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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Keine Antworten und kein Happy-End

Der jiddische Autor Yankev Glatshteyn schrieb 1940 ein Jugendbuch über den Holocaust

Von Georg Patzer

»Die vorbeikommenden Autos fuhren durch die Pfützen, aus denen das Wasser hoch spritzte. Polizisten in Regenmänteln, von denen das Wasser nur so herunter triefte, regelten ungeduldig den Verkehr. Hin und wieder eilten Kinder, die sich verspätet hatten, zur Schule. Als Emil die Kinder sah, musste er tief seufzen. Karl verstand ihn sofort. Diese Kinder waren fröhlich, sie planschten mit ihren Gummigaloschen in den Pfützen.«

Fröhlich sind Emil und Karl nicht. Durch Wien streunen die beiden neunjährigen Jungen. Schlafen im Keller, verstecken sich, treffen auf den verrückten Hans, der immer wieder lacht wie irre. Aber Emil ist nicht der Anführer einer Bande von Detektiven, und es ist auch nicht witzig, wie bei Kästner. Nein, es ist lebensgefährlich: Emil ist Jude, sein Vater ist ermordet worden, und seine Mutter ist wie versteinert, spricht nicht mehr, reagiert auf nichts – die Trauer hat ihr das Leben genommen, sie wird in ein Krankenhaus gebracht. Und Karls Vater ist schon einige Jahre tot, nun wird auch seine Mutter abgeholt, von finsteren Gestalten in langen Mänteln: »Sie rissen die Mutter von ihm weg. Man konnte ihre Schreie draußen hören, aber niemand kam zu Hilfe.« Sie ist Sozialistin. Die Geschichte mit den beiden Jungen spielt in einem unmenschlich gewordenen Wien: 1938. Auch sie erleben Abenteuer, auch sie bilden mit anderen zusammen eine Gruppe, die sich verschworen hat. Aber am Ende wird nicht alles wieder gut.

Das Jugendbuch, das bereits 1940 in New York erschien, beginnt damit, dass die Männer Karls Mutter abholen und er in der stillen Wohnung allein ist. Da Emil sein bester Freund ist, geht er zu ihm, obwohl dessen Mutter ihm verboten hat zu kommen: »Es macht uns nur Probleme. Du bist doch ein kluger Junge, Karl, hab Verständnis und komm nicht mehr zu uns.« Aber in seiner Not geht er doch zu ihm und erfährt, dass Emils Vater erschlagen wurde und verbrannt.

Als die Jungen zu Karls Nachbarin gehen, ist auch die weg, ihre Wohnung ausgeräumt. Als sie im Keller übernachten, überrascht sie der Hausmeister, der ihnen Essen bringt. Am nächsten Tag wollen Emil und Karl in die Sonne und werden von SA-Männern festgehalten. Sie werden gezwungen, mit vielen anderen zusammen die Straßenpflaster zu putzen, mit ihren bloßen Händen. Bis ein Uniformierter sie wegbringt, in Sicherheit.

Yankev Glatshteyn hat einen bitteren, düsteren Jugendroman geschrieben, noch dazu einer der ersten Romane über den Holocaust überhaupt. Glatshteyn (1896-1971) lebte seit 1914 in New York und studierte, wie viele andere, genau die Berichte aus Deutschland über die Behandlung der Juden. 1934 war er in das heimatliche Lublin gereist, seither wusste er auch aus erster Hand, was in Europa passierte. Er schrieb auf Jiddisch, das damals eine Weltsprache war: Über 10 Millionen Menschen in Europa, Amerika, Australien und sogar Südafrika sprachen fast ausschließlich Jiddisch, es gab jiddisches Theater, jiddische Schulen und Zeitungen wie den noch heute existierenden »Forverts« (damals Tages-, heute Wochenzeitung) und eine Fülle von jiddischer Literatur. Glatshteyn, der mit seinen Kommilitonen Nakhum Borukh Minkoff und Arn Glants-Leyeles eine jiddische Literatengruppe mit dem Namen Inzikh (Insich) gegründet hatte, war einer der rührigsten jiddischen Autoren. Er schrieb mehrere Romane, unzählige Gedichte, aber auch, für das »Morgn zhurnal«, Kolumnen gegen Hitler, Stalin und die westliche Apathie.

In seinem jetzt zum ersten Mal übersetzten Jugendbuch lernen Emil und Karl die unterschiedlichsten Menschen kennen: viele Mitläufer, die sich an den Juden bereichern, wie Emils Nachbarin, die sofort die Kleider aus dem mütterlichen Schrank stiehlt, oder den ständig betrunkenen Bahnwärter Friedrich, der sich vom jüdischen Schneider einen Anzug mitnimmt – von dem er allerdings sagt, er hänge jetzt bei ihm »wie ein Gehenkter«. Sie lernen auch gute Menschen kennen, ängstliche, die sich dann doch nicht zu helfen trauen, aber auch mutige, die sich nachts heimlich treffen, Widerstand leisten. Wie Hans, ein ehemaliger Varietékünstler, der sich verrückt stellt, laut lacht und immer wieder »Heil!« schreit, auch wenn es nicht passt. Bis er erkannt und verraten wird, von einem, der gefoltert worden war. Oder Mathilde, die die Hausmeistersfrau einfach anspricht und ihr hilft. Und als Berta fragt: »Woher weißt du, dass du mir trauen kannst?«, antwortet sie: »Das ist ganz einfach, du hast geschwiegen, als ich dich angesprochen habe. Schweigen sagt eine Menge.«

Das Buch endet damit, dass Emil und Karl zum Bahnhof gebracht werden, zum ersten Kindertransport ins Ausland. Aber nicht einmal das ist ein Happy-End: Denn Emil und Karl werden getrennt. Emil fährt mit dem ersten Zug weg. Ob Karl auch wegkommt und das Mädchen, das neben ihm steht, weiß man nicht.

Es ist ein schreckliches Buch, weil es von so viel Schrecken erzählt. Es ist ein gutes Buch, weil es so wenig erklärt, einfach nur erzählt. Die Fassungslosigkeit der Jungs, denen die Welt zusammenbricht, ihre wachsende Freundschaft, die entmenschten Aktionen der Wiener, die johlend das Quälen der Juden begleiten. Die Kinder, die andere Kinder verprügeln, weil sie Juden sind, die Angst der Menschen – das alles wird so einfach und folgerichtig aus Karls Sicht erzählt, dass die Bilder unmittelbar im Leser entstehen, ohne Pädagogik, ohne Zeigefinger, ohne Nutzanwendung. »Warum machen sie es?«, fragt Karl einmal. Aber es gibt keine Antwort darauf.

Artikel online seit 27.11.14
 

Yankev Glatshteyn
Emil und Karl
Übersetzt aus dem Jiddischen von Niki Graca und Esther Alexander-Ihme
Nachwort von Evita Wiecki
Andere Bibliothek
Kometen Band 7
152 Seiten
18,00 Euro

Blick ins Buch

 


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