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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Enzensberger I, II & III

Hans Magnus Enzensberger »Tumult«

Von Lothar Struck




 

Eine beliebte Formulierung der restaurativen Stammtischgesellschaft der 1960er Jahre gegenüber den protestierenden Studierenden lautete: "Wenn's Dir nicht passt, geh' doch nach drüben". Nichts charakterisiert Hans Magnus Enzensberger mehr als die Tatsache, dass er schon bevor der inkriminierte Spruch aufkam mehrmals "drüben" gewesen war. Damit der Leser seines neuesten Buches "Tumult" dies auch wirklich glaubt, sind Kopien der Sichtvermerkstempel abgedruckt – UdSSR 1963, Kambodscha und Kuba 1968.

Mit diesem so unscheinbar daherkommenden Büchlein möchte Enzensberger natürlich seine Biographie arrangieren. Es dient der Imagepflege und schielt bereits auf den Nachruhm. Schwerpunkt sind die Jahre der Revolte, des "Tumults" in der westlichen Welt. Zunächst jedoch erzählt Enzensberger von zwei Reisen in die Sowjetunion. Die erste Reise trat er im August 1963 an. Anlass war eine Einladung zu einem Schriftstellerkongresses. Zusammen mit Hans Werner Richter vertrat er sozusagen die Bundesrepublik. Die Stationen waren Leningrad, Moskau und schließlich eine unverhoffte Begegnung mit Nikita Chruschtschow in dessen Villa in Gagra. Wie der Autor schon bei der Einladung zum Kongress den Unwissenden spielt (war mir nicht ganz klar) ist es ihm bis heute unklar, warum Hans Werner Richter nicht zu Chruschtschow mitkommen durfte. Dieser wird von Enzensberger mit der ihm eigenen Schärfe und Beobachtungsgabe emotionslos analysiert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Kubakrise, die fast zu einem atomaren Weltkrieg eskaliert wäre, gerade erst zehn Monate vergangen war: Durch ein Plebiszit oder durch parlamentarische Wahlen wäre dieser Mann nie in den Besitz der Macht gelangt. Er ist unscheinbar. Das hat ihn vermutlich gerettet. Seine Stärke ist die eines Menschen, der zu überleben vorhat. […] Seine Grundüberzeugungen sind so schlicht, daß sie sein Verhalten nicht programmieren, sondern umgekehrt: das Verhalten interpretiert sie von Fall zu Fall. […] Von seiner größten politischen Leistung ahnt er nichts. Sie liegt in der Entzauberung der Macht. […] Ihm gegenüber stellt sich eher Langeweile ein, nie und nimmer jene Faszination, der ein Mann wie de Gaulle seine Wirkung verdankt. Dieser präzise, fast sezierende Blick macht den Reiz der Lektüre aus. Einmal wird Ossip Mandelstam zitiert: 'Die eigentliche Leistung des Dichters liegt in seiner Aufmerksamkeit.' Aufmerksam war Enzensberger bis zur Unerbittlichkeit. Auch sich selber gegenüber, wie sich noch zeigen wird.

Etwas enttäuschend ist die Lektüre der Reise durch die Sowjetunion von 1966, die ihn von Moskau zunächst zu einem "Friedenskongress" nach Baku und dann fast fünf Wochen durch das ganze Land führte. Die Berichte – aus Tagebuchnotizen destilliert – lesen sich wie Reportagen von Gerd Ruge. Man merkt ihm das doch ungewohnte Reisetempo an; diverse Flugreisen mit Zeitzonensprüngen und eine Fülle von Eindrücken und Gesprächen, die sich gar nicht bändigen lassen wollen. Enzensberger verliert aber auch hier nicht die kritische Distanz, das, wie er es später nennt, teilnehmende Beobachten. Wenn die Notizen nicht auf heutige Sichtweisen hin verändert wurden, erkannte er bereits frühzeitig die politischen, ökonomischen und ökologischen Defizite des sogenannten Sozialismus.

Launige Selbstgespräche

Kern des Buches (mit rund 130 Seiten fast die Hälfte ausmachend) bildet das Kapitel Erinnerungen an einen Tumult. Enzensberger tritt hier in ein Gespräch mit sich selbst (Dialog mit einem Doppelgänger), was unter anderem dazu führt, dass er einmal die "Kommune 1" als schwachsinnige[n] Verein einiger Wirrköpfe bezeichnet, dann aber, in der Replik, als ein wichtiges Zeitphänomen – vor allem für die Medien, die hieraus für längere Zeit ihre Schlagzeilen erhielten. Bahnbrechend nennt Enzensberger II (oder ist es Enzensberger I?) die Kommune 1 dahingehend, dass ihre Mitglieder die ersten gewesen seien, die mit der Abschaffung der Privatsphäre Ernst machten. So werden sie zu Gründungsfiguren des Privatfernsehens, das ihr Rezept kopierte und mit entsprechenden Formaten lasse machte. Leicht ließe sich der Bogen zu den digitalen Jüngern der Neuzeit schlagen, was allerdings unterbleibt.    

Sich selbst ins Wort fallend und korrigierend - frei von Eitelkeit ist das nicht. Zumal in diesem Spiel der richtige Enzensberger, die Nr. III, weiterhin unsichtbar bleibt. Dennoch ist es erkenntnisreich, weil dem Leser kein fertiges Meinungskorsett präsentiert wird. Man fragt sich allerdings, warum in epischer Breite und Länge die Frauengeschichten der damaligen Zeit ausgebreitet werden (er nennt es stilgerecht Roman) – die Scheidung von seiner norwegischen Frau nebst Neuverheiratung mit der Russin Maria Makarowa, genannt Mascha, mit der er schließlich nach Cuba flog (aus unterschiedlichen Richtungen; zusammen hielt man es nicht lange aus, was naturgemäß – da sind sich Enzensberger I und Enzensberger II einig – an Mascha lag).

Auch hier bleibt es letztlich unklar, wie es zu den Einladungen kam. In jedem Fall ging es nach Cuba (immer mit "C" geschrieben, soviel Distinktion muss sein). Als sich die Berliner Genossen noch Illusionen über den Sozialismus machten, wusste Enzensberger schon Bescheid. Vieles spricht dafür, dass man seinen schonungslosen Blick auf die ökonomische Unvernunft des einzigen Universalexperten der Insel – Enzensberger ein wenig spöttisch über Castro – im kalten Berlin gar nicht recht verstanden hätte. Die Schilderungen über das kubanische Leben Ende der 1960er Jahre, 10 Jahre nach der Revolution, sind nüchtern und ernüchternd, aber ohne Häme. Die Achillesferse der Rhetorik der Desillusionierten, der Zynismus, ist Enzensbergers Sache nicht. Vielleicht weil er von Beginn an gar keine Illusionen hegte, die im Alltag dann uneingelöst blieben. Da ist von verzweifelnden Sozialismus-Gläubigen die Rede, verfolgten Exilanten, die auch auf Cuba nicht zur Ruhe kommen und auch dort politisch anecken oder von an Dummheit und Ignoranz der Planwirtschaftler verzweifelnden Landwirten. Urkomisch, wenn Enzensberger eine Menschenfabrik beschreibt, in der aus Abfall Menschenpuppen zu Propagandazwecken hergestellt werden. Eulenspiegelhaft die (einmalige?) sonntägliche Zwangsarbeit von ihm und anderen Ausländern auf einem als Kaffeeplantage deklarierten Grundstück, dass, so erfuhr Enzensberger nachträglich von einem Bauern, für die Bepflanzung von Kaffee aus vielerlei Gründen gänzlich ungeeignet war.

Der schlechte Genoss 

Die Botschaft: Castros Willkürherrschaft konnte niemandem verborgen bleiben, sofern er willig war, hinzusehen. Enzensberger war, wie er freimütig gesteht, der schlechte Genosse, weil er aus dem, was er sah, seine Schlüsse zog. Er berichtet von einer Rede, die er einmal gehalten habe und dort eine nicht ganz wirkungsglose Rhetorik entwickelte - und sieht sich sofort in der Sportpalast-Tradition eines Goebbels, was ihn anwidert. Seitdem war für ihn klar: Lieber blieb ich in der Kulisse. Dutschke mochte er als Person, seine Reden fand er furchtbar, seinen Privatmarxismus lächerlich. Insgesamt sei die APO zu sehr auf Vietnam fixiert gewesen; er spricht von einem Tunnelblick. Für die RAF hat er nur Verachtung übrig (schon der Titel ist für ihn eine Anmaßung); einzig Ulrike Meinhof war satisfaktionsfähig. Das hat nichts genutzt: Er sei von der Gruppe einstimmig zum Feigling erklärt worden, heißt es schließlich ostentativ. Überall sei er schließlich irgendwann in Ungnade gefallen – Enzensberger als Igel, der das "schwere" Los hat, dem Hasen immer voraus zu sein. Dem Leser kommen die Tränen.

Blick zurück mit Genugtuung

In Berlin hielt er es nie lange aus: USA, Kambodscha, Kuba, Amsterdam – trocken konstatiert er, dass der Höhepunkt der Revolte im Mai 1968 bereits überschritten war. Das Gewimmel von Reminiszenzen bändigt Enzensberger am Ende des Buches mit Auszügen aus seinen Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Was hinzugefügt, weggelassen oder ergänzt wurde – das bleibt nebulös. Trotzdem liest man das alles mit großem Vergnügen – und sogar Gewinn. Vor allem die immer wieder eingestreuten kleinen Portraits. Dabei bleibt er kühl, was den Blick schärft. Raddatz' apodiktisches Urteil, Enzensberger sei "an Menschen überhaupt nicht interessiert", wendet sich für den Leser dadurch zum Vorteil. Es ist nicht nur von bekannten Persönlichkeiten die Rede wie Nelly Sachs, Pablo Neruda (mit seiner Lord-Byron-Attitüde, Hans-Werner Henze (eines Tages war die Freundschaft einfach erloschen), Lars Gustafsson, Reinhard Lettau oder Herbert Marcuse. Enzensberger würdigt auch Menschen wie Haydée Santamaria, Arthur Lehning oder Lilja Brik – um nur einige zu nennen. Manchmal ist er diskret und arbeitet mit Kürzeln. Zuweilen ist diese Camouflage ein bisschen albern, etwa wenn er an zwei Stellen von einem gewissen M. schreibt, der von der Bundeswehr "desertiert" sei und Padilla-Gedichte in Habana (sic!) übersetzte. Später wird dann der Name genannt (Günter Maschke), aber der Bezug zu den beiden Eintragungen vorher wird nicht hergestellt.

Seine Bilanz der Tumult-Jahre fällt positiv aus. Die Erschütterung der deutschen Ordnung sei geglückt und habe sich dauerhaft positiv auf das Land ausgewirkt. Die außerparlamentarische Opposition und ihre Ausläufer haben der Sozialdemokratie, die sie bekämpften wollten, in Deutschland zum Sieg verholfen, während die militante Linke sich radikalisierte und damit ins gesellschaftliche Abseits bugsierte. Enzensbergers Diktum gilt wohl nicht für die institutionalisierte Sozialdemokratie, die SPD. Deren "Sieg" war von recht kurzer Dauer. Man kann es so verstehen, dass sich die Politik in der Bundesrepublik auch nach dem Machtverlust der SPD sozialdemokratischer gab, als dies auf den ersten Blick erschien. Ganz am Schluss gibt es ein Kapitel im Buch, das zeigt, warum revolutionäre Bewegungen mit ihren hochgesteckten Zielen immer scheitern müssen. Und doch stellt er fest,  dass Systemopposition […] den Lernprozeß der kapitalistischen Gesellschaft entschiedener vorangetrieben [habe] als ihre Verteidiger.

Keine Frage: Enzensberger rechnete sich der Systemopposition zu. So liest man am Ende sogar ein wenig Stolz über das Erreichte. Dennoch ist "Tumult" kein Buch, in dem sich jemand selbstbeweihräuchernd in verklärenden Erinnerungen suhlt; fast im Gegenteil. Es ist eben ein Enzensberger.

Artikel online seit 08.12.14

Hans Magnus Enzensberger
Tumult
Suhrkamp
287 Seiten
21,95 €
978-3-518-42464-3

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