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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


I Feel Love

Zum Tode von Donna Summer,
Robin Gibb und Dietrich Fischer-Dieskau

Von Peter V. Brinkemper

Donna Summers und Robin Gibbs vorzeitige karzinogene Tode erinnern uns wie das dazwischen eingetretene Lebensende von Dietrich Fischer-Dieskau an eine Ton-Bild-Landschaft von hohem Kunstanspruch zwischen Pop und Klassik. Mit einer kreativen Spannung zwischen Komposition, Interpretation und Performance, virtuosen realen Konzerten, analogen High-End-Aufzeichnungen, radiophoner Massenextase und dem wilden Disco-Fieber als Übergang und Aufbruch in die Ich-Sucht einer immer stärker von Video-Ästhetik und anpreisender Simulation geprägten Musikkultur zu Beginn der 80er Jahre. Dabei sollten die im Abstand von wenigen Tagen eintretenden Tode dieser drei musikalischen Größen aus zwei unterschiedlichen Generationen für eine keineswegs zufällige Signatur stehen: die Entwicklung und den Verfall von Möglichkeiten des Auditiven, spürbar für diejenigen, die ihr physisches oder ästhetisches Gehör im Rahmen der heutigen MP3-Kompression noch nicht verloren haben.

Donna Summer, Jg. 1948, geboren in Boston, verstorben am 17. Mai 2012 in Florida, und Robin Gibb, Jg. 1949, geboren auf der Isle of Man, verstorben am 20. Mai 2012 in London, scheinen im Sinne der Spartenlogik von Pop und Disco stärker miteinander verbunden zu sein, als mit dem klassischen Sänger Dietrich Fischer-Dieskau, Jg. 1925, geboren in Berlin, verstorben am 18. Mai 2012 in Berg am Starnberger See. Und doch gibt es eine Wahlverwandtschaft zwischen allen drei Persönlichkeiten, die auch aus ihrer Bereitschaft zum Abenteuer der großen Kunst und zum Wagnis einer ausgeprägten Künstlichkeit herrührt.
Fischer-Dieskaus melancholischer Bariton entfaltete an Schuberts romantischem Liederzyklus der »Winterreise« die artifizielle Virtuosität eines stimmlichen Wohlklangs, der das Depressive, Rebellierende und Unbehauste des Textes und der Komposition in einer maßvollen Temperierung austarierte. Schönheit war dabei für Fischer-Dieskau kein Selbstzweck der Stimme, auch kein Beiwerk des gesanglichen Vortrags, sondern Resultat der minutiösen Arbeit an der Partitur und der Dechiffrierung ihres fremdartigen Kunstcharakters gegen den Strich der oft missverstandenen Eingemeindung als Volkstümlichkeit. Dem Leiermann sollte am Brunnen vor dem Tore der Hut vom Kopfe fliegen.
Der Interpret und Sohn eines Altphilologen erforschte mit intensiver Beharrlichkeit und lebenslänglicher Vertrautheit die nuancierte Logik des vorgeblich poetischen, in Wahrheit aber prosaischen Sentiments in jedem einzelnen Lied: die ambivalente Stimmung hinter der anscheinend schlichten Melodiosität und ihren immensen, instrumental gesteigerten, rhythmisch pointierten Ausbrüchen, die in mancher Hinsicht Gustav Mahlers Tonfall vorbereiten und den späteren Wozzeck, Fischer-Dieskaus große Rolle in Alban Bergs gleichnamiger Büchner-Oper, erahnen lassen.
Was wäre, wenn Donna Summer die sinnliche Marie in »Wozzeck« übernommen und Robin Gibb die Partie des Doctors im Falsett erklommen hätte? Dagegen spricht vielleicht Gibbs tiefmenschliche Rührseligkeit seiner langgezogenen Solo-Hits, wie »Saved by the Bell« (1969), voll von den Lassie-haften-Nachklängen jener frühen Kinder- und Schülerband, die er mit seinem Zwillingsbruder Barry und dem älteren Bruder Maurice bildete, und die, unter wechselnden Namen, schließlich als »Bee Gees« in den 60er Jahren vorübergehend von internationalem Erfolg gekrönt war. Erst die Anpassung an die Disco-Welle Mitte der 1970er führte die zerstrittenen Brüder wieder zusammen und zur Soundtrack-Produktion für den Film »Saturday Night Fever« (1977). Die Songs und der noch nicht fertiggestellte Film bewarben sich im weltweiten Marketing des Produzenten Robert Stigwood gegenseitig. Von »Stayin’ Alive« bis »How deep is you love« erhielt der Bee Gees Sound einen neuen Schliff zwischen agitierendem Bruce-Lee-Disco-Puls mit parodistischem Falsettgesang und polyphonen Wellness-Ensembles. Hinzukamen zeitgemäße Sinfonieorchester-Adaptionen von Beethovens Fünfter (Murphy) und Modest Mussorgskis Hexensabbat »Eine Nacht auf dem kahlen Berge« (Shire). Das komplette Album wurde zum All-Time-Filmsoundtrack-Bestseller, nur überholt durch Whitney Houstons »The Bodyguard«. Was sich auf der Leinwand und auf dem leuchtenden Parkett der Odyssey-Disco abspielte an Bewegungsritualen und auditiven Stimulanzien war eine brutale Kollision zwischen unterdrückter Revolte und Eskapismus, Metropolen-Glamour und chauvinistischem Vorstadt-Provinzialismus, Hoch- und Pop-Kultur. Und ihr zentraler Botschafter sollte der junge John Travolta werden, der an seiner Zimmerwand bereits sein Wunschbild Sylvester Stallone als Rocky hängen hatte, zu dem er sich bis zum uninspirierten Nachfolge-Tanzfilm »Staying Alive« (1983) hochtrainierte. Das frivole, in alle Richtungen ausstrahlende Fieber der Körper rutschte ab in den eindeutigen Bellizismus des gestählten Bodybuilders. Noch hatte man das Falsett der Bee Gees über rockenden Gitarrenriffs im Ohr, an denen sich Travolta marionettengleich entlang bewegte. Das Bewegungsbild vibrierte im kollektiven Disco-Rausch. Währenddessen lieferte Donna Summer wie ein unschuldiger exotischer Schmetterling mit ungewöhnlich experimentierfreudiger Stilvielfalt den Beweis, dass der von Giorgio Moroder produzierte Sound in »Love to Love You, Baby« (1975) und »I Feel Love« (1977) eine Zukunft enthielt, von der Brian Eno tief beeindruckt war.
Den Übergang von der akustischen zur elektronischen Musik, vom Streichorchester und der Jazz-Gitarre zum Syntheziser-Loop, ermöglichte die atemtechnische Prismatisierung einer kraftvollen weiblichen Stimme: den hypnotisch heranwehenden Gesang auf einzelnen Tonstufen, alterierende Sprech-Sequenzen und die dazwischen fahrende, tabufrei sensualistische Stöhn-Athletik als provozierende Antwort auf James Browns »Sex Machine« und Isaac Hayes’ »Shaft«. Der verwirrende Zusammenprall von Hot und Cool, von Live und Artificial hält die volle klangsinnliche Präsenz der im Gospel ausgebildeten Technik fest: als heißen Print, als konzentrierte Intonation, als sich ausbreitende Schwingung und als orgiastische Intensität der polymorphen Artikulation. Die Partitur der Lust als Vorbotin einer noch ganz realen Simulation, deren analoges Multitracking später zum digitalen Sample mutierte und die auditive Kunst in eine distanzierte Daten-Technologie überführte.

 









Donna Summer
I Feel Love



Bee Gees
Staying Alive




Fischer-Dieskau: Mahler
Ich bin der Welt abhanden gekommen


 


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