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Eine europäische Katastrophe

Ein Balanceakt zwischen Holocaust und Balkankrieg, Geschichte und Gegenwart, Betroffenheit und Objektivität ist Igor Štiks Roman „Die Archive der Nacht“. Eine abwechslungsreiche und poetische Identitätssuche, die die unglaubliche Geschichte einer Familie erzählt.
Von Thomas Hummitzsch
 

Der Journalist und Buchautor Richard Richter ist erschlagen von dem, was sich da vor ihm auftut. Seine ganzes Selbstbild, seine Identität ist ein für allemal dahin, unwiederbringlich verloren. Ein Brief, versteckt im Hohlraum einer Zimmerwand, hat sein Leben vom Tisch gefegt, als wäre es ein lästiger Kekskrümel. Es ist ein nie abgeschickter Brief seiner Mutter Paula an ihren Geliebten, den jüdischen Kommunisten Jakob Schneider. Darin gesteht sie ihm, dass er der Vater des Kindes ist, welches sie in sich trägt. Jakob wurde jedoch an die Nazi-Schergen verraten, bevor ihm Paula von dem gemeinsamen Kind erzählen kann. Im nationalsozialistischen Wien der vierziger Jahre kann sie ihn nicht suchen, ohne sich selbst und das Kind in Gefahr zu bringen. Nur ihrer Schwester und dem Stillschweigen des Papiers, welches Richard Richter nun in der Hand hält, vertraut sie sich an: „Das Geheimnis, dass wir teilen, hat uns in seine Falle gehen lassen, und wir haben uns entschieden, weiter nach unserer Wahrheit zu leben ...“ Kurz nach der Geburt stirbt Paula und nimmt ihr Geheimnis mit ins Grab. Fünfzig Jahre später wird das Schweigen des Briefes gebrochen. Richard Richter bleibt nichts, als auf die Suche zu gehen, nach seinem Vater und nach sich selbst. Diese Suche verschlägt ihn ausgerechnet in den europäischen Krisenherd des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, den Balkan. Jakob, sein Vater, stammt aus Sarajevo, aus der Stadt, in der das dunkle Jahrhundert Europas am 28. Juni 1914 seinen Anfang nahm. Gerade jetzt, in einer Zeit des Krieges und der Zerstörung, während der fast vier Jahre andauernden Belagerung der Stadt durch die serbischen Truppen, begibt sich Richard Richter nach Sarajevo – hoffend und fürchtend, den Vater zu finden. „Die Archive der Nacht“ sind das selbst abgelegte Zeugnis dieser verzweifelten Suche nach der Antwort auf die Frage aller Fragen: Wer bin ich?

Igor Štiks ist einer jener jungen Wilden Kroatiens, die es geschafft haben und angekommen sind in der internationalen Kulturlandschaft. Nachdem sein Debütroman „Ein Schloss in der Romagna“ vor sechs Jahren in seinem Heimatland als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet wurde, hat er mit seinem Folgewerk erneut einen bedeutenden Preis eingeheimst, den Ksaver-Šandor-Gjalski-Preis – den wichtigsten Literaturpreis Kroatien. Sein Buch kann als eines der Favoriten der Leipziger Buchmesse gelten, die in diesem Jahr ihren Schwerpunkt auf die junge kroatische Literatur legt. Man kann davon ausgehen, dass Štiks’ Roman den Bücherfrühling mitbestimmen wird.

Die Hauptperson der Erzählung, Richard Richter, versinkt nahezu in depressiven Anfällen, in denen er sein Schicksal permanent bejammert und beklagt. Sich selbst bedauernd hadert er unablässig mit den Konsequenzen, die sich für ihn aus dem Brief der Mutter ergeben haben. So ist „Die Archive der Nacht“ auch ein großes Spiel mit dem Konjunktiv, ein unablässiges Erwägen angenehmerer Eventualitäten, wenn, ja wenn er dieses Schreiben nie gelesen hätte. So beschleicht den Leser der Eindruck, es hier vielmehr mit einem vom Schicksal getriebenen zu tun zu haben, als mit jemandem, der selbstbestimmt nach seinem Ursprung sucht. Nahezu lästig ist dem Leser zuweilen der jammervolle Ton des Richard R., der sich in seinen vorliegenden Aufzeichnungen niederschlägt. Alles Elend der Welt scheint Štiks Hauptperson in sich vereint zu sehen, seitdem er weiß, dass er nicht derjenige ist, für den er sich immer gehalten hat. Dieses egozentrische Weltbild lässt seine persönliche Misere schließlich soweit in den Vordergrund drängen, dass die ihn umgebenden politischen Ereignisse zuweilen zum historischen Rahmen reduziert werden. Und hier entwickelt der Roman auch einige unnötige Längen, die die Lektüre etwas zäh werden lassen.

Wenn sich Igor Štiks jedoch zum Kommentieren der politischen Ereignisse berufen fühlt, kommt er diesem mit literarischer Klasse und politischer Schärfe nach: „Wie ist es möglich, dass die Welt uns nicht hilft, wo doch das Unrecht auf der Hand liegt? Wie ist es möglich, dass wir, die wir die Werte des menschlichen Lebens, die Multikulturalität, die Toleranz – und all die anderen wichtigen Werte und Worte, die heute in Europa auf der Tagesordnung stehen – verteidigen, von diesem Europa keine Hilfe erhalten?“ Štiks scheut nicht, die selbst aufgeworfenen Fragen radikal und in aller Deutlichkeit sogleich in einer Frisch’schen Parabel selbst zu beantworten: „Doch der europäische Homo Faber sitzt mit verschränkten Armen da und sieht ganz rational zu, wie sein Schicksal sich gestaltet. Derzeit ist er verwirrt und schafft es nicht, will es meiner Meinung auch gar nicht schaffen, je eins und eins zusammenzuzählen, sondern ruft das Schicksal zu Hilfe, dem man sich ohnehin nicht widersetzen kann, insbesondere, wenn es auf dem Balkan zuschlägt. Er bedient sich einfach der altbekannten Formel der ‚unkontrollierbaren Kräfte ethnischer Konflikte’ als Beruhigungsmittel für sein Gewissen.“

In Sarajevo lebt Richard bei dem jungen Ivor, seinem letzten echten Freund, wie er später sagen wird, „der alles ins Rollen brachte.“ Über diesen lernt er die junge Schauspielerin Alma Filipovic kennen, mit der er eine leidenschaftliche Liebesbeziehung eingeht. Diese Beziehung wird ihm auf tragische Weise zum Verhängnis. Viel zu lange ignoriert er die dunklen Wolken, die am Himmel seiner Liebe aufziehen. Die junge Alma ist, ohne es zu wissen, der entscheidende Schlüssel auf der Suche nach seinem Vater. Denn es ist nicht nur das Bett, das er mit ihr teilt, sondern auch der Vater, der seine Geliebte als seine Schwester enttarnt. Die Suche nach seiner Identität enthüllt sich so als ungeahnte und daher längst vollzogene inzestuöse Heimsuchung.

„Die Archive der Nacht“ ist eine faszinierende Reise zwischen den Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts auf hohem sprachlichen Niveau. Und nicht nur die nähere Zeitgeschichte, sondern auch die Literatur- und Kunstgeschichte, von der Antike bis in die Moderne, erhält über Anspielungen und Zitate Einzug in Igor Štiks neuen Roman. Insofern weist der Roman gewisse Parallelen zum europäischen Bildungsroman auf. Igor Štiks „Die Archive der Nacht“ ist ein abenteuerlicher und wagemutiger Marsch durch unsere Zeit, der eine Brücke zwischen den europäischen Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts schlägt. Ihm ist nichts weniger gelungen, als ein gesamteuropäischer Geschichtsroman. Thomas Hummitzsch
 

Igor Štiks
Die Archive der Nacht

Aus dem Kroatischen von Marica Brodrozic
Claassen Verlag. Berlin 2008.
384 Seiten
19,90 €
ISBN 3546004275.

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