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Seitwert


Ein Geschichtslehrbuch der besonderen Art

Über Ken Folletts Jahrhundert-Saga
»Sturz der Titanen
«

Von Michael Knoll

Nein, »Säulen der Erde« und »Tore der Welt«, mit denen Ken Follett in Deutschland berühmt wurde, kenne ich nicht. Mir haben schon die Begeisterungsstürme meiner normalerweise geschichtsfeindlichen Freunde gereicht, die sich an den Büchern besoffen gelesen hatten, und mir von ihrem Leseglück berichteten. Und nachdem ich »Whiteout« gelesen hatte, einen höchst mittelmäßigen Thriller, war ich mit dem Waliser durch. Die Originalfassung von »Eisfieber« hatte ich lediglich zu Ende geschmökert, um meine Fremdsprachenkenntnisse aufzufrischen, weitere Gründe, dieses Machwerk zu lesen, hatte es nicht gegeben.

Und jetzt sitze ich da und versuche meine Begeisterung für »Sturz der Titanen« im Zaum zu halten, um nicht so zu klingen wie meine Freunde nach der Lektüre oben genannter Mittelalterepen. Die knapp tausend Seiten habe ich einfach mal in den Tagen zwischen den Jahren weggelesen und bin dem Ende mit wachsendem Bedauern entgegen geeilt. Ich übe mea culpa und konstatiere, dass Follett vielleicht kein großes, aber ein großartiges Buch gelungen ist. Warum? Weil er ein unterhaltsames, dichtes und historisch stimmiges Panorama der Geschehnisse vor, während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Ein Geschichtslehrbuch der besonderen Art. Eines, das die Leser packt; eines, das die großen politischen Entwicklungen (die Juli-Krise 1914 etwa) souverän analysiert sowie die vielen beeindruckenden Anekdoten der Zeit (wie etwa der Militärgouverneur Paris’, Général Galliéni, die Taxis der Stadt rekrutieren ließ, um französische Soldaten an die Front fahren zu lassen) meisterhaft erzählt; eines, das literarische Gestalten adäquat in historische settings setzt. Kein Wunder möchte man sagen, wenn man einen Schwiegersohn mit dem Namen Richard Overy als Experten zu Seite hat. Aus Overys Feder stammt u.a. die beeindruckende Studie zu »Russlands Krieg – 1941-1945«.

Aber vielleicht sollte an dieser Stelle die einzige Schwäche des Buches genannt sein. Selten habe ich von Menschen mit derart, wenn auch sympathisch konstruierten Lebenswegen gelesen wie in diesem Buch. Es ist eben ein Roman und wie jeder Roman artifiziell. Trotzdem großer Respekt vor den handwerklichen Aspekten Follettscher Literatur. Follett hält die Hauptprotagonisten, ganz abgesehen von den vielen Nebenfiguren, souverän in der Hand, vermittelt über sie einen Eindruck der Epoche, lässt sie an geschichtlich herausragenden Momenten an der Seite großer Männer auftauchen, setzt sie zueinander in Verbindung und fügt sie in kleinen wie großen Momenten wieder zusammen. Klaro, das ist konstruiert, es ist aber sehr, sehr gut konstruiert. Große Literatur wird daraus nicht, aber das macht auch nichts.

Und wenn ich schon beim Kritisieren bin, dann doch den stärksten Einwand gegen dieses Buch. Der Erste Weltkrieg wirkte als Katalysator und Beschleuniger von Mentalitätsveränderungen, die sich ab dem letzten Quartal des 19. Jahrhunderts abzeichnen. Die Menschheit war nach dem Krieg eine andere als davor, und die Menschen von 1914 waren denen des 19. Jahrhunderts ähnlicher als denen Anfang des 21. Jahrhunderts. Und hier schlägt bei Follett der Literaturhandwerker den Geschichtsbegeisterten. Follett blickt auf die Psychologie der Menschen von heute und überträgt sie auf die Figuren seines Romans. Wie fremd uns die Welt um die Jahrhundertwende eigentlich sein sollte, deutet der Autor immer wieder an. Welche psychologischen Blockaden aber zwischen Ober- und Unterschicht, zwischen Männern und Frauen, zwischen Angehörigen verschiedener Nationen tatsächlich bestanden, schildert Follett nicht. Er schafft es nicht, das Wesenhafte und die Mentalität seiner historische Figuren literarisch zu fassen. Bisschen anders als heute sind die Menschen von damals schon, so lässt er durchblicken, es spielt ja auch zu einer anderen Zeit, aber so viel anders waren die anderen damals auch nicht drauf. Die wollten damals schon immer Sex und wir doch eigentlich auch, oder? Warum ich das schreibe? Weil es zum handwerklichen Verständnis Folletts eben auch gehört, nach literarisch-historisch-politischen Sinneinheiten, d.h. alle 80 Seiten, eine Prise Erotik und Sex einzustreuen. Von stürmisch-romantisch über emanzipiert-aufgeklärt hin zu derb-frivol. Jedem das seine.

Aber um wen geht es denn tatsächlich in diesem Roman? Miteinander verstrickt sind acht Hauptpersonen (und viele, viele Nebenfiguren): Edward Fitzherbert, ein erzkonservativer, aber nicht gänzlich unsympathischer Earl; seine Schwester Maud, eine progressive Feministin mit adeligen Attitüden; ihr späterer und lange geheim gehaltener Ehemann Walter von Ulrich, ein gänzlich einnehmender, liberaler und aufgeschlossener Deutscher; die russischen Brüder Grigori und Lew, dieser ein Hallodri und Leichtfuß, den nichtsdestotrotz das Glück des Lebens stets küsst, und jener, der für seinen Bruder, und nicht nur für ihn, stets die Kastanien aus dem Feuer holen muss und der nebenbei die bolschewistische Revolution in Russland vorantreibt; Gus Dewar, der verkopfte, idealistische und unkonventionelle US-Amerikaner; und schließlich Ethel und Billy Williams, die beiden Geschwister aus einem Bergbaukaff aus Wales, sie erst Hausmädchen und Geliebte des Earl, später emanzipierte Propagandistin der Frauenbewegung an der Seite Mauds, er im Bergwerk, dann im Krieg, schließlich die politische Hoffnung seiner Heimat. Dass diese acht Personen eng miteinander verstrickt sind, ergibt sich schon durch die familiären Verbindungen. Es sind unter ihnen drei Geschwisterpaare sowie ein Ehepaar, zudem haben die Fitzherberts ihren Landsitz im Dorf, in dem auch Ethel und Billy leben. Und als literarischer Kunstgriff kreuzen sich ihre Wege an den verschiedensten Orten. Da begegnen sich Fitzherbert und von Ulrich bei jenem Weihnachtswunder 1914 an der Front in Frankreich, Billy begegnet Lew im Zug auf dem Weg nach London und Gus Dewar übermittelt einen Brief Mauds an ihren Ehemann etc. etc..

Unter diesen acht Personen gebührt Ethel und Billy ein besonderer Stellenwert. Sie sind die Träger der politischen Botschaft des Buches, einer politischen Idee, die in Deutschland einmal als Sozialdemokratie bekannt war. Tatsächlich lässt sich an der, wenn auch konstruierten, Lebensgeschichte der beiden rekonstruieren, welche Kraft, welche Bedeutung und vielleicht auch welche historische Notwendigkeit diese politische Ideologie einmal hatte. Eine Ideologie, die Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Fortschritt im Blick hatte und damit den Konservatismus überwinden konnte, ohne in die Fallen des Bolschewismus zu treten. Der Labourismus als politisches Gebot, dessen Zeit mit den gesellschaftlichen Verwerfungen des Ersten Weltkrieg gekommen war. Es wird spannend sein, ob Follett diese Botschaft für den Zeitraum zwischen den Kriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg aussenden wird. Wir werden dies im zweiten Band der geplanten Trilogie verfolgen können. Ausgeschlossen ist es nicht, schließlich ist Follett mit einer Labour-Abgeordneten verheiratet. Ethel und Billy, so viel sei an dieser Stelle verraten, ziehen beide bei der Wahl im Dezember 1923 als Labour-Abgeordnete ins britische Unterhaus ein.

Mit der Wahl dieser Personen hat Follet sich auch auf vier Staaten als wesentliche Orte des historischen Geschehens festgelegt: Großbritannien, Deutschland, Russland und die USA. Frankreich ist, was das Personal des Romans angeht, Nebensache, örtlich wie politisch lediglich Objekt der Geschichte. Dass Deutschland für einen Briten erstaunlich gut wegkommt, liegt, so Follett in mehreren Interviews, an seiner walisischen Herkunft. Die englische Interpretation der Geschichte betrachtet man in diesem Teil Großbritanniens allenfalls mit Skepsis. Folletts Auslegung der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts ist damit zwar eine typisch angelsächsische, aber eine dennoch ungewöhnliche. Natürlich bilden auch bei ihm George F. Kennans Bild vom Ersten Weltkrieg als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« und Eric Hobsbawms These vom »kurzen 20. Jahrhundert« als »Zeitalter der Extreme« den geschichtswissenschaftlichen Überbau. Es wird spannend sein, wie Follett den Aufstieg des Kommunismus’ und des Nationalsozialismus’ im zweiten Band deuten wird, der den Titel »Winter der Welt« tragen soll. Wir können uns jedenfalls auf den Nachfolgeband freuen.

»Sturz der Titanen« sollten die lesen, die ihr Wissen über den Ersten Weltkrieg wieder auffrischen möchten und keine Lust auf ein dröges, zähes und belehrendes Sachbuch haben. Ebenso sollten diejenigen zu Folletts Buch greifen, die viel Lust auf ein unterhaltsames Lesevergnügen haben, mit Sex and Crime, Politik und dem Kitzel, welcher der Helden den Krieg wohl nicht überleben wird. Literarisch bestimmt kein großes Werk, aber belletristisch ein großartiges. Viel Vergnügen beim Lesen!
 

Ken Follett
Sturz der Titanen
Aus dem Englischen übersetzt von Rainer Schumacher & Dietmar Schmidt,
Bastei Lübbe
Hardcover, 1.022 Seiten
28,00 €
ISBN: 978-3-7857-2406-4


 


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