Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik |
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Rekonstruktion
Pssst! Geschichte einer
Kindheit
ist nicht nur die Geschichte einer Kindheit, es ist eine Abrechnung mit
Federmans Familie. Am 16./17. Juli 1942 wurden 12.884
jüdische Bürger
während der Grande Rafle in Paris verhaftet. Es traf vor allem die armen Juden.
Die, die von ihrer Familie im Stich gelassen wurden, wie meine Eltern.
Alle sieben Geschwister der Mutter überleben, brachten sich vorher in
Sicherheit, weil sie die finanziellen Mittel dazu hatten. Maguerite wurde von
ihrer Schwester Marie angeboten, mit den Kindern, aber ohne den Vater zu
flüchten, als Antwort spuckte sie Marie ins Gesicht. Raymond wird Zeuge dieser
Szene, sie prägt sein weiteres Leben. Abschweifungen sind aber auch stilistisches Element in Federmans Prosawerk, er schreibt dazu: Ich hab es schon soundso oft gesagt, die Chronologie hält mich auf, und von Logik verstehe ich nichts. So springt er von Szene zu Szene, von Einflechtung zu Einflechtung. Mitten in einem Erzählstrang taucht die Erinnerung an etwas anderes auf, Federman unterbricht, um später wieder zum ursprünglich Erzählten zurückzukehren. Nach einem Viertel des Buches zwingt er sich, alle noch zu erzählenden Szenen aufzuzählen, 31 Punkte umfasst diese Liste, manche Szenen werden gleich in der Liste erzählt, anderen mehr Platz eingeräumt. Manche Szenen sind nicht zeitspezifisch, diese bleiben aber Ausnahme. Erzählt wird Prägendes, weggelassen wird das, was sich in jeder beliebigen Kindheit abspielt. Voller Querverweise zu anderen Werken Federmans fungiert Pssst! vielleicht als gemeinsame Schnittstelle der Familienthematik.
Über allem
schwebt der Schatten des Wissens darüber, wie die Familiengeschichte endet. Der
Tonfall ist ernst, selten schleicht sich kindliche Freude ein. Pssst. Die
Geschichte einer Kindheit bewegt sich aber nicht einen Schritt über
den Abgrund der Sentimentalität, wie ihn Federman an einer Stelle nennt,
das Buch bleibt durchweg auf der Höhe literarischer Kunstfertigkeit. Es sind diesen kleinen inneren Dispute, die den Text erschließen, die Absicht des Autors verdeutlichen. Und die Pssst! zu einem einzigartigen Leserlebnis machen. Dieses Pssst war das erste Wort des Buches, von dem meine Mutter wusste, dass ich es eines Tages schreiben würde. Über sechzig Jahre hat es bis zum Schreiben gedauert, aber Federman hat aus diesem Wort Literatur gemacht. Und was für welche! Stefan Möller
Pssst! Geschichte einer
Kindheit wurde Andrea Spingler aus dem Französischen übertragen. Das Buch
wurde von der Stiftung Buchkunst unter die schönsten Bücher 2008 gewählt. |
Raymond Federman
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