10 Lektüretipps
für Herz & Hirn
empfohlen von Herbert Debes
Artikel online seit 15.03.13
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Geisterbeschwörung
Stefan
Zweig, Joseph Roth, Irmgard Keun, Kisch und Toller, Koestler und Kesten, die
verbotenen Dichter.
In
Ostende, 1936 kommen Sie ein letztes Mal zusammen.
Stefan Zweig reist mit seiner Geliebten Lotte und der Schreibmaschine an, Joseph
Roth kommt trotz Schnapsverbot, um Ferien mit seinem besten Freund zu machen und
zu schreiben. Er verliebt sich ein letztes Mal: in Irmgard Keun, die bloß
wegwollte aus dem Land der Bücherverbrenner. So sonderbar die Freundschaft
zwischen dem Millionär Zweig und dem begnadeten Trinker Roth ist, so
überraschend ist die Liebe zwischen Roth und der jungen, leidenschaftlichen
Keun.
Es kommen noch mehr Schriftsteller nach Ostende. Sonne, Meer, Getränke – es
könnte ein Urlaub unter Freunden sein. Wenn sich die politische Lage nicht
täglich zuspitzte, wenn sie nicht alle verfolgt würden, ihre Bücher nicht
verboten wären, wenn sie nicht ihre Heimat verloren hätten. Es sind Dichter auf
der Flucht, Schriftsteller im Exil.
Volker Weidermann erzählt mitreißend von diesem Sommer kurz vor dem Zweiten
Weltkrieg, in dem Zweig, Roth und Keun mit ihren Freunden noch einmal das Leben
feiern. Ein wunderbares Buch, das trotz aller Wehmut glücklich macht.
Leseprobe
Volker Weidermann -
1936, Sommer der Freundschaft
Kiepenheuer & Witsch - 160 Seiten, gebunden - 17,99 €
978-3-462-04600-7
Auf
großer Fahrt
Eines Frühsommertages fahren Julio Cortázar und seine Ehefrau Carol Dunlop mit
ihrem VW-Bus auf die Autobahn Paris – Marseille. Ausgestattet mit Proviant,
Musik, einer Kamera und zwei Reiseschreibmaschinen, verfolgen sie, beide bereits
sterbenskrank, ein letztes gemeinsames Vorhaben: unterwegs alle 63 Rastplätze
anzusteuern, auf jedem zweiten zu übernachten. Mit dem drängenden Eifer von
Forschungsreisenden dokumentieren sie ihre Expeditionserlebnisse in einem
Logbuch. Es gehen da die bukolischen Horizonte, Begegnungen mit Müllmännern,
Beschreibungen erster Skorbut-Symptome, überdies Fotos von allerhand Fauna und
Seltsamkeiten und detailgetreue Geländeskizzen ein – bald auch, unter tätiger
Mithilfe ihrer Fantasie, dunkle Bedrohungen durch mörderische Hexenjäger und
Geheimagenten. Und bei alledem leben diese Reisenden in der Enge ihres Gefährts
wie Liebende auf einer einsamen Insel. Das wunderbarste, absurdeste &
liebenswerteste Reisebuch dieses Sommers.
Leseprobe
Julio Cortázar, Carol Dunlop - Die Autonauten auf der Kosmobahn
- Eine zeitlose Reise Paris – Marseille - Aus dem Spanischen von Wilfried
Böhringer - Bibliothek Suhrkamp 1481 - 358 Seiten - 22,95 € - 978-3-518-22481-6
Zwischen
den Welten
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte: Ich werde
Stand-up-Comedian. Die gute: Ich trage ab heute Burka – allerdings nur auf der
Bühne.«
Die schüchterne Azime, 20, aus kurdischer Familie wächst in London auf. Ost und
West, Islam und Säkularismus, Burka und bauchfrei - in Azimes beiden Welten gibt
es klare Regeln, wie sie zu sein hat und was sie darf. Zwischen den Welten
knirscht es gewaltig. Ihre kurdische Schulfreundin verliebt sich und kommt auf
mysteriöse Weise ums Leben. Azime beginnt nachzuforschen. Als jedoch kurz darauf
Terroranschläge in der U-Bahn Hunderte Opfer fordern, weiß sie, dass sie ihre
Stimme erheben muss. Auf ihre Art. Heimlich besucht sie einen Comedy-Kurs,
schlüpft in eine Burka und tritt auf: als weltweit erste muslimische Komikerin.
Der Auftritt ist wie Sprengstoff. Ihre Familie verstößt sie, die englische
Presse feiert sie als Sensation, im Internet hagelt es Morddrohungen. Es wird
ernst. Und doch immer komischer. Und ganz anders, als man jetzt denkt.
Anthony McCarten - funny girl - Roman -
Aus dem Englischen von Manfred Allié - Diogenes - 384 Seiten - 21,90 € -
978-3-257-06892-4
Junge
Wilde
Sie kiffen, klauen, hängen ab. Der Anführer Zarco, der allen Angst einjagt, die
verführerische Tere mit den grausam grünen Augen, und all die anderen, die kein
Zuhause haben. Als Ignacio dazustößt, werden aus Kleinkriminellen bewaffnete
Gangster. Banküberfälle, Nutten und harte Drogen sind jetzt ihr Alltag. Dann
gibt es den ersten Toten, und Ignacio weiß: wenn er leben will, muss er
aussteigen, auch wenn er die schöne Tere nie wiedersehen wird. Jahre später
treffen sie sich vor Gericht wieder: Zarco als Angeklagter und Ignacio als
Strafverteidiger. Aufwühlend und sehr einfühlsam erzählt Javier Cercas von den
zerrissenen Freundschaften einer verlorenen Jugend in Spanien.
Leseprobe
Javier
Cercas -
Outlaws -
Roman
-
S. Fischer
-
24,99 €
-
978-3-10-010510-3
Rache
Louise Erdrich, die verläßliche Chronistin der amerikanischen Ureinwohner, führt
uns diesmal nach North Dakota.
Im Sommer 1988 wird die Mutter des 14-jährigen Joe Coutts Opfer eines brutalen
Verbrechens. Sie schließt sich in ihrem Zimmer ein und verweigert die Aussage.
Vater und Sohn wissen nicht, wie sie sie zurück ins Leben holen können. Da sich
der Überfall auf der Nahtstelle dreier Territorien ereignet hat, sind drei
Behörden mit den Ermittlungen befasst. Joes Vater sind als Stammesrichter die
Hände gebunden. So beschließt Joe, den Gewalttäter selbst zu finden. Mit seinen
Freunden Cappy, Angus und Zack unternimmt er teils halsbrecherische, teils
urkomische Ermittlungsversuche. Bei seiner aufreizenden Tante und im Kreis
katholischer Pfadfinderinnen begegnet er der Liebe – und in alten Akten dem
Schlüssel des Verbrechens.
Leseprobe
Louise Erdrich - Das Haus des Windes - Roman - Übersetzt von Gesine
Schröder - Aufbau Verlag - 384 Seiten - 19,99 € - 978-3-351-03579-2
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Was
ist Zivilisation
1843 wird der junge Matrose Narcisse Pelletier von seinem Kapitän versehentlich
an der australischen Ostküste zurückgelassen. Als man ihn nach siebzehn Jahren
zufällig wiederfindet, lebt er inmitten eines Stamms von Jägern und Sammlern: Er
ist nackt und tätowiert, spricht nur noch deren Sprache, hat seinen Namen
vergessen. Was ist geschehen? Dieses Rätsel versucht der Entdecker Octave de
Vallombrun zu ergründen und glaubt sich der Lösung schon ganz nah, als ihm der
„weiße Wilde“ in gebrochenem Französisch antwortet. Er bringt seinen
verunglückten Landsmann nach Paris und macht es sich zur Aufgabe, ihn in sein
altes Leben, zu seiner Familie zurückzuführen. Doch Narcisse Pelletier öffnet
sich dem selbsternannten Retter nur widerwillig: Reden, so sagt er, ist wie
Sterben. Packend und elegant, frei nach einer wahren Geschichte, vergleichbar
mit Bruce Chatwins „Traumpfade“, erzählt François Garde in seinem vielfach
ausgezeichneten Debütroman von einem, der die sogenannte Zivilisation über alles
stellt, und von einem, dessen Leben dreigeteilt wurde in ein Vorher, Während und
Danach.
Leseprobe
Francois Garde -
Was mit dem weißen Wilden geschah
- Roman - Aus dem Französischen von Sylvia Spatz - C.H. Beck Verlag - 318
Seiten, gebunden - 19,95 € - 978-3-406-66304-8
Roadtrip
»Bei Leuten, die sich vor einen Zug schmeißen wollten, war Strottenheim eine
große Nummer.«
Die Sportplatzkneipe der Familie Enders ist vor allem dafür bekannt, dass sich
Selbstmörder dort ihr letztes Bier zapfen lassen. Sonst passiert nicht viel in
Strottenheim. Für Milla Enders, Wirtstochter und genervt vom Leben, ändert sich
erst etwas, als sie sich mit einem lebensmüden Bullibesitzer auf Reisen begibt.
Millas Familie, das sind die dominante Großmutter Lucia und ihre in die Jahre
gekommene Mutter Rosana − eine Dorfschönheit, die für jeden, der wegen ihres
Lächelns nicht auf dem Bahngleis endet, mit dem Zitronenmesser eine Kerbe in den
Tresen ritzt. Und dann gibt es noch Millas Onkel Jano, mit dem Milla am liebsten
den öden Kneipenalltag hinter sich lassen würde. Janos und Millas Beziehung ist
eng − zu eng, wie Großmutter Lucia meint. Als die beiden eines Abends beim
Tête-à-tête erwischt werden, bekommt Jano kalte Füße und verschwindet. Milla
bleibt allein in Strottenheim zurück. Ausgerechnet mit einem Paketfahrer, der
noch mehr in Schwierigkeiten steckt als sie, macht sie sich auf, Jano zu suchen.
Leseprobe
Franziska Wilhelm - Meine Mutter schwebt im Weltall und Großmutter zieht
Furchen - Roman - Klett-Cotta - 208 Seiten
18,95 - 978-3-608-93992-7
Ruf
der Wildnis
Willkommen im wilden Wedding, jenem Berliner Bezirk, der wahlweise als eines der
härtesten Krisengebiete des Landes oder als kommender In-Bezirk gepriesen wird.
Erstaunlicherweise beides seit Jahrzehnten in friedlicher Koexistenz. Hier
müssen sich die Bewohner noch nicht mit Touristen herumärgern, die sich in ihre
Hauseingänge übergeben, hier steigt man auf dem Nachhauseweg noch über echte
einheimische Kotze vom ureigenen Prekariat. Hier treffen sich nachts am Imbiss
der McFit-gestählte Jungmacho, den seine Eroberung des Abends vor die Tür
gesetzt hat, weil er zu betrunken war, um noch einen hoch zu kriegen, mit dem
Prediger vom Moscheeverein gegenüber, der seinen Heißhunger auf Schweinefleisch
zu stillen sucht. Hier beschimpfen sich Siebenjährige als Hurensöhne und
verfickte Schwuchteln, die dann aber Angst vor Bambi haben. Und hier gibt es an
jeder Ecke einen Spätkauf, der neben Bier und Chips auch Dildos, Ayurveda und
Lebenshilfe im Sortiment hat.
Leseprobe
Heiko Werning - Im wilden
Wedding -
Zwischen Ghetto und Gentrifizierung - edition tiamat -
Critica Diabolis 214 -
Broschur, 192 Seiten, -
14.- € -
978-3-89320-185-3
Neue
Erzählungen aus dem Leben
Erzählungen werden selten erzählt, sondern meist am Schreibtisch oder auf dem
Laptop geschrieben. Das merkt man ihnen in der Regel auch an. Bei Schröder &
Kalender ist es anders, das legendäre Autorenpaar erzählt sich die Geschichten
gegenseitig. So entstehen absurde und komische Alltagsgeschichten über
Steuerparadiese, gescheiterte Buchprojekte mit Berufsverbrechern, über den
Zufall als Pseudonym Gottes, den Winter in der Provence und eine imaginäre
Lotterie. Die hier versammelten Texte wurden zum Teil den Folgen von »Schröder
erzählt« entnommen, zum Teil sind es neue Erzählungen aus dem Leben. »Kriemhilds
Lache« ist Anstoß für eine neue Erzählkultur. F.W. Bernstein hat die Erzählungen
opulent illustriert.
Leseprobe
Jörg Schröder / Barbara Kalender - Kriemhilds Lache - Neue Erzählungen
aus dem Leben - Verbrecher Verlag - Leinen mit Lesebändchen, 272 Seiten - 26,00
€ - 9783943167399
Attacke
gegen die Arbeitsmoral
Manche Texte wollen nicht so sehr klare Gedanken als vielmehr eine vitale
Reaktion auslösen. Es reicht, wenn sich der Leser am nächsten Morgen gegen alle
Verpflichtungen dazu entscheidet, im Bett zu bleiben. Ein Klassiker dieser
Gattung ist ›Das Recht auf Faulheit‹, eine vehemente, schwungvolle, satirische
Attacke gegen die Arbeitsmoral, die an die Zeitgenossen gerichtet ist und ihre
Schärfe dennoch aus zeitlosen Motiven zieht, allen voran das Bild der verkehrten
Welt: Auf einmal steht alles auf dem Kopf, die heilige Faulheit wird als neuer
Kult zelebriert, die Reichen und Mächtigen werden Schauspieler zur Belustigung
der feiernden Massen. Doch wie ratsam es ist, im Lachen innezuhalten und den
Reichtum und die unheimliche Aktualität der hinter so viel Witz verborgenen
Gedanken aufzuspüren, zeigt Guillaume Paoli in seinem brillanten Essay ›Wider
den Ernst des Lebens‹, der von einem Recht und eben nicht einem Lob der Faulheit
spricht – wirklich von Faulheit und nicht von Muße. Diese Neuübersetzung
versprüht auch heute noch explosive Funken.
Leseprobe
Paul Lafargue - Das Recht auf Faulheit - Aus dem
Französischen von Eduard Bernstein und Ulrich Kunzmann, mit einem Essay von
Guillaume Paoli - Matthes&Seitz Berlin - 122 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
- 14,90 € - 978-3-88221-035-4
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