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Was ist der Mensch?
Der amerikanische
Meistererzähler T. C. Boyle geht in seiner aktuellen Erzählung »Das wilde Kind«
den elementaren Fragen nach dem Menschsein nach. Seine Geschichte scheitert
allerdings an der eigenen Betroffenheit ob der Grausamkeit des Menschen. Von Thomas Hummitzsch
Wie viel Zivilisation
steckt im Menschen? Oder: Wie viel Kultivierung bedarf der zivilisierte Mensch?
Diesen grundlegenden Fragen nach dem Wesen des Menschlichen bilden die
geistig-moralische Grundlage der aktuellen Kurzgeschichte von T.C. Boyle. Der
Text ist seinem ebenfalls kürzlich erschienenen Erzählband »Wild child: And
Other Stories« entnommen und nun auf Deutsch erhältlich. »Das wilde Kind« ist
die mythisierte Geschichte des Wolfskinds Victor von Aveyron, einem einsam in
den Wäldern Südfrankreichs aufgewachsenem Kind, das man 1797 entdeckt und
aufgegriffen hatte. Natürlich reichert Boyle diesen Fall künstlich an, schmückt
ihn kreativ aus – schließlich besteht darin seine Kunstfertigkeit, für die er
verehrt, zuweilen sogar vergöttert wird. Es bedurfte zahlreicher Anläufe, dem scheuen und mit tierischen Instinkten ausgestatteten Jungen habhaft zu werden. Schließlich konnte ihn der Naturforscher Pierre Joseph Bonnaterre untersuchen, der feststellte, dass »das wilde Kind“ nicht nur nicht sprechen konnte, sondern dass er sein Gehör auch so sehr seiner Umwelt angepasst hatte, dass er nur auf natürliche Geräusche reagierte. Vom Menschen verursachte Geräusche nahm er nicht wahr. Außerdem zeigt er sich gegenüber Temperaturunterschieden unempfindlich. Moralische Grenzen oder Anstandsregeln waren dem Kind völlig fremd. In einer Pariser Anstalt für taubstumme Kinder kümmerte sich dann der junge Arzt Jean Itard um den wilden Jungen. Mit quasi religiösem Ehrgeiz versuchte er ihn zu zivilisieren, denn der Glaube, der Mensch sei an sich zivilisiert und kultiviert, unterscheide sich gerade darin vom Tier, war Ende des 18. Jahrhunderts noch tief verankert gewesen. Von Darwins Erkenntnissen war noch nicht viel zu erahnen, der Einfluss der Kirche durch die französische Revolution keineswegs hinweggefegt. Die vorherrschende christliche Moral ließ für Wesen wie Victor von Aveyron, nur eine Erklärung zu: Idiotie, Schwachsinn, Teufelsbesessenheit. Diesem galt es, Zivilisiertheit entgegenzusetzen – mit aller Gewalt. So ist Boyles Erzählung auch eine Geschichte der menschlichen Grausamkeit angesichts eine Kindes, das nicht kultiviert und in einer Welt mit künstlichen Mythen und künstlichen Idealen aufgewachsen ist. Victor ist anders – und darf es nicht bleiben. Er wird das Opfer zahlreicher und lang andauernder »Umerziehungsversuche« seiner Lehrer, die einen Menschen nach ihren Vorstellungen aus ihm machen wollen. Dass er bei aller animalischen Identifikation das menschlichste Wesen der Erzählung ist, ist geradezu anrührend und zugleich die bittere Ironie der Geschichte. Dennoch stimmt etwas nicht bei der Lektüre dieses knapp 100 Seiten dünnen Textes. Vergeblich wartet man auf den Boyle’schen Aufwärtshaken; auf den Moment, in dem seinen scharfsinnigen Analysen die bissige Ironie und der lästerhafte Ton folgen, für die der Wahlkalifornier so berühmtberüchtigt ist. Zwar ist die Erzählung wie so oft in dem sachlichen Ton eines Geschichtsschreibers verfasst, doch ordnete Boyle diesem Berichterstatterduktus scheinbar seine Bissigkeit unter – wohl um die Grausamkeit dieser absurden Normalität um 1800 deutlich zu machen. Auch den Leser erschreckt dies, er leidet angesichts der erbarmungslosen Indoktrinierung mit dem Jungen mit und stellt sich zugleich hinter diejenigen, die sich Victor nachsichtig und rücksichtsvoll zuwenden. Dem Leser gelingt es während der Lektüre jedoch nicht, sich über das Sujet zu erheben und die bitterbösen Gemeinheiten der Welt unabhängig von dieser fast wehrlosen Kreatur zu beobachten und zu belächeln. Boyle selbst ist es auch nicht gelungen. Mit Victor von Aveyron hat er sich einen Protagonisten gewählt, der zu schwach und hilflos ist, um Boyles Sarkasmus standzuhalten. Boyle braucht Charaktere, die ihm etwas entgegenzusetzen haben, die seine Aufwärtshaken aushalten können, ja meist sogar verdient haben (man denke bspw. an seinen Immigrantenroman »América«). Dies ist bei Victor von Aveyron nicht der Fall und somit scheitert Boyles gewohntes und zu erwartendes Konzept. Dies führt dazu, dass die gesamte Erzählung von einem mitleidigen Subtext begleitet wird, doch ist Mitleid nun mal Boyles Stärke nicht. Seine Stärke besteht eben darin zu zeigen, dass die Welt schonungslos gemein ist und ein jeder von uns Teil dieser Welt ist und seinen Anteil daran hat.
»Das
wilde Kind«
ist alles andere als eine schlechte Geschichte, Ganz im Gegenteil, es ist sogar
eine richtig gute Erzählung, die es versteht, den Leser in das Frankreich des
19. Jahrhunderts zu entführen. Aber es ist eben keine Boyle’sche Story. Boyles
letzter Erzählungsband hieß noch
»Zähne
und Klauen«,
dieser Geschichte fehlen selbige aber fast völlig.
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T.C. Boyle |
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