, und all die anderen, die kein Zuhause haben. Als Ignacio dazustößt, werden aus Kleinkriminellen bewaffnete Gangster. Banküberfälle, Nutten und harte Drogen sind jetzt ihr Alltag. Dann gibt es den ersten Toten, und Ignacio weiß: wenn er leben will, muss er aussteigen, auch wenn er die schöne Tere nie wiedersehen wird. Jahre später treffen sie sich vor Gericht wieder: Zarco als Angeklagter und Ignacio als Strafverteidiger. Aufwühlend und sehr einfühlsam erzählt Javier Cercas von den zerrissenen Freundschaften einer verlorenen Jugend in Spanien. Leseprobe

Javier Cercas - Outlaws - Roman - S. Fischer - 24,99 € - 978-3-10-010510-3

Rache

Louise Erdrich, die verläßliche Chronistin der amerikanischen Ureinwohner, führt uns diesmal nach North Dakota.
Im Sommer 1988 wird die Mutter des 14-jährigen Joe Coutts Opfer eines brutalen Verbrechens. Sie schließt sich in ihrem Zimmer ein und verweigert die Aussage. Vater und Sohn wissen nicht, wie sie sie zurück ins Leben holen können. Da sich der Überfall auf der Nahtstelle dreier Territorien ereignet hat, sind drei Behörden mit den Ermittlungen befasst. Joes Vater sind als Stammesrichter die Hände gebunden. So beschließt Joe, den Gewalttäter selbst zu finden. Mit seinen Freunden Cappy, Angus und Zack unternimmt er teils halsbrecherische, teils urkomische Ermittlungsversuche. Bei seiner aufreizenden Tante und im Kreis katholischer Pfadfinderinnen begegnet er der Liebe – und in alten Akten dem Schlüssel des Verbrechens. Leseprobe

Louise Erdrich - Das Haus des Windes - Roman - Übersetzt von Gesine Schröder - Aufbau Verlag -  384 Seiten - 19,99 € - 978-3-351-03579-2

 

Was ist Zivilisation

1843 wird der junge Matrose Narcisse Pelletier von seinem Kapitän versehentlich an der australischen Ostküste zurückgelassen. Als man ihn nach siebzehn Jahren zufällig wiederfindet, lebt er inmitten eines Stamms von Jägern und Sammlern: Er ist nackt und tätowiert, spricht nur noch deren Sprache, hat seinen Namen vergessen. Was ist geschehen? Dieses Rätsel versucht der Entdecker Octave de Vallombrun zu ergründen und glaubt sich der Lösung schon ganz nah, als ihm der „weiße Wilde“ in gebrochenem Französisch antwortet. Er bringt seinen verunglückten Landsmann nach Paris und macht es sich zur Aufgabe, ihn in sein altes Leben, zu seiner Familie zurückzuführen. Doch Narcisse Pelletier öffnet sich dem selbsternannten Retter nur widerwillig: Reden, so sagt er, ist wie Sterben. Packend und elegant, frei nach einer wahren Geschichte, vergleichbar mit Bruce Chatwins „Traumpfade“, erzählt François Garde in seinem vielfach ausgezeichneten Debütroman von einem, der die sogenannte Zivilisation über alles stellt, und von einem, dessen Leben dreigeteilt wurde in ein Vorher, Während und Danach. Leseprobe

Francois Garde -
Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman - Aus dem Französischen von Sylvia Spatz - C.H. Beck Verlag - 318 Seiten, gebunden - 19,95 € - 978-3-406-66304-8

Roadtrip

»Bei Leuten, die sich vor einen Zug schmeißen wollten, war Strottenheim eine große Nummer.«

Die Sportplatzkneipe der Familie Enders ist vor allem dafür bekannt, dass sich Selbstmörder dort ihr letztes Bier zapfen lassen. Sonst passiert nicht viel in Strottenheim. Für Milla Enders, Wirtstochter und genervt vom Leben, ändert sich erst etwas, als sie sich mit einem lebensmüden Bullibesitzer auf Reisen begibt.
Millas Familie, das sind die dominante Großmutter Lucia und ihre in die Jahre gekommene Mutter Rosana − eine Dorfschönheit, die für jeden, der wegen ihres Lächelns nicht auf dem Bahngleis endet, mit dem Zitronenmesser eine Kerbe in den Tresen ritzt. Und dann gibt es noch Millas Onkel Jano, mit dem Milla am liebsten den öden Kneipenalltag hinter sich lassen würde. Janos und Millas Beziehung ist eng − zu eng, wie Großmutter Lucia meint. Als die beiden eines Abends beim Tête-à-tête erwischt werden, bekommt Jano kalte Füße und verschwindet. Milla bleibt allein in Strottenheim zurück. Ausgerechnet mit einem Paketfahrer, der noch mehr in Schwierigkeiten steckt als sie, macht sie sich auf, Jano zu suchen. Leseprobe

Franziska Wilhelm - Meine Mutter schwebt im Weltall und Großmutter zieht Furchen - Roman - Klett-Cotta - 208 Seiten
18,95 - 978-3-608-93992-7

Ruf der Wildnis

Willkommen im wilden Wedding, jenem Berliner Bezirk, der wahlweise als eines der härtesten Krisengebiete des Landes oder als kommender In-Bezirk gepriesen wird. Erstaunlicherweise beides seit Jahrzehnten in friedlicher Koexistenz. Hier müssen sich die Bewohner noch nicht mit Touristen herumärgern, die sich in ihre Hauseingänge übergeben, hier steigt man auf dem Nachhauseweg noch über echte einheimische Kotze vom ureigenen Prekariat. Hier treffen sich nachts am Imbiss der McFit-gestählte Jungmacho, den seine Eroberung des Abends vor die Tür gesetzt hat, weil er zu betrunken war, um noch einen hoch zu kriegen, mit dem Prediger vom Moscheeverein gegenüber, der seinen Heißhunger auf Schweinefleisch zu stillen sucht. Hier beschimpfen sich Siebenjährige als Hurensöhne und verfickte Schwuchteln, die dann aber Angst vor Bambi haben. Und hier gibt es an jeder Ecke einen Spätkauf, der neben Bier und Chips auch Dildos, Ayurveda und Lebenshilfe im Sortiment hat. Leseprobe

Heiko Werning - Im wilden Wedding - Zwischen Ghetto und Gentrifizierung - edition tiamat - Critica Diabolis 214 - Broschur, 192 Seiten,  - 14.- € - 978-3-89320-185-3

Neue Erzählungen aus dem Leben

Erzählungen werden selten erzählt, sondern meist am Schreibtisch oder auf dem Laptop geschrieben. Das merkt man ihnen in der Regel auch an. Bei Schröder & Kalender ist es anders, das legendäre Autorenpaar erzählt sich die Geschichten gegenseitig. So entstehen absurde und komische Alltagsgeschichten über Steuerparadiese, gescheiterte Buchprojekte mit Berufsverbrechern, über den Zufall als Pseudonym Gottes, den Winter in der Provence und eine imaginäre Lotterie. Die hier versammelten Texte wurden zum Teil den Folgen von »Schröder erzählt« entnommen, zum Teil sind es neue Erzählungen aus dem Leben. »Kriemhilds Lache« ist Anstoß für eine neue Erzählkultur. F.W. Bernstein hat die Erzählungen opulent illustriert. Leseprobe

Jörg Schröder / Barbara Kalender - Kriemhilds Lache - Neue Erzählungen aus dem Leben - Verbrecher Verlag - Leinen mit Lesebändchen, 272 Seiten - 26,00 € - 9783943167399

Attacke gegen die Arbeitsmoral

Manche Texte wollen nicht so sehr klare Gedanken als vielmehr eine vitale Reaktion auslösen. Es reicht, wenn sich der Leser am nächsten Morgen gegen alle Verpflichtungen dazu entscheidet, im Bett zu bleiben. Ein Klassiker dieser Gattung ist ›Das Recht auf Faulheit‹, eine vehemente, schwungvolle, satirische Attacke gegen die Arbeitsmoral, die an die Zeitgenossen gerichtet ist und ihre Schärfe dennoch aus zeitlosen Motiven zieht, allen voran das Bild der verkehrten Welt: Auf einmal steht alles auf dem Kopf, die heilige Faulheit wird als neuer Kult zelebriert, die Reichen und Mächtigen werden Schauspieler zur Belustigung der feiernden Massen. Doch wie ratsam es ist, im Lachen innezuhalten und den Reichtum und die unheimliche Aktualität der hinter so viel Witz verborgenen Gedanken aufzuspüren, zeigt Guillaume Paoli in seinem brillanten Essay ›Wider den Ernst des Lebens‹, der von einem Recht und eben nicht einem Lob der Faulheit spricht – wirklich von Faulheit und nicht von Muße. Diese Neuübersetzung versprüht auch heute noch explosive Funken. Leseprobe

Paul Lafargue - Das Recht auf Faulheit  - Aus dem Französischen von Eduard Bernstein und Ulrich Kunzmann, mit einem Essay von Guillaume Paoli - Matthes&Seitz Berlin - 122 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag - 14,90 € - 978-3-88221-035-4
 


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