Erstarrt sitzt der Mann auf einer Bank am Ufer des Zürichsees. Es ist Februar,
kalt, es regnet. Seine Schuhe stehen in kleinen Pfützen, er ist völlig
durchnäßt. Aber er ist kein Obdachloser, kein Drogenabhängiger. Der Mann, der da sitzt, ist Gehrer. Heute ist sein fünfunddreißigster Geburtstag. In seiner Firma wartet
man mit Schnittchen und Wein auf ihn, den erfolgreichen Marketingchef. Er wird
für heute aus Harvard zurückerwartet. Dorthin hat ihn seine Firma auf ein
Seminar für Führungskräfte geschickt. Eine Auszeichnung für Gehrers
außerordentlich erfolgreiche Arbeit. Aber Gehrer kommt nicht aus Boston, er ist
mit einer Maschine aus Indien gelandet.
In Harvard ist ihm nämlich etwas passiert, was
Führungskräften nicht passieren darf. Gehrer ist durchgeknallt, hat das
Seminar geschmissen, die Dozenten vor den Kopf gestoßen, sich Hals über Kopf
in das erstbeste Flugzeug geflüchtet, und ist schließlich in Indien gelandet.
Dort hat er sein Laptop in den Ganges geworfen, seine Rolex verschenkt, und ist
in den Fluß eingetaucht, samt Anzug und Krawatte. Sein Handy hat er
inkonsequenterweise behalten.
Dann fuhr er mit dem Zug durch das Land, kam bis zum Meer, auf das er lange
geschaut hat
...
Jetzt sitzt er da, im Regen am Zürichsee. Im Büro haben sie schon angefangen zu
trinken, seine Frau wartet in einem Nobelrestaurant auf ihn. Vergeblich. Gehrer ist
völlig bewegungsunfähig. In ihm rattert eine Gedankenmaschine, die er offensichtlich
nicht mehr kontrollieren, geschweige denn stoppen kann. Sein bisheriges Leben, die
Beziehung zu seiner Frau, seine Karriere rast wie ein auf schnellen Rücklauf
gestelltes Videotape durch seinen Kopf. Doch schließlich muß ihn jemand gefunden
haben, denn Gehrer öffnet seine Augen in einem hellen Zimmer und sieht das
Weiß der Bettwäsche.
Rolf Dobelli schien damals zu wissen, von was er eschrieben hat, war er doch selbst Finanzchef und »CEO« in einem Konzern, bevor er seine eigene Firma
»getAbstract« gründete.
Das Leben als rasender Stillstand, in dem die human-resource-unit Karriere
macht, und der Mensch dahinter vollendet sich in den Slogans und
Glücksversprechen der men-in-black, deren oberste Maxime die Optimierung der
Wertschöpfungskette ist. Das dürfte in etwa der Philosophie der Acker- und Bertelsmänner
entsprechen.
Dobelli läßt Gehrer auf der Bank sitzen, läßt ihn keine Lösung
finden, legt keine Spuren für einen möglichen Neuanfang. Er tut das Richtige.
Im Ganges auf Reinigung zu hoffen, ist naiv. Ein Westeuropäer holte sich dort
höchsten Amöbenruhr. Es nützt auch nichts, aufs Meer zu schauen. Das Meer hat
keine Fragen und es kennt keine Antworten. Gehrer müßte dabei schon die
Blickrichtung umkehren. Sich selbst zu vergessen, das wäre die Kunst. Die
Verlorenheit zu akzeptieren, das Absurde anzunehmen, die Poesie des Nichts zu
erkennen. Aber das kann Gehrer ja noch lernen, wenn er aus der Klinik entlassen
wird, er ist ja erst 35.
Rolf Dobelli hat uns die Geschichte vom Erwachen eines jener Elite-Soldaten
erzählt, die glauben, im Krieg der Konzerne selbst einen guten Schnitt machen
zu können, bis sie eines Tages über sich selbst erschrecken, weil ihre Seele
auf dem Sprung ist, sich einen neuen Menschen zu suchen.
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Rolf
Dobelli
Fünfunddreißig
Eine Midlife Story
Leinen, 208 S.
ISBN 3-257-06352-0
Euro 16.90
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