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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Bücher & Themen
Artikel online seit 17.09.13

Vom Erschrecken über sich selbst

Rolf Dobellis Romandebut »Fünfunddreißig« im Herbst 2004
bei Diogenes versprach einiges an literarischem Potential.
Heute ist Dobelli Autor bei Hanser und schreibt Bücher mit
anmaßenden Titeln wie »Die Kunst des klaren Denkens«
oder »Die Kunst des klugen Handelns«.
Vielleicht sollte er mal wieder nach Indien fliegen...


Von Herbert Debes
 

Erstarrt sitzt der Mann auf einer Bank am Ufer des Zürichsees. Es ist Februar, kalt, es regnet. Seine Schuhe stehen in kleinen Pfützen, er ist völlig durchnäßt. Aber er ist kein Obdachloser, kein Drogenabhängiger. Der Mann, der da sitzt, ist Gehrer. Heute ist sein fünfunddreißigster Geburtstag. In seiner Firma wartet man mit Schnittchen und Wein auf ihn, den erfolgreichen Marketingchef. Er wird für heute aus Harvard zurückerwartet. Dorthin hat ihn seine Firma auf ein Seminar für Führungskräfte geschickt. Eine Auszeichnung für Gehrers außerordentlich erfolgreiche Arbeit. Aber Gehrer kommt nicht aus Boston, er ist mit einer Maschine aus Indien gelandet.

In Harvard ist ihm nämlich etwas passiert, was Führungskräften nicht passieren darf. Gehrer ist durchgeknallt, hat das Seminar geschmissen, die Dozenten vor den Kopf gestoßen, sich Hals über Kopf in das erstbeste Flugzeug geflüchtet, und ist schließlich in Indien gelandet. 

Dort hat er sein Laptop in den Ganges geworfen, seine Rolex verschenkt, und ist in den Fluß eingetaucht, samt Anzug und Krawatte. Sein Handy hat er inkonsequenterweise behalten. Dann fuhr er mit dem Zug durch das Land, kam bis zum Meer, auf das er lange geschaut hat ...

Jetzt sitzt er da, im Regen am Zürichsee. Im Büro haben sie schon angefangen zu trinken, seine Frau wartet in einem Nobelrestaurant auf ihn. Vergeblich. Gehrer ist völlig bewegungsunfähig. In ihm rattert eine Gedankenmaschine, die er offensichtlich nicht mehr kontrollieren, geschweige denn stoppen kann. Sein bisheriges Leben, die Beziehung zu seiner Frau, seine Karriere rast wie ein auf schnellen Rücklauf gestelltes Videotape durch seinen Kopf. Doch schließlich muß ihn jemand gefunden haben, denn Gehrer öffnet seine Augen in einem hellen Zimmer und sieht das Weiß der Bettwäsche.

Rolf Dobelli schien damals zu wissen, von was er eschrieben hat, war er doch selbst Finanzchef und »CEO« in einem Konzern, bevor er seine eigene Firma »getAbstract« gründete.

Das Leben als rasender Stillstand, in dem die human-resource-unit Karriere macht, und der Mensch dahinter vollendet sich in den Slogans und Glücksversprechen der men-in-black, deren oberste Maxime die Optimierung der Wertschöpfungskette ist. Das dürfte in etwa der Philosophie der Acker- und Bertelsmänner entsprechen.

Dobelli läßt Gehrer auf der Bank sitzen, läßt ihn keine Lösung finden, legt keine Spuren für einen möglichen Neuanfang. Er tut das Richtige. Im Ganges auf Reinigung zu hoffen, ist naiv. Ein Westeuropäer holte sich dort höchsten Amöbenruhr. Es nützt auch nichts, aufs Meer zu schauen. Das Meer hat keine Fragen und es kennt keine Antworten. Gehrer müßte dabei schon die Blickrichtung umkehren. Sich selbst zu vergessen, das wäre die Kunst. Die Verlorenheit zu akzeptieren, das Absurde anzunehmen, die Poesie des Nichts zu erkennen. Aber das kann Gehrer ja noch lernen, wenn er aus der Klinik entlassen wird, er ist ja erst 35.

Rolf Dobelli hat uns die Geschichte vom Erwachen eines jener Elite-Soldaten erzählt, die glauben, im Krieg der Konzerne selbst einen guten Schnitt machen zu können, bis sie eines Tages über sich selbst erschrecken, weil ihre Seele auf dem Sprung ist, sich einen neuen Menschen zu suchen.
 

Rolf Dobelli
Fünfunddreißig
Eine Midlife Story
Leinen, 208 S.
ISBN 3-257-06352-0
Euro 16.90
 


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