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Der Ehrliche ist der Dumme
Seine Leser verzauberte
der indische Autor Aravind Adigar mit seinem Erstlingsroman »Der weiße Tiger«,
indem er seine Heimat entzauberte. Der gerade erschienene zweite Roman steht dem
mit dem Booker Prize prämierten Debüt in nichts nach. Mit »Zwischen den
Attentaten« hält Adiga der indischen Gesellschaft erneut den Spiegel vor.
Grandios.
In der westlichen Welt
vollzieht sich seit Jahren ein stetig steigendes Interesse an Indien, das in den
zurückliegenden zehn Monaten in zwei Ereignissen kulminierte. Am 14. Oktober
2008 erlebte die indische Kultur im Westen einen ersten Höhepunkt, als der
damals 33-jährige Journalist und Schriftsteller Aravind Adiga in London für
seinen Debütroman „Der weiße Tiger“ den wichtigsten britischen Literaturpreis
erhielt. Mit dem The Man Booker Prize wird jährlich der beste
englischsprachige Roman eines Schriftstellers aus Großbritannien, Irland oder
dem Commonwealth vergeben. Einen zweiten Höhepunkt stellte der 22. Februar 2009
dar, als der Film Slumdog Millionär in Los Angeles bei der Oscar-Verleihung
acht Preise abräumte, nachdem er bereits bei den Golden Globe Awards
überzeugte.
Der junge Aravind Adiga
steht völlig zu Recht zwischen diesen Honoratioren. Seine direkte und
schonungslose Literatur sagt uns mehr über Indien, als es die unzähligen gut
gemeinten Sachbücher tun, die über die aufstrebende Großmacht zwischen Armut und
Demokratie berichten. Die Erklärung dafür ist einfach: Adiga will den Leser
nicht einfach mit einer Geschichte aus Indien unterhalten, er will ihn
hineinziehen und zum Teil seiner Erzählungen inmitten der indischen Gesellschaft
machen. Und was soll man sagen. Dies gelingt ihm auf eine einzigartig simple und
doch geniale Art und Weise.
Als Chauffeur in Delhi
begreift er schnell, warum die indische Kastengesellschaft bislang nahezu
unangetastet blieb und auch weiterhin Bestand haben wird. Die
Selbstverständlichkeit, mit der die meisten Menschen in Indien ihr Leben
hinnehmen und sich diesem Fügen, nimmt einfach kein Ende. Zugleich bleibt die
soziale Ächtung bestehen, wenn jemand aus diesem System auszubrechen versucht.
Es wird automatisch zum Außenseiter, wer gegen die bestehenden Verhältnisse
aufzubegehren versucht.
In seinem zweiten Roman
erkennt man sogleich eine Variante des aus dem Debütroman bekannten
Grundgerüsts. In Form eines Reiseführers schafft Adiga den Rahmen, mit dem er
den Leser sofort ins Zentrum der Ereignisse zieht. Die Expedition geht nach
Kittur, eine für indische Verhältnisse kleine Stadt in Südwestindien in der Nähe
von Goa. Sieben Tage (Zur Erinnerung: Der Briefwechsel in „Der weiße Tiger“ zog
sich über sieben Nächte hin.) dauert hier der Aufenthalt, während dem man als
Mitreisender vielleicht nicht unbedingt die touristisch attraktivsten, aber die
authentischsten Orte der Stadt kennen lernt.
Die Wirklichkeit in Indien
ist schlicht und einfach. Die Kasten bestehen in der sozial-wirtschaftlichen
Struktur fort. Auch im modernen Indien bestehen kaum Chancen, die Unterschicht
zu verlassen. Dies treibt einen enormen Bevölkerungsteil in die (nicht selten
mit Alkohol unterstützte) Resignation. Apathisch nehmen sie ihr Schicksal hin
und werden anfällig für Extremismus und Ressentiments. Wenn Literatur auch
heißt, die Wirklichkeit reflektiert auf den Punkt zu bringen, dann ist Adigas
Schreiben große Literatur. Bombenbauen ist aber Adigas Sache nicht, denn mit Gewalt verändert man keine Gesellschaft. Sein Beitrag gegen die Verhältnisse, die er beschreibt, ist viel subtiler. Es ist sein Schreiben. Der neue Roman ist die zweite dieser literarischen Bomben von enormer Sprengkraft. Es bleibt allerdings zu hoffen, dass die Wirkung dieses Wortsprengsatzes eine andere ist, als die der wirklichen Bombe seines jungen Protagonisten. Denn obwohl Shankara seine Tat gesteht, traut ihm aufgrund seiner niedrigen Kaste keiner einen solchen Anschlag und schon gar nicht die Größe des Geständnisses zu. Nicht einmal die für diese Tat notwendige Verzweiflung wird ihm noch gestattet. Dies ist die bittere Wahrheit, mit der uns Aravind Adiga nicht verschont.
(Nachtrag zur Übersetzung:
Sprachlich sind beide Bücher meisterlich. Allerdings hat die rundum geschmeidige
Übersetzung von „Der weiße Tiger“ durch Ingo Herzke einen leicht besseren
Eindruck hinterlassen, als die etwas härtere Übertragung von „Zwischen den
Attentaten“ ins Deutsche durch den Autor und Übersetzer Klaus Modick.)
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