Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik


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Die menschliche Komödie
als work in progress


Zum 5-jährigen Bestehen ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.

 

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Glanz&Elend - Die Zeitschrift
Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

»Diese mühselige Arbeit an den Zügen des Menschlichen«
Zu diesem Thema haben wir Texte von Honoré de Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás Gómez Dávila, Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman, Dieter Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt, Erich Mühsam u.a., gesammelt und mit den besten Essays und Artikeln unserer Internet-Ausgabe ergänzt. Inhalt als PDF-Datei
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Melancholieverbot

Lothar Struck über Maria Beigs Lebensgeschichte

Es war schon eine Überraschung das kleine Büchlein »Ein Lebensweg« von Maria Beig auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, die ja keine Bestsellerliste ist, im Monat Juni 2009 zu finden.
Immerhin: Beig ist mitnichten eine Novizin und einer kleinen aber feinen Gemeinde durchaus mit ihren autobiografisch inspirierten Erzählungen und Romanen bekannt und Martin Walser und Arnold Stadler loben sie immer wieder, und nicht nur wegen des Lokalkolorits.

Nun Beigs erstes Buch aus der Ich-Perspektive (wenigstens zunächst). Man ahnt, daß hier jeglicher Unterschied zwischen der Erzählerin und Autorin aufgehoben ist. Das wirkt einerseits authentisch, birgt aber andererseits die bekannten Gefahren, in die schon manch ein Meister getappt ist. Das, wie Peter Handke es einmal nannte, "Lügen" ist nicht mehr möglich, weil sich jemand etwas von der Seele schreiben und dabei so genau wie möglich sein möchte (muß?). Ich gestehe, solche Bücher selten zu mögen, weil sie entweder dem Leser eine bestimmte Haltung aufzwingen wollen oder in meist peinlichem Seelen-Striptease ausarten (oder, die schlimmsten Fälle, beides).
»Ein Lebensweg" ist da eine löbliche Ausnahme, was vor allem an der eigenwilligen Erzähltechnik und -sprache von Maria Beig liegt. Einerseits spröde, gelegentlich dann aber sogar humorvoll bis zum (vereinzelt »schwarzen") Kalauer, andererseits mit dem Blick für den kleinen, zunächst scheinbar unbedeutenden Moment, dem vermeintlich belanglosen Ereignis, welches sich rückwirkend betrachtet als Wendepunkt im Leben erweist. Die Eile (Hektik? ja, auch, manchmal), mit der sie von Ereignis zu Ereignis fast begierig erzählt, ähnelt dem Wundern des Kindes, welches im Sekundentakt Neues entdeckt. Dabei verfällt die Autorin weder in eine Idyllisierung, eine Gefahr, die in der Wieder-Holung des Landlebens in den 1920er Jahren durchaus liegen könnte, noch flüchtet sie in ein rührseliges Lamento; auch die Innerlichkeitspose ist ihr fremd.

Geboren 1920 als siebtes von elf (oder zwölf? oder mehr?) Kindern, die Geschwister bleiben bis auf eine Ausnahme namenlos; sie heißen das dritte Mädchen oder die Zweite oder der zweite der lebenden [Brüder], wächst die Ich-Erzählerin (die vierte) auf einem Bauernhof irgendwo im Oberschwäbischen auf. Der Vater, ein hoffärtiger Mann, der gerne feine Anzüge trägt und trotzdem eine enorme Palette von Flüchen absondern kann, hoch verschuldet, hat sein Rappeln (wenn er zuviel oder zu wenig getrunken hat). Die Mutter, eine ruhige, sanftmütige Person, voll beschäftigt mit dem Hof und den Kindern (ihr begieriges Lesen und Erzählen ihrer Lektüre in der spärlichen freien Zeit gilt da nichts). Maria ist ein Wildfang, klein, ein bißchen vierschrötig, nicht so hübsch wie die anderen Töchter (damit auch nicht so beliebt) und gratuliert dem Vater nicht pünktlich zu Neujahr. Wie die anderen Kinder muß sie früh auf dem Hof mithelfen; sie weint viel, etwa, wenn Katzenjunge weggebracht werden. 
In atemberaubenden Tempo erfahren wir vom Knecht Gottfried oder der Magd mit den Zöpfen, dem Ekel der Mutter vor den Stubenfliegen, dem Frühjahr, als tausende weißer Schmetterlinge dem Feld entstiegen und wenig später die Ernte von Kohlrabi, Rosenkohl, Tomaten verdorben war ob der grünlichen Raupen, den Maikäfern, die von den Bäumen geschüttelt worden (und in anderer Zeit fast kostbar galten), dem Mauser, der ungerufen kam und die Strecke der toten Tiere vorlegte. Wir erfahren von den Zigeunerkindern, die für kurze Zeit in der Schule waren, daß der Vater sie mit ihren Wagen kampieren ließ und ihnen das Milchgefäß aufgefüllt wurde und daß sie plötzlich nicht mehr kamen. Der Vater fand die Nazis gut und hing ein Hitlerbild auf. Bei Kriegsbeginn nahm er es ohne etwas zu sagen für immer ab.

Das Bild an der Wand
Wenn es heimelig zu werden droht, folgt die Demontage meist auf dem Fuß; trocken und frei von Gestelztem. Etwa über Männer: Einigemale meinte ich, es gebe nur den Einen. Erst als ich den Richtigen fürs Leben fand, sah ich, daß es auch andere gab. Oder: Mit dem ersten Sohn gab es eine Schwierigkeit, denn er wollte Geld verdienen und in der Fabrik in der Stadt arbeiten, was vom Vater nicht akzeptiert wurde. Es gab eine Schlägerei mit einer blutigen Nase für den Sohn, der in der Fabrik blieb. Und dann musste der Bub zum Arbeitsdienst, wie es heißt zum Glück. Dann zu Militär, anschließend in den Krieg. Zum Unglück verhungerte er in Russland. (Man überliest die Pointe leicht; Maria Beig zwingt zum langsamen Lesen.)
Irgendwie gelingt es, daß der Vater der Ausbildung zur Hauswirtschaftslehrerin zustimmt (er bekam eine Ausbildungsbeihilfe) und als ich in den ersten Ferien kam, und noch lange Zeit danach, hieß ich wie von Anfang an. Endlich "ist" sie wer in der Familie. Sie besteht die Aufnahmeprüfung; alles sehr früh, aber es war keine Zeit, Lehrer wurden gebraucht im Krieg. Ihr Bild hängt nun zu Hause an der Wand beim Tisch (die Klosterschwester wurde abgehängt).
Erzählen wie ein hastiges Umblättern im Gedächtnis. Das Unterrichten in den Dorfschulen, das Alleinsein, der Überdruß, zwischenzeitlich Zufriedenheit, dann der bedrückende Nebel, das Elend. Nicht immer erzählt sie chronologisch, so recht früh die Episode, als der Vater unheilbar krank schien und man glaubte, er werde bald sterben (Winter 1944). Die älteren Töchter begannen, seine dunklen, guten Anzüge in Kostüme umzunähen (auch für die Beerdigung). Eines Tages kam dann der Vater plötzlich herunter und meinte, er werde im Frühjahr wieder gesund sein; es schien, als wollte er einen seiner Anzüge anziehen. Aber man hatte richtig spekuliert und die Kostüme hielten noch lange.
Dann dieser Soldat. Kinobesuche und die Verabredung, die fast versäumt worden wäre, weil der Ofen in der Stube ausging und doch ging sie hin und hat es später hunderttausendmal bereut und bedacht, wie anders mein Weg verlaufen wäre. Kurz darauf dann das vergebliche Warten, der Gang in die Kaserne, und dann kamen die Keulenschläge: ein verheirateter Mann, vor zweieinhalb Wochen an die Front gekommen. Ausgerechnet beim Gottesdienst in der Heimat Gewissheit. Die Mutter schimpft: Das war immer dein Fehler, du glaubst allen Leuten! Aber nachher wunderte sie sich, wie freundlich alle waren, sogar der Vater. Aber das Foto von mir war weg von der Wand. Ich schaute den hellen Flecken an und nickte.

Abstand zu sich selbst: "Der Umweg" heißt das Kapitel im Buch und es ist in der dritten Person geschrieben. Anfangs geht selbst das nicht und es gibt eine allegorische Erzählung von der Kätzin, die wie jedes Jahr ihre Jungen dem Bauern "vorlegt". Eines hat eine kleine Sichel auf der Stirn. Irgendwann sagt der Bauer "Zu groß", man nahm einen Papiersack…und stopfte die fünf hinein. Im Zementsack tobten die Katzen. Er musste schnell zubinden und zum Bach laufen. Und dann taucht "Sichel" doch wieder auf. Irgendwie (man folge dieser Erzählung genau). Und Marias zweites Leben begann.
Nichts war mehr am gewohnten Platz. Die tiefe Verzweiflung war einer Gehobenheit gewichen. Das Kind (ein Junge), daß wohl wusste, daß es gar nicht da sein sollte. Und weiter im Beruf. Dann Heirat, eine Tochter. Der Mann, der irgendwann vom Buben nicht mehr hören will. Sie muß schwören, der Tochter von dessen Existenz nie etwas zu verraten. Lapidar heißt es sie hielt das Versprechen und sie sprach nicht von ihm und weinte in den Nächten. Was für ein grausames Gelübde da verlangt wurde.

Melancholieverbot
Dieses Kapitel, geschrieben, in dem sie sich in die Zeit hineinversetzte, mit dem Gefühl, neben sich zu stehen wird zum zärtlichen Epitaph auf diesen "Buben", der sein frühes Ende so teilnahmslos hingenommen [hat] wie sein Dasein. Er war mit ein paar Dutzend Jahren ein alter Mann, und sie begruben ihn auf dem Dorffriedhof. Abermals kein Wort zuviel – und dennoch (gerade deswegen?) spürt man die Liebe und das heute noch. Genauer: die Liebe und die Verzweiflung. Seine Mutter weinte zwar heftig, doch weniger darüber, daß er nicht mehr war, sondern weil sie in dieser Rolle so sehr versagt hatte. Hier glänzt Maria Beigs Prosa am Schönsten.

Sie läßt sich mit 57 frühpensionieren und hat jetzt viel Zeit. Hausarbeit, die Leere; Malkurs in der Volkshochschule, Flötenspiel. Lektüre. Im Garten neben dem Blumenbeet krabbelt plötzlich auf dem Buch ein Insekt; ein Käfer oder eine Art Heuschrecke. Aber plötzlich, einer Epiphanie gleich, sind die Depressionen vertrieben und das Schreiben beginnt. Hefte im Küchentisch – nach der Hausarbeit (wie die Mutter ihre Groschenromane gelesen hat). Erste Erfolge und, gleichzeitig, Anfeindungen - ihre Charakterisierungen in ihren Büchern treffen zu genau, obwohl anonymisiert. Nestbeschmutzerin.
Die Kränkungen des Alters, Stürze, dauerhafte Appetitlosigkeit, ja Ekel vor zubereiteten Speisen, Krankenhausaufenthalte; gelegentliche Anerkennung über ihre Literatur. Der atemlose Stil, diese "irrwitzige Beschleunigung" (Daniela Kletzke) mit der sie erzählt – hier scheint's manchmal ein bisschen überstürzt. Der selbstironische Ton verstärkt sich. Wieder so ein Erlebnis: Eine Hühnersuppe und mit mir ging's anhaltend bergauf und am Ende entdeckt sie sogar den Gleichmut (den man nicht mit verklärender Altersmilde verwechseln darf).

Der Leser merkt: Da hat jemand Angst vor auch nur der kleinsten Form von Pathos. Es herrscht ein eisernes Melancholieverbot in diesem Buch. Das verleiht der lakonischen Sprache gelegentlich einen etwas brummigen Unterton, der jedoch nicht mit Zynismus verwechselt werden darf (diese Wohlstandskinderattitüden sind einer Erzählerin wie Maria Beig selbstredend fremd). Man hat das Gefühl, da hat jemand mit der Zeit (ja, "mit" der Zeit!) eine Art Hornhaut bekommen, die manchmal schmerzt aber auch gleichzeitig schützt.
Keine Wehmut, keine Verklärungen. Aber auch keine Klagen oder ungebetenen Ratschläge. Dieses Buch ist frisch, ja fast kraftstrotzend, obwohl es von einer 89jährigen geschrieben wurde. Obwohl? Oder weil…?  - Lothar Struck

 

Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Maria Beig
Ein Lebensweg
Klöpfer & Meyer
164 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-940086-29-7
€ [D] 17,50


 



 


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