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Panorama
des Weltenwechsels Wenn ich mich in jene Zeit zurückversetze, erinnere ich mich an etliche politische Ereignisse, die wesentlich im Prozess der friedlichen Revolution von 1989 waren. Aber es waren die kleinen privaten Dinge wie erste, zweite, dritte Liebe, Abitur, Beginn meines Zivildienstes etc., die sich vor die Begebnisse der Weltgeschichte schoben. Nun lebe ich seit doch einigen Jahren im Ostteil Berlins und versuche, unserem großen Sohn etwas von der Teilung Berlins, Europas und der Welt und ihrer Überwindung näher zu bringen und nur selten gelingt es mir. Wir bewegen uns orientierungslos in Zeit und Raum und erfahren erst später, dass der Mantel der Geschichte uns streifte. Ingo Schulze hat die Gabe, von den Menschen zu erzählen, die nicht ahnen, dass der Mantel der Geschichte sie jemals oder überhaupt streifen könnte. Großartig hat Schulze dies mit Enrico Türmer, dem Protagonisten seines großen Wende-Romans „Neue Leben“, vorgeführt. Wortreich versuchte jener in ständiger Innensicht sein Leben zu ordnen, Richtung zu geben und das Vorher mit dem Nachher zu verbinden. Und gäbe es ihn, den Enrico Türmer, und könnten wir ihn fragen, ob es ihm denn gelungen sei, so würde er uns ausführlich und detailreich antworten, dass er es selbst nicht wisse. „Neue Leben“ war und ist ein sensationeller Roman, eines von drei Büchern, das ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Nun hat Ingo Schulze ein neues Buch über das Schicksalsjahr 1989 geschrieben. „Adam und Evelyn“ handelt von jenen Menschen, die in und durch die Weltgeschichte taumeln, aus der sie verändert herauskommen, ohne zu wissen, was eigentlich mit ihnen geschehen ist. Kurz zur Geschichte: Adam ist ein begnadeter Damenschneider in einer namenslosen Stadt der DDR. Seine Kundinnen bezahlen ihn nicht nur mit monetären, sondern auch mit fleischlichen Valuta. Seine Freundin Evelyn erwischt ihn in flagranti und beschließt, ihm, ihrem bisherigen Leben und ihrem Staat den Rücken zu kehren. Mit einer Freundin und ihrem Westcousin macht sie sich auf die Reise an den Plattensee, im Sommer 1989 ein Refugium der Auswanderungswilligen der DDR. Auch wenn es scheint, dass Adam nur ganz, ganz wenige Dinge wichtig sind, so weiß er, dass er Evelyn zurückhaben will, und so beschließt er, ihr nachzureisen. Mit seinem Wartburg „Heinrich“ macht er sich auf die Reise, die ihn mit Evelyn wieder am Ausgangspunkt zurückführen soll. Aber mit dieser Reise gerät Adam in das Räderwerk gesellschaftlicher Veränderungen, die ihn schließlich im Westen landen lassen. Die Vertreibung aus dem Paradies endet für Adam in diesem Fall in München. Und damit gleicht er seinem biblischen Namensvetter, der auch aus dem Paradies vertrieben wurde, ohne recht zu ahnen, wie und warum. Zumindest hätte er bei der Frage, wer denn die Schuld dafür trage, recht menschlich auf eine andere Person gedeutet. Auch bei Schulze sind die Frauen die handelnden Personen, die Männer haben die Konsequenzen zu tragen. Es bewahrheitet sich für Adam wie für viele Männer, dass sich Bequemlichkeit nicht immer lohnt. So wenig die Namen von Adam und Evelyn zufällig gewählt sind, so wenig trifft dies auch auf den Namen des Westcousins zu. Der heißt Michael, in der christlichen Tradition der Hüter des Paradiestores. In einem der Schlüsselszenen unterhalten sich die Michael und Adam, von Mann zu Mann, als Liebeskonkurrenten um Evelyn, als Ossi und Wessi. Dabei werden die beiden aus den unterschiedlichen Teilen Deutschlands auch durch ihre Berufe treffend charakterisiert: Während Adam der Kunst des Verhüllens und Verschönerns nachgeht, ist Michael Zellbiologie, der dem Ziel der Unsterblichkeit nachjagt. Gibt es eine schönere und treffendere Beschreibung der beiden Systeme? Aber Schulze bleibt dabei nicht stehen, das wäre ihm zu platt. Nein, er baut eine schöne Verquerung ein, die sich folgendermaßen im Dialog zwischen Michael, dem westdeutschen Angestellten, mit Adam, dem ostdeutschen Selbständigen, darstellt. Michael: „Für mich ist Arbeit Leben. Für dich nicht?“ – „Schon, aber wir meinen nicht dasselbe.“ – „Wieso nicht, du hast doch eine schöne Arbeit.“ – „Eben weil ich machen kann, was ich will.“ Eben an diesem „Eben weil ich machen kann, was ich will“ hängt Adam, der Ostdeutsche, fest. Auch dann oder gerade auch dann noch, als Michael längst zu seiner Arbeit in Hamburg verschwunden ist und Evelyn in Ungarn zurückgelassen hat. Die Pflicht hat ihn gerufen. Adam hingegen glaubt bis zuletzt an die Autonomie und Unabhängigkeit seiner selbst im Raum und Zeit. Er stolpert weniger durch die Weltgeschichte, nein, er erweckt den Eindruck, dass die Welt um ihn herum eigentlich nichts mit ihm zu tun hat. Dies stimmt leider nicht, wie er bei seiner harten Landung in München erkennt.
„Adam und Evelyn“ ist ein Roman der Dialoge, lakonischer Dialoge, und kurzer,
treffender Beschreibungen der Welt von Ost und West. Dem Ost-Regal mit dem
„eingeweckten Obst“ steht der „Überwurf aus Holzkugeln“ über den Sitz des
West-Autos gegenüber. Zwei Geschmacklosigkeiten, die Gott sei Dank der
Geschichte angehören. Mit Andeutungen führt Ingo Schulze das ganze politische und
gesellschaftliche Panorama eines Jahres vor, in dem kleine Menschen große
Geschichte machten und in dem die große Geschichte mit den Menschen machte, was
sie wollte. Wen wir mehr über uns und unsere Geschichte und unsere Rolle in
dieser Geschichte erfahren möchten, dann sollten wir zu „Adam und Evelyn“
greifen. Schulze lässt uns mit diesem Buch mehr davon verstehen, als kluge
Analysen es uns erklären könnten. |
Ingo Schulze
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Glanz@Elend
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