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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Valéry - der Poetische Geistesarbeiter

»Ich grase meine Gehirnwiese ab« -
Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers.


Von Otto A. Böhmer

»Das interessanteste Tier für den Menschen ist der Mensch«, befand einst der Philosoph J. G. Fichte, der sich am liebsten mit einer überdimensionierten Gedankenfigur namens Ich beschäftigte, von der sich allerdings, auch wenn man ein ums andere Mal zu ihr absteigt, gar nicht so viel in Erfahrung bringen lässt, was jeder erkennen kann, der selbst als kleines Ich unterwegs ist. Befreiend wirkt da die Welt, in die sich ein Ich geworfen sieht; an ihr kann es sich abarbeiten, kann Erkenntnisleistungen aufbauen, die mehr sind als bloße Selbstbestätigungsbotschaften. So ist denn der Zusammenhang von Welt und Ich zum ausgewiesenen Zielgebiet der Nachdenklichen aller Stände geworden, im besonderen der Philosophenzunft, die damit seit längerem zu tun hat und, erstaunlicherweise, noch immer zu Einsichten gelangt, die den Anschein des Neuen erwecken. Auch Schriftsteller mischen mit, bevorzugt solche, die nicht umhin können, den eigenen Beschreibungsversuchen ergänzende Reflexionen an die Seite zu stellen, aus denen abzulesen ist, dass es, allen gelungenen Sprachspielen zum Trotz, stets mehr Fragen als Antworten gibt.

Ein Meister philosophisch-literarischer Prosa, in der das Staunen überwiegt, obwohl sie eine Vielzahl pointierter Einsichten anzubieten hat, war der anfangs noch unbekannte, später jedoch hochgeehrte französische Dichter Paul Valéry (1871 – 1945), dem auch namhafte deutsche Kollegen wie Rilke, Jünger (u.a.) ihre Referenz erwiesen. Die Frage »Was ist und was kann der Mensch?« beschäftigte ihn ein Leben lang, und zwar so intensiv, dass er sein gesamtes erkenntnisleitendes Interesse daran ausrichtete. Valéry war ein poetischer Geistesarbeiter, der sich schon frühmorgens ans Werk machte: »Du Morgenmond, du kühler, gelassener, voller Mond, du —- Ich grüße dich, den ich wiedererkenne, denn oft schon traf ich dich an, wenn ich die Läden meines Fensters öffnete zu dieser Stunde …, die für mich die Stunde ist, zu der mein Geist seinen Dienst wieder aufnimmt, und die die erste Stunde des Tages ist, noch rein und für sich, denn die Dinge dieser Welt, die Ereignisse, meine Geschäfte, mischen sich noch nicht in – mich ein.« Tag für Tag füllte Valéry seine Cahiers (Schreibhefte) mit Notizen und Aphorismen, die sich schließlich zu einer 29bändigen Werkausgabe summierten; ihr Autor blieb dennoch bescheiden, hatte er sich doch, nach bestem Wissen und Gewissen, nur um Selbstverständigung bemüht – größere, womöglich sogar menschheitsbeglückende Ansprüche ließen sich daraus nicht ableiten: »Es ist nicht unmöglich, dass diese Schreibereien, diese Art alles zu notieren, was in den Sinn kommt, für mich eine Form des Wunsches ist, mit mir zu sein und sozusagen ich zu sein. – Und ich merke das, wenn ich beobachte, wie erleichtert ich mich vor diesen Heften einfinde, gleichsam in Pantoffeln – ich denke dabei an das, was mir einfällt – und nicht an das, woran man für die anderen denken muss.«

In der Anderen Bibliothek hat Thomas Stölzel unter dem etwas blumigen Titel Ich grase meine Gehirnwiese ab eine mustergültig edierte Auswahl aus Valérys Schreibheften vorgelegt. Es ist, wenn man so will, ein Best of-Album, das an einen Dichter erinnert, der seinen inneren Bezirk durchmisst, um über Gott und die Welt nachzudenken, von denen wir nur wissen können, wenn wir uns selbst als Resonanzboden mit einbeziehen. Ein solches Erkenntnisprogramm kann dazu führen, dass man die eigene Person, ein kleines Ich unter Milliarden anderer, meist unerkannt bleibender Bewusstseinsträger, für ausnehmend wichtig hält; eine Gefahr allerdings, der Valéry nicht mal ansatzweise erliegt: »Meine Philosophie zielt einzig darauf ab, mich mit mir selbst vertraut zu machen. Mein Ziel ist es nicht, eine Welt zu errichten, in der ich ebenso gut nicht vorkommen könnte … Sondern mich in mein Licht zu rücken, meine Hebel in Bewegung zu setzen, zu vereinen, was die Verhältnisse nicht vereinen; zu entzweien, was der Zufall vereint hat -; mein Unbestimmtes zu vermindern, mich auszudehnen, um meine Grenzen zu finden.« Die Themen dieses Buches sind vielfältig und weit gespannt: Valéry schreibt (u.a.) über Die Wissenschaft vom Menschen, richtet Blicke auf die eigene Person, schließt daraus auf Ich, Selbst und die Indivualität, betrachtet Sprachliches, Allzusprachliches, betreibt Nachdenken über das Denken und widmet sich der Selbstsorge, die es auf Wellness abgesehen hat, meist aber zu übergreifender Skepsis führt. Die Bewusstseinskunst des Paul Valéry bietet Angriffsflächen, mit denen sie gelassen umzugehen weiß; ihr Vorbild nämlich ist kein einzelner Philosoph, der seine Sache etwa besonders gut gemacht hätte, auch kein Schriftsteller, dem es gelang, sich zu Lebzeiten oder gleich danach in die von Menschen ausgedachte Ewigkeit einzuschreiben, sondern das nach außen gerichtete Zentralorgan unserer Wahrnehmung und Weltauffassung: »Spezialität ist mir unmöglich. Ich werde belächelt. Sie sind kein Dichter, Sie sind kein Philosoph, Sie sind weder Geometer noch sonst etwas. Sie betreiben nichts gründlich. Mit welchem Recht sprechen Sie von dieser Sache, da Sie sich ihr nicht mit Ausschließlichkeit widmen? – Ach ja, ich bin wie das Auge, welches sieht, was es sieht. Es braucht sich nur ein klein wenig zu bewegen, und die Mauer verwandelt sich in eine Wolke; die Wolke in eine Uhr; die Uhr in Buchstaben, die sprechen. – Vielleicht ist das meine Spezialität. – Meine Spezialität, das ist mein Geist.«

Paul Valérys Schreibhefte bieten auch heute noch ein Lesevergnügen der besonderen Art, das ebenso anspruchsvoll wie unaufdringlich ist und Nachhaltigkeit gewinnt. Ein solches Buch, dem viele Leser zu wünschen sind, konnte hierzulande wohl tatsächlich nur in der Anderen Bibliothek erscheinen, die es, wie gesagt, bald nicht mehr geben wird. Da die Hoffnung jedoch zuletzt stirbt, eine Spruchweisheit, die gern in Abstiegskandidatenkreisen bemüht wird, darf man sich wünschen, dass sich ja vielleicht doch noch ein ebenso wohlmeinender wie wohlhabender Käufer findet, der das Unternehmen übernimmt, ohne sich zu übernehmen. Ich selbst hätte da keine Hemmungen: Wenn ich ein wenig Geld, besser noch: viel Geld hätte, was ich aber leider nicht habe, würde ich die Andere Bibliothek kaufen und weiterführen – zumindest bis zur nächsten Insolvenz.

Übernahme des Artikels mit freundlicher Genehmigung von Faust-Kultur,
wo er vor der Übernahme der Anderen Bibliothek durch Aufbau erschienen ist.
 








Ich grase meine Gehirnwiese ab

Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers
Herausgegeben von Thomas Stölzel
Die Andere Bibliothek
32.00 Euro, 42.90 sFr
9783821862422

Leseprobe


 


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