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Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 03.06.13

Gretchen ist da

Die Frage: Wer ist einzlkind? beschäftigt seit seinem/ihrem
Debutromanüberraschungserfolg »Harold« die Literaturszene.
Bislang konnte das inkognito gewahrt werden.
Nun haben Klaus Bittermann und einzlkind nachgelegt und
»Gretchen« auf die Reise geschickt.

Von Stefan Geyer

 

Vor drei Jahren erschien unter dem Pseudonym einzlkind im Berliner Verlag Edition Tiamat der Roman Harold, ein aberwitziges Roadmovie voller absurder Geschehnisse und skurriler Gestalten. Eine unvergessliche Lektüre, die das Feuilleton sowie die Leserschaft gleichermaßen begeisterte und dem Verlag einen Bestseller bescherte. Wilde Spekulationen schossen ins Kraut wer sich hinter einzlkind wohl verbergen möge. Bis heute blieb das Geheimnis ungelüftet.

Jetzt wird wieder spekuliert werden, denn kürzlich ist der zweite Roman von einzlkind erschienen, Gretchen. Dieses Mal hat der Verlag weder Kosten noch Mühe gescheut und dem Buch einen festen Einband nebst Schutzumschlag und Lesebändchen spendiert. Er verspricht sich offensichtlich einiges von diesem Roman, zurecht. Gretchen also, wieder ein Name als Titel, dieses Mal ein Frauenname der an Goethe denken lässt oder an Gretel aus dem Märchen. Es geht furios los und auf den ersten Seiten fühlt man sich in die absurde Bilderwelt eines Eugen Egner oder in frühe Romane Herbert Rosendorfers versetzt.

Wir lernen Gretchen Morgenthau kennen, eine Wienerin, die nicht mehr in der Blüte ihres Lebens steht aber hellwach und schlagfertig ist. In einem zweiten Erzählstrang wird uns Kyell vorgestellt, ein junger Tierarzt wider Willen, der auf dem Eiland Gwynfear unweit von Island lebt. Beider Geschichte erzählt einzlkind in drei Teilen/Akten und 28 Kapiteln. Hatten wir es bei Harold mit einem Antihelden zu tun, der ohne die Begleitung des elfjährigen Melvin aufgeschmissen wäre, so ist Gretchen eine starke, modebewusste Frau, die sich nichts vormachen lässt.

Vor Gericht

Sie lebt in London auf bescheidenen 120 Quadratmetern und hat Probleme in der nur zwölf Quadratmeter großen Kleiderkammer ihre Garderobe unterzubringen. Nach dem vergeblichen Versuch als Auftragskiller durchs Leben zu gehen, wählte Gretchen die Theaterlaufbahn und wurde Intendantin.

Gretchen ist krank, sterbenskrank – Schnupfen. Der benachbarte pensionierte Arzt und ihr lebenslanger, wenn auch unerhörter, Verehrer, Dr. Mandelberg diagnostiziert eine Verstopfung und empfiehlt Kamillentee. So fängt dieser aberwitzige Trip an, der uns über einige von Gretchens Lebensstationen erwartungsgemäß nach Gwynfear führt. Unterwegs begegnen wir allerhand ungewöhnlichen Figuren, unter anderem einem Taxifahrer, der behauptet Wikipedia auswendig zu kennen, aber nur elektrische Zahnbürsten verkaufen will, einem Wiener Lehrer, der Gretchen ob ihrer Regiearbeit am Burgtheater zur Sau macht, einem Pfarrer für alle Weltreligionen, einem Richter mit Vorliebe für Absinth und Camus, Stalin, dem Kater und einem Haubentaucher namens Charles Manson. Wie auch schon in Harold ist dieser Roman reich an Anspielungen und Assoziationen. einzlkind jongliert mit Namen aus der Literatur und dem Theater, dass es eine reine Freude ist. Tykwer, Halldór, Grass, Rainald Goetz, Alexander Kluge, Sophie Rois, Bertolt Brecht, Thomas Bernhard – sie Alle tauchen mehr oder weniger verschlüsselt in dieser aberwitzigen Geschichte auf. Selbst die Kapselkaffee-Werbung von George Clooney ist es wert, Erwähnung zu finden. Auf Bezüge zu Joyce und seinen Ulysses, die noch in Harold so zahlreich waren, müssen wir allerdings bis zum Schluss warten. Es ist nicht zuviel verraten, wenn gesagt wird, dass Gretchen mit dem selben Wort endet wie der Ulysses - Ja.

Gegen Ende des ersten Aktes landet Gretchen vor Gericht. Diese Gerichtsverhandlung ist ein dramaturgischer Höhepunkt des Romans, ein absurdes Theater, mit Gretchen und dem Richter als Hauptdarstellern und einem Publikum, das unterhalten werden möchte – Abonnenten-Publikum und aufgespritzte Champagner-Drosseln. Ihr wird Trunkenheit am Steuer vorgeworfen, zudem soll sie mit ihrem Jaguar ein Polizeiauto demoliert haben („Sechs oder sieben Gläser. Auf keinen Fall mehr als acht.“). Der Richter hat ein Faible für außergewöhnliche Urteile, die eher als Erziehungsmaßnahme zu werten sind. Und so wird Gretchen zu vier Wochen Gwynfear verdonnert, wo sie eine Theateraufführung mit den Bewohnern einstudieren und aufführen soll.

Tomatensaft oder Blut?

Die Überfahrt nach Gwynfear leitet den zweiten Akt ein. Der Fährmann, ein Fischer, ist Gretchen intellektuell ebenbürtig und sogar in Modedingen bewandert. Auf Gwynfear, das sich auch als Böcklins Toteninsel vorstellen lässt, wird unsere Heldin wie ein Staatsgast empfangen. Die Bevölkerung entpuppt sich als kultur- und theaterbegeistert und gefällt sich in mehr oder weniger fachkundigen Bemerkungen und Gesprächen. Hier lernt die Frau Intendantin dann auch den schweigsamen Kyell kennen, den sie zu ihrem Assistenten macht. Peer Gynt ist das Stück ihrer Wahl. Dieser Vorschlag stößt allerdings nicht auf allzu viel Gegenliebe bei den Einheimischen. Aber da Gretchen ohnehin nur wenig Lust hat, überhaupt ein Stück zu inszenieren, überlässt sie schließlich Tule, einem mit Kyell befreundeten Journalist, die ganze Arbeit und freie Hand. Gretchen scheitert derweil lieber bei dem Versuch, einige kernige Schotten, die abgelegen auf der Insel hausen, mit deren selbst gebranntem Whisky unter den Tisch zu saufen. Anschließend schläft sie drei Tage.

In Tules selbständiger „Regiearbeit“ geht es um den Tod, oder besser um die Frage: Tomatensaft oder Blut. Gretchen ist nicht angetan, fürchtet um ihren posthumen Ruf und spricht ein Machtwort. Es wird wieder Peer Gynt einstudiert. Und wer schon die ganze Zeit auf die Gretchenfrage gewartet hat, im zweiten Akt wird sie gestellt. Der dritte Akt besteht nur aus einem einzigen Kapitel und gilt dem letzten Tag Gretchens auf Gwynfear. Mehr soll hier nicht verraten werden.

einzlkind beherrscht das literarische Handwerk perfekt. Gretchen ist bei allem Humor und Witz ein ernster und durchaus melancholischer Roman, der nicht weniger verhandelt als große Themen wie das Leben, die Kunst und den Tod. Es ist die große Kunst von einzlkind, Melancholie und Humor in diesem wunderbaren Roman zu einer Einheit geformt zu haben und dabei auf jeden Klamauk zu verzichten.(„Humor ist eine sehr ernste Angelegenheit, deshalb verstehen lustige Menschen Humor ja auch nie“)

Und wir sollten uns von dem undeutlichen Autorenfoto nicht blenden lassen – was ist, wenn einzlkind eine Frau ist? Aber eigentlich ist das auch egal. Gretchen ist ein würdiger Nachfolger von Harold. Und der Umschlagtext „Sie haben Harold geliebt? Dann werden Sie Gretchen hassen.“ ist eine kokette Warnung. Sie werden Gretchen lieben. Aber lassen wir unserer Heldin das letzte Wort: „Hauptsache, du benutzt kein Pseudonym. Es gibt nichts Schlimmeres, als Schriftsteller mit einem Pseudonym.“

Dieser Beitrag ist auch erschienen bei www.faust-kultur.de erschienen.
 

einzlkind
Gretchen
Roman
Edition Tiamat, Berlin 2013
240 Seiten
€ 18,-
978-3-89320-176-1

Leseprobe

 


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