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Kein
historischer Roman So ziehen der Gaukler und Apuleïde recht und schlecht über Land, von Kirchweihen zu kleinen Märkten, von Städten zu Dörfern, einen Monat nach dem anderen, durch eine Landschaft nach der anderen, die Tage werden kürzer, dann im Ameisenschritt wieder länger, und die Temperatur nimmt ab, Raureif, Platzregen, Dauerregen, Graupelschauer und Schnee. Sie fahren kreuz und quer, ohne Ziel, durch Kastilien, Aragon und dann durch das Königsreich Frankreich. Unruhen kriegerischer Banden, die ständig bewaffnet und wieder entwaffnet werden… […] Punktuelle, unerwartete, unvorhersehbare, unumgängliche Raubzüge, Plünderungen, Schrecken. Es ist Februar 1493. Der Gaukler Hardouin wurde von seinem langjährigen Assistenten Juan verlassen. Apuleïde ist ein in Alkohol konservierter Albino-Hermaphrodit, mit dem Hardouin herumreist und den er für Geld auf Jahrmärkten und Dorffesten präsentiert. Entschlossen, nie mehr einen Assistenten zu nehmen, kommt Hardouin in einer Februarnacht, einer eisigen Mondnacht, in eine zerstörte Scheune, die er verlassen wähnt. Dort liegen vierundzwanzig Kinder im Sterben. Mit den letzten Worten der in der Scheune bibbernden Kinder beginnt das Buch. Dann kommt der Rosstäuscher und nimmt den siebenjährigen Tiécelin mit. Dieser denkt, es ist der Tod, der ihn ergriffen hat. Aber dann merkt er: Hardouin, ein schon 60jähriger Schausteller, hat ihn gerettet. Von nun an sind sie unzertrennlich. Tiécelin ist frühreif, klug, frech, vorlaut, charmant - und immer lernwillig und loyal Hardouin gegenüber, der ihn mit Liebe ohne Strenge erzieht und auf seinen "Beruf" einschwört. Schließlich soll er Menschen ansprechen und dazu verleiten, gegen Geld das Ding, wie Tiécelin diese seltsame Gestalt nennt, anzuschauen. Der Leser taucht mit einem allwissenden Erzähler in den Kosmos des zu Ende gehenden 15./beginnenden 16. Jahrhunderts ein. Unweigerlich drängen sich die Bilder des 250 Jahre später spielenden Romans "Das Parfüm" von Patrick Süsskind auf. Aber Olivier Sillig findet in diesem Märchen für Erwachsene schnell einen ganz eigenen Ton. Er will dabei weder eine spektakuläre Kriminalgeschichte erzählen, noch sitzt er diesem unsäglichen "Fantasy"-Boom auf oder kokettiert mit dümmlich-biederen Vampirgeschichten. Dabei erleben die Protagonisten sehr wohl Mystisches genau so wie das pralle Leben mit Liebesleid und glücklichen Augenblicken. Die Wahrsagerin Grand Macabre (ein herrlicher Name!) rührt schon ihre Mixturen zusammen und erzählt Tiécelin mit großem Pomp die Geschichte, wie das Ding vor hunderten von Jahren gelebt hat, ums Leben kam und in diesen Behälter konserviert ist. Wir erfahren von Hardouins (sexueller) Affäre mit dem Priester Hieronymus. Und sein erster Assistent Juan erliegt immer mal den Verlockungen eines Stricher-Lebens, wenn sie in einer Hafenstadt einkehren und schließlich schifft er sich auf die Nona, eines der Schiffe von Christoph Columbus ein. Wie Tiécelin erfährt der Leser im Laufe der Zeit immer mehr – aber nicht alles. Rückblicke vor 1490 sind selten; Hardouins Kindheit und Jugend bleibt weitgehend verborgen. Nur das er eine Ausbildung von Mönchen erhielt und für damalige Verhältnisse gebildet war, schimmert durch. Und das er in Notwehr einen Seemann tötete, als dieser einen Jungen vergewaltigte. (Ein bisschen sehr zeitgenössisch, wie Sillig das offensichtliche Häretikertum Hardouins einfließen lässt und als vermeintliche Selbstverständlichkeit darstellt.)
Mondgesicht
Der Henker und die Würde Olivier Sillig erzählt dieses Märchen in fast epischem Stil mit großer, menschenfreundlicher Geste. Obwohl es auch durchaus deftige (zumeist homoerotische) Schilderungen gibt, fühlt man sich zuweilen an Stifters sanftes Gesetz erinnert und vielleicht begreift man hier endlich, was damit genau gemeint sein könnte. Nie versucht der Autor sensationalistisch zu erzählen; von klebrigem (Disney-)Kitsch, den man vielleicht am Anfang befürchtet, ist das Buch meilenwert entfernt. Erzählung ist besonders für Tiécelin fast Medizin, mit der die Sehnsüchte gebannt oder vielleicht sogar erfüllt werden; Synonym für Teilhabe am Leben. Da wirken die eingestreuten Lebens- und Vergeblichkeitsmetaphern (wie beispielsweise die der Schildkröte, die zum Topos des "absurden" Lebens wird und den verrückt gewordenen Hardouin nicht mehr loslässt) eher störend. So ganz konnte Sillig wohl der Versuchung, einen philosophischen Überbau à la Gaarder mindestens anzudeuten nicht widerstehen, was bedauerlich ist, da an vielen Stellen gezeigt wird, wie stark die Kraft des Erzählens sein kann. Dennoch ist "Schule der Gaukler" ein faszinierendes, zum Teil fesselndes Buch. Man legt es, einmal in ihm versunken, so schnell nicht mehr aus der Hand. Gregor Keuschnig
Die
kursiv gesetzten Stellen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
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Olivier Sillig |
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