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Artikel online seit 15.08.13

Avantgarde als Nörgler

Ornamentale Wortkunst reicht nicht. »Der Plurimi-Faktor« von Botho Strauß
schwächelt an seinem eigenen Anspruch

Von Gregor Keuschnig

 

Im Herbst 2007, ein Jahr nach den Turbulenzen um den Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und sein Jugoslawien-Engagement, sagte Peter Handke in einem Interview André Müller er wolle sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und bekannte in einer Mischung aus Resignation und Trotz: "Ich bin ein Idiot im griechischen Sinne, ein Nicht-Dazugehöriger." Umgangssprachlich steht Idiot synonym für Dummkopf. Handke benutzte den Ausdruck jedoch nicht in diesem Sinne, sondern nimmt ihn sozusagen wörtlich. Für ihn ist der Idiot ein Privatmann, jemand, der sich der Öffentlichkeit entzieht, weil er nicht dazu gehört. Der "Privatmann" Handke hatte sich jenseits des ihm (von anderen) zugewiesenen literarischen Refugiums in die Öffentlichkeit begeben – und blieb unverstanden. Das Wittgenstein-Wort aus dem Tractatus (6.43) paraphrasierend könnte man sagen: Die Welt des Idioten ist eine andere als die desjenigen, der in der Öffentlichkeit steht. 

Botho Strauß' vor einigen Wochen im "Spiegel" abgedruckter Essay heißt "Der Plurimi-Faktor". Den Begriff "Plurimi" erklärt Strauß nicht direkt. Er steht für "die vielen", "die meisten". Der sagt nicht "Masse", obwohl dies gemeint ist. Strauß' beginnt seinen Essay mit Definitionen des Idioten. Er sei "der Unverbundene, der anderen Unbegreifliches spricht."

Botho Strauß verwendet den Idiotenbegriff, aber er lässt ihn kurz darauf wieder fallen; er taucht dann nur am Ende wieder auf. "Anmerkungen zum Außenseiter" ist sein Text untertitelt. Folgt man dem Anspruch des Autors ist bereits der Begriff des "Außenseiters" ein Zugeständnis. Er ist eigentlich zu ungenau, zu milde. Der Außenseiter befindet sich immer noch in einer Gemeinschaft – er steht nur "außen". Das Außenseitersein ist durchaus Bestandteil eines Gemeinschaftslebens. Erst der Idiot ist der Verstossene, der Verbannte, der nicht Satisfaktionsfähige.

Strauß und das Außenseitertum

1993 war Botho Strauß nach der Publikation seines Textes Anschwellender Bocksgesang mindestens vorübergehend verbannt worden. Die Aufregung um den Aufsatz wirkt heute merkwürdig. Die eher schüchterne Anspielung, dass "Gesellschaften, bei denen der Ökonomismus nicht im Zentrum aller Antriebe steht, aufgrund ihrer geregelten, glaubensgestützten Bedürfnisbeschränkung im Konfliktfall eine beachtliche Stärke oder gar Überlegenheit zeigen werden" galt in den sich zügig zum Wirtschaftsliberalismus wandelnden westlichen Gesellschaften der 90er Jahre als nahezu blasphemisch. (Heute kommt aus allen iPhones Kapitalismuskritik herangetwittert.) Und dass "jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer" wurde in Anbetracht intellektueller Kosmopolitismus-Entwürfe kopfschüttelnd kommentiert. Dabei saß man damals inmitten brodelnder Kriege im zerfallenden Jugoslawien. Mit Wonne stürzte man sich auf Strauß' Bekenntnis "rechts zu sein" – ohne seinen Abgrenzungen und Auslegungen zu folgen. "Rechts sein" habe nichts mit Neonazitum zu tun, antizipierte Strauß mögliche Einwände. Es sei ein Akt der Auflehnung, "gegen die Totalherrschaft der Gegenwart" zu sein. Dazu bedarf es "keiner Utopie". Der Rechte "sucht den Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte, ist ihrem Wesen nach Tiefenerinnerung und insofern eine religiöse oder protopolitische Initiation." Schon damals bekennt er sich zum "Außenseiter": "Das, was ihn [den Außenseiter] zutiefst von der problematischen Welt trennt, ist ihr Mangel an Passion, ihre frevelhafte Selbstbezogenheit, ihre ebenso lächerliche wie widerwärtige Vergesellschaftung des Leidens und des Glückens." Mit anderen Worten: Der Außenseiter ist leidenschaftlich und zurückhaltend und steht damit im Gegensatz zum lauten, polternden Mitmacher.

Strauß plädiert zwar für den "Wechsel der Mentalität", spricht sich dabei jedoch gegen den kulturpessimistischen Hang zur unvermeidlichen Zerstörung des Bestehenden aus. Andererseits verkneift sich Strauß nicht bleischwer-dunkler Zukunftsvisionen. Die Moderne werde nicht durch "sanfte postmoderne Ausläufer" beendet, sondern "mit einem Kulturschock". Gar von einem Krieg ist die Rede. Aber so war sie, die Zeit. Im gleichen Jahr verfasste Enzensberger seine "Aussichten auf einen Bürgerkrieg".

In seinem Essay "Der Konflikt" von 2006, der erstaunlich wenig diskutiert wurde, beschäftigte sich Strauß mit den zunehmend spirituellen wie auch sozialen Herausforderungen, den sich liberale Staaten gegenüber dem Islam zu stellen haben, der durch Migrationsbewegungen in die säkulare Gesellschaft immer mehr an Boden gewinnt. Der Islam beziehe, so Strauß damals, "seine stärkste Wirkung aus seiner sozialen Integrationskraft." Der Westen hätte, so die These, seine Säkularität nicht fruchtbar ausgestaltet, sondern weitgehend "Weltmärkte[n], technische[n] Innovationen" und "Sitten und Moden" dagegen gehalten – kurzum also ökonomischen Zielen geopfert, die unser Sozialverhalten radikal verändert haben. Es sei eine "geistlose Gesellschaft" entstanden, die keine Attraktivität für maßgebende Teile der islamischen Gemeinschaft bilden könne, da ihr die Empathie für transzendentale (sakrale) Erlebniswelten fehlen. Strauß verteufelte damals die als "Parallelgesellschaft" denunzierte islamische Lebensform ausdrücklich nicht. Im Gegenteil: "Sie lehrt uns andere, die wir von Staat, Gesellschaft, Öffentlichkeit abhängiger sind als von der eigenen Familie, den Nicht-Zerfall, die Nicht-Gleich-Gültigkeit, die Regulierung der Worte, die Hierarchien der sozialen Verantwortung, den Zusammenhalt in Not und Bedrängnis. Selbstverständlich ist es für den aufgeklärten Westeuropäer der Born der Finsternis, der dies Leben in der Gemeinschaftunterhält und gut organisiert."

Der Reaktionär

Strauß' aktueller Aufsatz nun ist ein kultur- und zivilisationskritisches Textgewebe, dass sich im Gegensatz zu 1993 weitgehend Prognosen enthält und die 2006 beklagte Ent-Sozialisierung der Gesellschaft weitgehend als gegeben hinzunehmen scheint. Strauß spinnt den Faden weiter. Er ist mit der Vermassung von Wissen, Information und Kommunikation nicht einverstanden. Ihn stört es, wenn die "Breite zur Spitze" erklärt werde. Unklar bleibt, ob er einem streng hierarchischen (Kultur-)Apparat das Wort redet oder eher mit Sloterdijks Vertikalitätsthese sympathisiert, die "eine ethisch kompetentere und empirisch adäquatere Alternative zu der grobschlächtigen Herleitung aller Hierarchie-Effekte und Stufenphänomene aus der Matrix von Herrschaft und Unterwerfung" sein möchte (Du mußt dein Leben ändern, 2009).

Die Vokabel "rechts" verwendet Strauß nicht mehr. Er kokettiert stattdessen mit dem Begriff des Reaktionärs, der, so wird bedauert, leider mit dem "Bierschaum des politischen Stammtischs assoziiert" werde. Dabei sei der Reaktionär "Phantast" und "Erfinder", der bereits re-agiere wenn "andere noch stumm und willfährig bleiben". Der Reaktionär "blickt skeptisch auf die Eigendynamik von Liberalisierungen und Egalisierungen". Er ist damit mehr als ein Konservativer, der "eher ein Krämer des angeblich Bewährten" sei.

Nichts findet Gnade vor Strauß' Blick. Windräder sind "Schänder der Landschaftsseele", Dichter nur noch Präsentatoren ihrer selbst (eine Feststellung, die an Jochen Jungs Wort vom Autorendarsteller erinnert, der die Aura abgelegt habe um "über die Politik oder das Internet, die Rolle des Mannes in der Küche, den Klimawandel, Migranten und so weiter" zu fabulieren), Elektronikmärkte und Apple-Stores "die wahren Kult- und Feierstätten". Überall herrscht der "Fanatismus des Guten", der "Gläubigen und Andersgläubigen" ohne Unterschied "unsere Freiheiten" aufdrängt, wobei sorgfältig darauf geachtet wird, dass das "Abfärben…nur einseitig" geschieht. 

Angesichts der ausufernden Transparenz-Forderungen fragt Strauß wie es um die "Kunst der Diskretion" bestellt sei, "die einst die Individuen untereinander vor den gröbsten Unverschämtheiten der Selbstentblößung" bewahrt habe. Die "bisher einzig würdige Form der 'Kommunikation' unter Menschen" beruhte "auf der Voraussetzung von Diskretion", so Strauß. Sicherlich ahnt und fürchtet der Schriftsteller Byung-Chul Hans Diktum, eine Transparenzgesellschaft sei eine "Gesellschaft ohne Dichter, ohne Verführung und Metamorphose".

Cicero

Kein gutes Wort für diejenigen, die sich "in digitalen Massen" vordrängen, ihre "Sprachlumpen" absondern und "Info-Demente" erzeugen (und auch sind). Erwartbar und wenig originell sein Eintreten für das Buch, welches sich zu "resakralisieren" habe. (Wobei Strauß' durchaus ironisch wird, in dem er den Verleger Stendhals zitiert, der seinem Autor mitteilte, sein neues Buch sei heilig – niemand rühre es an.) Konsequent die Absage an den "Götzendienst vor dem Populären". Das Blinzeln auf die Quote verlange geradezu die "Anpassung nach unten".

"Breite" bedeutet für ihn: "Während Intelligenz zur Massenbegabung wurde, sind Klugheit und Einfalt nahezu ausgestorben". Strauß' Beharren auf Strukturen jenseits eines Egalitarismus, der alles und jeden auf den kleinsten gemeinsamen Nenner nivelliert, erinnert an Ciceros "De re publica", in dem der Römer eine Mischform monarchischer, aristokratischer und demokratischer Strukturen entwirft. Nur so würden die in jeder Herrschaftsform wesenden Extreme (Tyrannis, Oligarchie, Ochlokratie) gebändigt.

Strauß bemerkt natürlich die Konventionen, die im "despotischen Umriß" des "hinkenden Guten", der zum Wortführer wird, stecken. Diese folgten viel unnachgiebigeren Regeln als jene, die "aus bürgerlicher Zeit" bekannt seien. Man könnte ergänzen, dass die (säkularen) Adepten des Korrekten weder Vergebung noch Gnade kennen. Das Stigma ist unerbittlich und lebenslang. Wen wundert es da noch, dass auch die Reue ausgestorben ist bzw. nur noch zur Worthülse verkommen ist.

Strauß' Skepsis gegenüber der Partizipation des Bürgers, der nicht mehr nur bürgerlich ist, sitzt tief. Es wäre unzutreffend vereinfacht, würde man Strauß nur schnöden Elitarismus  unterstellen. Wer genau liest, sieht auch seine Zweifel, etwa wenn er als ein Kennzeichen des Reaktionärs seine Idiosynkrasien ausmacht. Und der Reaktionär ist eben kein Revolutionär.

Avantgarde und die Verachtung der Massen

All dies ist nicht neu. Es gibt kaum einen Schriftsteller von Rang in den letzten einhundert Jahren, der nicht mindestens Zweifel an der Richtigkeit und Wirksamkeit des politischen Systems der Volksherrschaft gezeigt hat. Schriftsteller sind naturgemäß anfällig für solche Ressentiments. Ihre Kreativität entspringt keinem demokratischen Akt. Sie kommt aus einem starken Selbst-Bewußtsein. Schließlich ist das Schreiben von Literatur immer auch Hybris. Schriftsteller sind Vereinzelte und dadurch per se Außenseiter, wenn nicht sogar Verbannte, also Idioten. Schriftsteller schaffen Neues, Ungewöhnliches. Sie sprengen die bestehenden Normen; nicht unbedingt vorsätzlich politisch-revolutionär, sondern ästhetisch.

Außergewöhnliche Schriftsteller sind immer auch Avantgarde. (Schlechte Schriftsteller, die dennoch kommerziell erfolgreich sind, nur Modeerscheinungen.) Das Wort Avantgarde ist dem Militär entnommen. Es bezeichnet diejenigen, die vor (avant) den anderen in die gegnerischen Stellungen einbrechen. Sie sind ihren Kameraden voraus. Wer Avantgarde ist, ist ausgewählt (vielleicht sogar auserwählt). Spätestens jetzt ist der Strauß'sche Reaktionär, also derjenige der re-agiere wenn "andere noch stumm und willfährig bleiben", synonym für Avantgarde. Dass inzwischen immer weniger Schriftsteller Avantgarde/Reaktionär sind, sondern sich – wie Strauß richtig schreibt – dem Populären andienen, sich ver-schreiben, steht auf einem anderen Blatt.

Die Masse und ihre festgefügten Regeln sind der Avantgarde mindestens verdächtig. Sie beanspruchen für sich eigene Regeln. Hierin liegt eine der Ursachen, das sich Schriftsteller politischen Systemen, die die Bändigung oder sogar Steuerung der Plurimi, der Masse, in Aussicht stellen, so gerne zugewendet haben und zuwenden. Avantgarde und Demokrat sein ist ein Widerspruch. Viele haben ihm nachgegeben; die Zahl derer, die politisch vermeintlich oder tatsächlich obskur dachten, ist lang. Das es oft die sehr guten waren, irritiert und befremdet denjenigen, der glaubt, ein Schriftsteller sei per se ein besserer Mensch.

Elias Canetti machte die Masse als einzige Gelegenheit des Menschen aus, seine Furcht vor den anderen Menschen zu überwinden. Er nannte es "Umschlagen der Berührungsfurcht". In der Masse steckt für Canetti die Möglichkeit der Zerstörung des Abseitigen, des Unpassenden. Die Masse droht Spielzeug eines oder mehrerer Befehlsgeber zu werden. Diese aus dem Erleben während des Nationalsozialismus gespeiste Furcht des Dichters wird bis heute fortgeschrieben. Die Verachtung der Masse ist gut beleumundet und vielfältig begründet. Offen bleibt dabei, ob diese Aversion nicht auch eine besondere Form der Selbsterhöhung darstellt.

Dabei sind Demokratien nichts anderes als Befragungen der Plurimi, der Masse. Ihre Entscheidung ist Legitimation. Die Mehrheit der Masse bestimmt die politische Ausrichtung. In der Ambivalenz zwischen Verführbarkeit der Masse und ihres Gebrauchtwerdens liegt für viele der Grund für den Argwohn an der Demokratie. Die Skeptiker übersehen oft, dass es in stabilen politischen Demokratien immer auch komplexe Kontrollinstrumente gibt, die die Massenentscheidungen notfalls bändigen bzw. immer wieder neu befragen. Die Vorbehalte gegenüber Entscheidungen der Plurimi sind dabei stets unterschwellig präsent und werden durch Institutionen reguliert.

Der Netzbarbar

Für Strauß ist die schleichende Okkupation des öffentlichen Diskursraumes durch "Autoren", die weitgehend ohne hierarchische Zulassung daherkommen, mindestens zwiespältig. Er sieht darin den "ästhetischen Urfehler", die Gefahr, "die meisten zur obersten Interessensphäre zu machen." Außerdem droht die Gefahr der Massenverführung. Für jemanden, der Avantgarde (bzw. Reaktionär) ist, sind solche Entgegnungen verständlich. Nahezu alle, die in Treibhäusern leben (insbesondere in dem der Kultur), teilen sie. Blicke in Kommentarforen vom "Standard" über "Spiegel Online" bis zur "FAZ" (letzteres immerhin moderiert) geben diesen Bedenken Nahrung. Der entfesselte Forum-Kommentierer ist der Archetyp des Netzbarbaren und das Schreckbild des Avantgardisten. Aber der Netzbarbar ist nur eine Teilmasse, die durch die neuen elektronischen Medien plötzlich grell aufleuchtet. Im Verborgenen existierte der Meinungspöbel immer schon. Jede Leserbriefredaktion kennt dies.

Dabei dürfte die Einführung des Privatfernsehens und die praktisch sofortige und bedingungslose Kapitulation der öffentlich-rechtlichen Medien zu Gunsten des vermeintlichen Massengeschmacks viel mehr zum Niveau-Absturz beigetragen haben als die vom re-aktionären Strauß verdammten digitalen Autoren. Deren Dummheiten und die Dummheiten derer, die ihnen nachäffen, können immerhin noch problemlos ignoriert werden. Die Gefährdung des "Unzeitgemäße[n]" ist nicht durch den virtuellen Strom erzeugt worden. Die Verblödungskaskaden des sich zusammenrottenden Mainstreams werden zwar durch das Netz beschleunigt, aber es dürfte dem Oldtimer-Fahrer doch gleichgültig sein, ob er auf der Autobahn mit Tempo 150 oder 250 überholt wird.

Für Strauß ist ausgemacht, dass "Othello" "nicht mehr faßbar ist für heutige Bühnengesinnung". Ein "Werk von dieser Größenordnung", "zum Erschüttern geschrieben", kitzele nicht einmal mehr. Aber was hat dies bitteschön mit "Othello" zu tun? Es geht, und das vergisst Strauß, womöglich um die 674. Inszenierung dieses Stückes - entweder im Stadttheater von X oder als medial gehypte Regiearbeit auf irgendeinem dieser inflationären Festivals. Aber sind es nicht gerade die Kunstvermittler, die mit ihrer zwanghaften Originalität, die weniger eine Auseinandersetzung mit dem Text als eine Bewältigung ihrer eigenen, persönlichen Ab- und Zuneigungen abbilden und nur noch Flucht in die billige Provokation nehmen, diese mehltauhafte Gleichgültigkeit mit erzeugt haben?

Strauß' Aufsatz könnte als schöne Folie für eine Verteidigungsrede der Askese dienen. Für ein Beharren des Übenden auf das Besondere inmitten der Ströme der Banalitäten. Für ein Widerstehen; wenn notwendig ein trotziges. Sloterdijks erwähntes Übungsbuch tendierte in diese Richtung.

So bedarf es beispielsweise doch besonderer Übung um inmitten von 80.000 Neuerscheinungen pro Jahr das Buch an sich zu sakralisieren und nicht zum profanen Handelsgegenstand verkommen zu lassen. Aber wie? Mit einem dystopischen Kulturlamento, zugegebenermaßen in schönen Wortornamenten daherkommend, welches lieber "eine rauschende Ballnacht des Geistes" statt einer weiteren Klimakonferenz als Ziel entwickelt, begibt sich Strauß nur in die längst behaglich ausgestattete Ecke der Nörgler. Man attestiert diesen Nörglern zwar gerne, dass sie recht haben - aber nur, um sie loszuwerden. Die andere Gefahr ist in den so verführerisch ausgestatteten Hafen des Zynismus einzulaufen (das ist für Strauß natürlich unmöglich).

Möge das Unbehagen in und in der Kultur für einen Moment vergegenwärtigt und konkretisiert werden. Und dann: Schluss damit! Ich möchte davon mindestens ein Jahr nichts mehr lesen, sehen und hören. Für einen Schriftsteller gehört es sich, zu erzählen. "Was bleibt von Peter Handke?" fragte Botho Strauß in einem Artikel in der FAZ im Jahr 2006 zur Verteidigung desjenigen, der gemäß den Gesinnungsrichtern des Feuilletons "Unbegreifliches" ausgesprochen haben soll. Strauß antwortete, es bliebe "eine Wegscheide des Sehens, Fühlens und Wissens." Und damit weit mehr als das von jenen, die scheinbar wissen, was und wie zu sprechen ist. Gute Schriftsteller schaffen die Evokation von Möglichkeitsräumen jenseits üblicher Wahrnehmungen. Das ist die originäre Aufgabe von Literatur (wenn diese überhaupt eine "Aufgabe" hat). In diesem Sinne ist sie vielleicht notwendiger denn je. Und zu schade, um sich mit Phänomenen herumzuplagen, deren Lächerlichkeit jeder Fühlende, Lesende, Hörende irgendwann selber bemerkt.

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am 21.08. erscheint sein
neues Buch zum Thema:

Botho Strauss
Lichter des Toren
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im Diederichs Verlag
Leinen
176 Seiten
978-3-424-35088-3
€ 20,00

 


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