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Zwischen
Gier und Askese
Peter V. Brinkemper über Umberto Ecos neuesten Coup - »Die Unendliche Liste«
Das Zeitalter der Listen.
Wann begann es und wird es je enden? Das heutige digital explodierte Universum
bringt eine Überproduktion an möglichen Listen hervor. Suchmaschinen liefern
Zufallsergebnisse, chaotische Konglomerate von Hyperlinks, Charts für beliebige
Zielgruppen auf dem global driftenden Markt, Aktualitätsfragmente und
All-Time-Bestseller: Von der Bibel und dem Koran, über Mao, Dickens, Tolkien,
Spyris "Heidi", Umberto Ecos "Name der Rose", bis zum Hite Report, der immer
noch Rowlings "Harry Potter" schlägt. Territorien, Glaubensfundamente,
Genealogien, Kulturzuchtvisionen und übergreifende Absatzmärkte gehen in eine
furchterregende Vision ein, in einen Info-Tainment-Malstrom, zumal wenn ein
Filmregisseur wie James Cameron sich selbst mit "Avatar" (bisher 1,4 Mrd. Dollar
in nur vier Wochen) gegen "Titanic" selbst bald zu überbieten scheint. Die Liste
ist heute keine Marmortreppe in die Ewigheit und auch kein Walk Of Fame, sondern
ein durchlöchertes Floß, eine umfunktionierte Leiter auf dem Ozean der Daten,
deren Sprossen jederzeit einbrechen, oder auch neu zusammengesetzt werden
können, zwischen Sensation und Spam, Qualität und Trivialität, Kultur und
Laberei.
Damit ist auch etwas über den fluiden Darstellungsmodus der heutigen
Digi-Culture gesagt. Um so interessanter, wenn Umberto Eco in seinem wieder bei
Hanser erschienenen zwischen Literatur und bildender Kunst changierenden
Prachtband "Die unendliche Liste" (nach der Geschichte der Schönheit, 2004, und
Hässlichkeit, 2007)
uns in Text und Bild mit den Modellen konfrontiert, die Endlichkeit und die
Unendlichkeit, den Fluchtpunkt der Idee und die Fluchtlinien der Wahrnehmung
miteinander zu vermitteln oder zu konfrontieren.
Dieses Mal ist die Präsentation (mit einigen schon bekannten Beispielen), bei
aller konkreten Anschaulichkeit, Plastizität und gelegentlichen Deftigkeit des
Materials im exemplarischen Detail, doch einer ungewöhnlich direkten
Abstraktion, einem konstruktiven Gewimmel unterzogen. Es kristallisiert sich in
elementaren Einheiten heraus, in den zahllosen Figuren der Synekdoche, des Pars
Pro Toto und des Totum Pro Parte, der realen Aggregation und Clusterung von
Gliedern, Figuren, Ornamenten, Massen, Materien, Sternen, Menschen und Mengen.
In militärischen Aufmärschen und karnevalesken Aufzügen, von Garden, Corps und
Revuegirls, vor den Palästen und auf den Bühnen und Showtreppen der
real-politischen und in den Masken und Schablonen der virtuell-medialen Welt.
Dabei tobt sich die kleine und große Unendlichkeit der Dinge, Menschen und
Reiche aus, in den mehr oder minder stringenten oder akzidentellen Ordnungen.
Das Delirium der letzten Klarheit versorgt den heutigen Leser mit überraschenden
Einsichten oder auch mit heiteren Parodien von dem, was einmal als ultimativer
Ausdruck eines Gesamten und Ganzen, als Resumee oder einfach nur als Paradeallee
der bisher erreichten imperialen Expansion galt. Lauter magische,
mittelalterlich-ontische, phänomenal-renaissancistische und folgende
naturwissenschaftlich und kapitalistische fundierte Serialisierungen kreisen
anfänglich um das Wunder der Existenz, dann um den Glanz der Wahrnehmung, in
Fundstücken, Werkzeugen, Edelsteinen und Kunstwerken, werden aber schnell zu
Rohstoffen und Signaturen der Bildverwertung, denen immer wieder die visuelle
Degradierung ausgerechnet im Überflug und Überfluss droht.
Einmal mehr überlagern sich für den Semiotiker Eco die Funktionen der Zeichen:
Der Abdruck des Realen, die reale Spur oder der geistige Print, werden zum Bild,
zur Inkunabel, zum Teppich und zur Kartographie, diese in der Häufung zu
Symbolen, erst bereichsverwachsenen und dann entwachsenden, flottierenden
Rastern, Filtern und Signalen. So sind wir schon in frühen kulturellen
Abbildungen von Glauben und Macht schnell bei Vorformen des abstrahierenden
Computing: In den Beutestrecken feudaler Herrschaft, in den endlosen
Schatzkammern der Insignien der Macht, in den manieristischen Gärten, in den
feudalen Kunsthandelssalons, in der späteren Musealisierung von Leben, Technik
und Wissenschaft, im der barocken Vorstellung des Theatrum Mundi, in der
Konstruktion von phantastischen Landschaften mit unmöglichen Ansammlungen von
Mensch, Architektur und Biologie, in der Versammlung lichtdurchfluteter Heiliger
und Engel auf dem Weg noch oben, und beim Höllensturz der Verdammten. Das Chaos
des Lebens wird von der Ordnung wie von einer Halluzination überzogen, wobei
immer wieder fraglich ist, wer historisch überlebt: das Gewimmel oder klare
Linie, die ausführliche Erfahrung oder das knappe Resümee.
Überall erweist sich die künstlerische und literarische Wahrnehmung als ein Akt
des evolutionären Lesens, zwischen hieratischer Entzifferung und dadaistischer
Antikombinatorik, zwischen Wertsteigerung und Entwertung, Kapitalisierung und
Inflation. In den Listen schlagen sich viele Motive, Begehren und Tendenzen
nieder: die Sorgfalt der Aufzeichnung und Aufzählung, der Fleiß und die Vorsorge
einer ertragreichen handwerklichen Lebens, die Eitelkeit der absolutistischen
Repräsentation, der Trieb zur Überwachung und Ausschnüfflung, der Wille zur
Orientierung und die Versessenheit des Irrwegs in den Gärten der Lüste, die
Sucht und die Gier nach dem qualitativen und bald nur noch quantativen Exzess,
der Vollständigkeitswahn des Künstlers, Sammlers oder Massenmörders, die Askese
der immer längeren Enumerationen und die Mathematisierung in Nummernrevues, die
die individuelle Geschichte zugunsten des touristischen Rundumschlags von Las
Vegas überall nivelliert, die wissenschaftliche Akribie, die im empirischen
Forscherdrang schon die alchemistischem Formel, das Gravitationsgesetz oder den
DNA-Code ahnt, aber noch in der empirischen schlechten Endlosigkeit festhängt.
Die Liste enthält scheinbar die komplette Bestandsaufnahme von Leben und Tod,
Suchen und Versuchen, Gelingen und Scheitern. Aber Eco wäre nicht der Autor des
"Offenen Kunstwerks", wenn die Liste selbst eben nicht auch unendlich wäre. Nur
so kann die Liste mehr sein als die Verendlichung des Unendlichen. Denn oft kann
sie eine wirkliche Bestandsaufnahme, die das Allgemeine hinter sich lässt und
sich ins Besondere vertieft, auch verweigern.
Vielleicht wird irgendwann einmal uns jemand den Sinn und die Sinnlosigkeit der
heutigen Listomanie im Netz, den Abstaktionsgrad und die Absurdität unserer
elektronischen Wissenskommunikation zwischen Google, Twitter, Facebook und
MySpace als Crazy-Listening und Crazy-Listing erklären - nämlich als
Computer-Hühner-Farm mit virtuellen Legebatterien digitaler Nutztiere. "Die
unendliche Liste" (verbunden mit der Ausstellung "Mille e tre" bis 8.
Februar
2010 im Pariser Louvre) - wieder einmal sind Orgie und Askese, das
heiter-parodistische Spiel um Dummheit und Klugheit, die Tragikomödie von Carpe
Diem und Memento Mori in einem prallen italienisch-europäischen Buch des
Zeichen-Zauberers Umberto Eco wundersam vereint.
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Umberto Eco
Die unendliche Liste
übersetzt von Barbara Kleiner
Hanser Verlag
Fester Einband, 408 Seiten
39.90 €
ISBN 978-3-446-23440-6
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