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Unter der Gummihaut

Jürgen Nielsen-Sikora über Durs Grünbeins Meditationen »Der cartesische Taucher«

René Descartes (1596-1650) gilt nicht nur als Begründer der analytischen Geometrie, sondern auch als Wegbereiter des frühneu­zeitlichen Rationalismus, der nur das als wahr gelten lässt, was durch logische Reflexion nachgewiesen werden kann und was so klar und deutlich erkannt ist, dass es nicht mehr in Zweifel gezogen werden kann. Was dann übrig bleibt, ist nichts anderes als der Zweifelnde selbst.

Unter Philosophen blieb er, das vierte Kind einer kleinadligen Familie aus dem »Garten Frankreichs«, der Touraine, stets umstritten. Eine der bekann­testen Kritiken stammt von dem britischen Philosophen Gilbert Ryle. Er sprach Ende der 1940er Jahre vom „Gespenst in der Maschine“, das Descartes durch seinen Leib-Seele-Dualismus kreiert habe. Wie können wir wissen, ob andere auch über Geist verfügen? Wie kommu­niziert ein immaterieller Geist mit einer materiellen Umwelt, und wie kann sich eigentlich ein räumlicher Geist in einem räumlichen Objekt befinden?, fragte Ryle damals. Descartes wäre diesen Zweifeln eines Kollegen vermutlich wiederum mit seinem Konzept des denkenden Ichs begegnet. Doch was ist dieses Denken mehr als „ein Schweißausbruch im überhitzten Raum“? – Das zweifelnde Selbst jedenfalls wird zum Knotenpunkt der cartesischen Philosophie, die in der Annahme gründet, das eigentliche Wesen der Seele bestehe im Denken, deren höchste Stufe die ideae und axiomata der Logik, der Mathematik und der Theologie beschreiben. Das „Ich denke“ Descartes´ bildet von nun an den Flucht­punkt aller Philosophien. Doch bleibt in diesem rationalistischen Kerker überhaupt noch Platz für Emotionalität, für Bilder, Poesie?

Ja, meint der Dichter Durs Grünbein, Büchner-Preisträger des Jahres 1995, und widmet dem Philosophen ein kleines Buch mit dem Titel „Der cartesische Taucher“. Wir kennen diese Taucher als kleine Wasserteufel aus Kindheitstagen, die durch Druck auf die Flasche auf den Grund des Bodens befördert werden und wieder hochschnellen, sobald der Druck auf die Flasche nachlässt. Descartes´ Ich ist, so Grünbein, wie der kleine Taucher auch, nicht unterzukriegen: „Man begegnet ihm überall, wo Vernunft den Alltag regelt. Immer wieder treibt es hinauf an die Oberfläche der Erscheinungen.“ Deshalb bildet die cartesische Philosophie bei Grünbein den Ausgangspunkt seiner poetologischen Reflexionen.

Doch Descartes bedeutet ihm mehr. Aus seinem Namen ergäben sich immer neue Anagramme, in denen „der Schlüssel zum Innersten der modernen Seele“ liege. In drei Meditationen sucht er für diesen Schlüssel das passende poetische Schloss. Eine Suche, die auch der wird auf sich nehmen müssen, der Grünbeins „Drei Meditationen“ liest. Mit Hilfe von drei Anagrammen wollen wir uns auf diese Suche begeben.  

Das erste Anagramm heißt: Ein atmender Idiot?
Descartes ist für den Dichter der „Wegbereiter einer anthro­pologisch fundierten Poetik“ und „Erschütterer der adamitischen Anthro­pologie“. Denn ohne ihn sei auch das Ich des Dichters schlichtweg nicht denkbar. Andererseits kann kein Denken „Ich“ sagen, ohne nicht zuvor auch der cartesischen Philosophie gehuldigt zu haben. Schließlich gleiche die Seele des Dichters nicht zuletzt, so Grünbein, dem Springteufel, „wenn sie unterm Druck der Vernunft auf und ab tanzt. Sie ist der cartesische Taucher, der zuletzt doch immer wieder an die Oberfläche der Erscheinungen zurückfindet. Dort, unter der Gummihaut, die ihr Refugium von dem wahren, unermesslichen Außenraum abtrennt, ist ihr liebster Aufenthaltsort.“

Unter dem Druck der Vernunft tanzt der Dichter auf und ab. Doch ausgerechnet dann, wenn dieser Druck nachlässt, schnellt seine Seele wieder an die Oberfläche, wo sie Unterschlupf findet und am liebsten verweilt. Hier muss sie wieder Luft holen, wartend auf weiteren Druck der Vernunft, der sie wieder auf den Boden presst, um erneut in die Erscheinungswelt zurückzufinden.

Warum bildet ausgerechnet der Raum unter der Gummihaut das Refugium der Poeten?

Nun, Sprache, Dichtung allemal, ist, wie Grünbein einmal schrieb, „Rache des Fleisches durch den Kehlkopf“. Das reine Vernunft-Ich, wie es sich auf dem Boden der Flasche abzeichnet, ist jedoch zu dieser Rache nicht fähig. Es produziert einfach keinen Überschuss an Bedeutung, Sinn, Bildern; es ist keine Expedition nach der Wahrheit mehr, sondern diese Wahrheit selbst, die uns nicht anrührt. Aus diesem Grunde muss das poetische Ich wieder nach oben, immer wieder nach Luft schnappen, sich zu den Dingen begeben, sie erzählen und weitererzählen. Es muss Worte finden für das, was sich am Boden der Flasche Vernunft angesammelt hat. Geht es diesen Weg wie einst Platons Troglodyten nicht, bleibt es der atmende Idiot, ein sprachloses Ich, das am Rebreather der eigenen Ratio dahinvegetiert: „Hörst Du/ In welcher Enge du atmest, dich regst?“ – Es bleibt dann in der Tat nur das Gespenst in der Maschine, von dem Ryle sprach. In letzter Konsequenz bedeutet dies aber, dass Vernunft ohne Lyrik arm, Dichtung ohne Ratio blind ist.

Das zweite Anagramm heißt: Meide Traditionen!
Descartes´ Philosophie ist für Grünbein zugleich jener cursor, der die Position des Erkenntnisprozesses auf dem Bildschirm seiner Zeit und weit darüber hinaus vorgab. Er habe mit dem Herkömmlichen gebrochen, um im Buch der Welt zu studieren. Was ist das für eine Welt? „Unheimlich ist, so plötzlich fremd, die Welt, bewohnt“ heißt es in einem Gedicht. Der Dichter, so Grünbein, versetze die Sprache in den Ausnahmezustand. Dazu jedoch sei ein gut gefügtes Gehirn vonnöten, und sogleich fühlen wir uns erinnert an die Zerbrechlichkeit unseres Denkapparates, an den „rhythmischen Blutstrom unter der Fontanelle“ des Kindes, die „rhombische Lücke im Schädeldach.“ So empfindsam wie das Hirn eines Säuglings auf Druck, so empfindsam reagiert der Dichter auf die Zustände der Welt. Doch wie sich auch die Fontanelle einmal wieder schließt, so muss der Dichter als Denker sich dem verschließen, was hinter ihm liegt. Denn es gilt, Neuland zu entdecken „zwischen Himmel und Hypophyse.“ Dasselbe lässt sich von Descartes sagen: So radikal wie seine Philosophie sich von den Traditionen lossagte, auch wenn Platon und die Metaphysik eine wichtige Rolle für Descartes´ eigenes Denken bildeten, so schonungslos ging er vor, als er das Subjekt aus dem Käfig einer objektiv messbaren Gegenstandswelt herauslöste. Nicht nur durch seine Naturbetrachtung more geometrico, sondern ebenso durch seine
Regulae ad directionem ingenii, mit denen er auf philosophische Tauchfahrt ging, ein unum­stößliches Prinzip, einen letzten Legitimationsgrund der Philosophie, ein Fun­da­ment aller menschlichen Reflexionen zu finden. Er kehrte nicht nur der Narrengesellschaft, wie sie uns in den Werken von François Rabelais und Sebastian Brant, oder den Bildern von David Tenier und Pieter Breugel begegnen, den Rücken, oder verlor sich in Tagträumereien, sondern er konzentrierte sich ganz und gar auf die Erforschung des menschlichen Verstandes. Diese geistige Tauchfahrt des französischen Philosophen ist vielleicht nur vergleichbar mit der des Kapitän Nemo aus Jules Vernes Vingt mille lieues sous les mers, denn auch Nemo bricht mit der Menschheit und der Erde und versorgt sich und seine Mannschaft ausschließlich aus den Schätzen des Meeres. Es ist dunkel dort unten, „eiserne Lungen“ braucht es, zu überleben. Wie Nemo ist Descartes schließlich der Auffassung, Wissen sei nicht durch Lektüre, sondern nur durch Beobachtung zu erlangen. Grünbein widerspricht dem nicht. Vielmehr glaubt er, dies sei auch die Bedingung der Möglichkeit von Poesie überhaupt. Diese wiederum ist ihm zugleich Droge und Heilmittel in einem. Und wie Descartes bricht letztlich auch Grünbein in seinen Gedichten mit den Traditionen. Nicht erst in dem Buch „Vom Schnee oder Descartes in Deutschland“, einem Perikopenband mit knapp dreitausend Versen, hat er dies eindrücklich nachgewiesen. Denn spätestens in „Schädelbasislektion“ zeigte er, wie sehr seine Gedichte mit naturwissenschaftlichen Methoden arbeiten und auf sie anspielen: „Was du bist steht am Rand/ Anatomischer Tafeln./ Dem Skelett an der Wand/ Was von Seele zu schwafeln/ Liegt gerad so verquer/ Wie im Rachen der Zeit (Kleinhirn hin, Stammhirn her)/ Diese Scheiß Sterblichkeit.“ Und in einem „Unten am Schlammgrund“ betitelten Gedicht heißt es: „Langsame Kamerafahrt durch die Lakunen/ Eines gespaltenen Hirns.“ Überhaupt: Das Hirn. Sowohl für Descartes als auch für Grünbein wird es zum Tauchbecken der Sprache, zum Diorama einer Welt, in das hinein zu gleiten allemal lohnt: „Im blaugrünen Wasser/ Dieser aquarischen Nacht (…)/ Passagen durchgeistert vom Taucherblick.“ Mit diesem Blick wird der Mensch schonungslos seziert und in seine Bestandteile zerlegt. Unser Ich löst sich auf in Blut, Adern, Nervenbahnen: „Wo Nichts und Niemand spiegelbildlich/ Wie durch ein Fernrohr sich beglotzen/ War das Ich denke nur ein Bluterguß.“

Das dritte Anagramm heißt: Ordinate mit Ideen.
Ordinate nennt man die vertikale Koordinate eines Punktes im kartesischen Koordinatensystem. Ein Zufall, dass sich die „Drei Meditationen“ zu diesen Wortspielen eignen? Vielleicht. Doch immerhin war Descartes stets präsent in den Versen von Grünbein; nicht auszuschließen, dass er den Schlüssel zum Verständnis seiner Lyrik bildet. Denn Gedichte, so Grünbein selbst, wären nichts weiter als mathematische Gleichungen, Worte in Relation gesetzt – so lehrt uns „Das erste Jahr“. Und neben dem „cartesischen Hund“ in der „Schädelbasislektion“ finden wir in „Falten und Fallen“ zwei „Meditationen nach Descartes“, in denen wiederum vom Schnee die Rede ist, von den schneebedeckten Landschaften, durch die Grünbein den Denker schickt. Auch ist vom schneebedeckten Jahrhundert die Rede. Gemeint ist die „kleine Eiszeit“ zwischen 1570 und 1630, auf die Grünbein ebenfalls im „Taucher“ anspielt und sie mit dem Seelenzustand des Philosophen korrespondieren lässt. Irgendwo heißt es: „Nur das Gefrorene überlebt, in Gebeten noch Seele genannt.“ Platonischer kann man es kaum ausdrücken!

Aber lassen wir den alten Platon in Frieden und kommen zurück zur y-Achse, die still im Sturm der Gegenwart steht, und an die Grünbein, als wäre sie ein Fahnenmast, den Descartes einst aufgestellt hat, seine Verse zum Trocknen hängt. Gleiten wir hinab in ihren Negativbereich, wo sich Descartes´ Ich bewegt wie uralte Tiefseefische, die „Veteranen der Evolution.“ Blicken wir noch einmal hinauf vom Schlammgrund der Vernunft, hinauf zum letzten Refugium der Dichter. Sie hocken dort und erwarten den Druck, der sie hinabsinken lässt, um die Kraft der Sprache zu tanken. Und solange es noch Luft gibt, bleiben sie gewiss unsterblich. Sie wissen das selbst und denken sich: „Wer kann schon Ich sagen, ohne ein Lächeln zu unterdrücken?“
 

Durs Grünbein
Der cartesische Taucher
Drei Meditationen
edition unseld 7
143 Seiten, Broschur
Euro 10,00 [D]
ISBN 978-3-518-26007-4

 

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