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Schmetterlinge
essen
Stefan Möller über Mircea Cărtărescus
Roman-Moloch »Die Wissenden«
Leicht macht es der Roman seinen Lesern
nicht, genau genommen macht er es ihnen verdammt schwer. Kaum ein Werk der
letzten Jahrzehnte verweigert sich so konsequent der Textverständlichkeit wie
„Die Wissenden", der erste Teil einer im Original „Orbitor“ genannten Trilogie.
Sprachgewaltig kommt das Sammelsurium von Träumen, Geschichten, Fantasien,
abstrusen Gedankenspielen und monströsen Begebenheiten daher. Mircea Cărtărescu
beherrscht sein Metier, jongliert mit Begrifflichkeiten, erfindet Worte und haut
dem Leser seine ausschweifende Sprachartistik um die Ohren, so dass der bald
nicht mehr weiß, wo hinten und vorn, wo oben und unten ist.
Dabei beginnt alles eigentlich ganz harmlos.
Der 15jährige Mircea erkundet sich und seine Umgebung, sein Zimmer, den Blick
auf die Stefan-cel-Mare-Chaussee in Bukarest, die Gedanken schweifen ab zu den
Zimmern junger Mädchen, die „mit über das Kissen gebreitetem Haar und entblößten
kleinen Brüsten“ schliefen. Aber schon bald schleicht sie sich ein, die
Vorstellung von Bukarest als einer „Melange aus Fleisch, Stein,
Gehirnflüssigkeit, Stahl und Urin […] von Architraven und Wirbeln gestützt,
beseelt von Statuen und Obsessionen, verdauend mit Därmen und Heizzentralen“.
Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen sudeln sich konsequent durch den gesamten
Roman. Und so geht es weiter im Text, Seite über Seite, teilweise quälend lange.
Das ist auch das große Manko des Romans, Cărtărescu überreizt allzu oft sein
Spiel, er entnervt den Leser. An dieser Stelle hinkt dann der Vergleich zum
magischen Realismus, mit dem einige Kritiker „Die Wissenden“ bedacht haben. Auch
der Klappentext stellt den Roman in eine Reihe mit „Hundert Jahre Einsamkeit“
und tut damit Marquez Unrecht.
Kleine Wette gefällig? 8 von 10 Lesern schaffen es nicht über Seite 100 hinaus!
Und das ist eigentlich schade, denn der Erzählstrang, der den Roman
zusammenhält, ist wahrlich meisterhaft. Erzählt wird die Familiengeschichte der
Badislavs. Sie beginnt mit einer Flucht. Die Ursache für die Flucht aus dem
bulgarischen Heimatdorf könnte einem Romero-Film entstammen, die Toten nehmen
furchtbare Rache dafür, dass die Dorfbewohner im andauernden Mohnrausch die
Totennahrung vergaßen.
Ich will an dieser Stelle gar nicht
versuchen, den Inhalt weiter zusammenzufassen, Cărtărescu sagte in einem
Interview mit der Zeit, dass er „14 Jahre und 1500 Seiten gebraucht [habe], um
herauszufinden, worum es in dem Roman geht. Jetzt kann ich es sagen, jedoch
nicht in wenigen Worten, sondern in genauso vielen, wie ich im Buch verwendet
habe.“
Mir fehlen dazu fast 14 Jahre und annähernd 1000 Seiten.
Aber auch die weiteren Erzählstationen, die Geschichte von Mirceas Mutter und
deren Schwester, das Bukarester Nachtleben der 40er- und 50erJahre sowie die,
den deutschen Titel stiftende Geheimgesellschaft »Die Wissenden« sind in ihrer
Fantastik, ihrer Absurdität und in der Fähigkeit Cărtărescus, Historie
exemplarisch zu verdichten und zu abstrahieren ein großes Lesevergnügen. Und
doch, so richtig anfreunden konnte ich mich nicht, dafür enthält die Metaebene
des Textes zuviel Ballast, der aber in diesem Fall, womit er sich dann auch an
die Absage an den Realismus hält, den Roman daran hindert, etwas häufiger aus
den übergeordneten Sphären wieder hinabzusteigen und Gelegenheit zum Durchatmen
zu geben. Interessant wird die Antwort auf die Frage, ob sich nach der Lektüre
der kompletten Trilogie, der abschließende Teil erschien im letzten Herbst in
Rumänien, ein Gesamtbild ergibt, das die unzähligen Fragezeichen, die nach der
Lektüre des ersten Teils bleiben, beseitigt.
Die einzelnen Teile haben im Rumänischen die
Titel „Linker Flügel“, „Körper“ und „Rechter Flügel“, das Gesamtwerk ist für Cărtărescu ein Schmetterling, der dann auch immer wieder in grotesken
Ausformungen im Text auftaucht und gelegentlich auch als Nahrungsquelle dient.
Man könnte an dieser Stelle noch viel von literarischem Manierismus, von
Postmoderne, von Lyotards „Ende der großen Erzählungen“ und von wuchernden
Diskursen reden, all dies findet seinen Widerhall in „Die Wissenden“.
Was mich aber an dieser
Stelle wirklich interessiert: Wie sieht der Leser aus, der Cărtărescus Roman
zusammen mit Ken Folletts „Die Tore der Welt" und Cecelia Aherns „Ich hab Dich
im Gefühl" gekauft hat. Es muss ihn geben, sagt zumindest ein großer
Buchversandhändler, dessen Name mit B beginnt. Stefan Möller
|
Mircea Cartarescu
Die Wissenden
Roman
Übersetzt aus dem Rumänischen
von Gerhardt Csejka
Zsolnay
528 Seiten
Fester Einband
978-3-552-05406-6
EUR 25,60
Leseprobe |