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Glanz&Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik

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Dazu exklusiv das interaktive Schauspiel
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Martin Brandes

Herr Wu lacht
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und der Unsinn des Reisens
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Der Reisemuffel

Eine Glosse von Joe Bauer

Die meisten Leute haben die Tage schnell verdrängt, als Islands Asche um die Welt flog und den Himmel zur Hölle machte. Der Vulkan Eyjafjallajökull spuckte auf die Marketing-Botschaft, Reisen sei für Menschen ein Kulturgut.

Als die Flugasche im April 2010 zum ersten Mal Monster-Schlagzeilen machte, saß ich im Zug von Essen nach Stuttgart, blätterte in der Sonntagszeitung und grinste beim Gedanken an das Chaos auf den Flughäfen. Dann entdeckte ich diese Meldung: "Mit knapp 300 km/h war der ICE 105 Ravensburg gestern Morgen auf dem Weg nach Stuttgart, als plötzlich eine Tür aus der Verankerung riss. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, dann blieb der Zug im Tunnel stehen. Die Tür krachte in den entgegenkommenden ICE München-Dortmund. Vier Fahrgäste wurden durch Glassplitter verletzt."

Ich kam pünktlich am Bahnhof an und fühlte mich mal wieder in meiner Haltung bestätigt: Reisen ist das Letzte, und es ist mir wurscht, ob Sie mich für eine Sofakartoffel oder einen Feigling halten. Feigling ließe ich sowieso nicht gelten. Die Pharmaindustrie verfügt heute über genügend gute Produkte, um jedermann angst- und stressfrei Expeditionen ins Herz des Vulkans oder ins Auge des Hurrikans zu gewähren.

Zu meiner Lieblingslektüre der Tourismus-Literatur gehört eine Kurzgeschichte des amerikanischen Schriftstellers T. C. Boyle. Sie heißt "Guten Flug" und beginnt so: "Als das Triebwerk unter der rechten Tragfläche auf einmal ein dünnes Fähnchen schmierigen schwarzen Rauchs nach sich zog, spähte Ellen durch das zerkratzte Plexiglasfenster auf die bauschigen Wölkchen, die sich über und hinter ihr türmten, und wusste, dass sie sterben würde."

Die Gewissheit zu sterben wäre für mich auf Reisen manchmal eine Gnade. Reisen abseits der unerschwinglichen Herrenklassen bedeutet Ärger (unter Kalauerkameraden nicht umsonst Tortour genannt). Reisen ist eine Qual. Viele Reisen haben mit Reisen nichts zu tun. In Wahrheit geht es nur um eine Ortsveränderung, und in diesem Fall ist die bürokratische Floskel berechtigt: Man wechselt den Standort. Morgens noch Kirchheim unter Teck, mittags schon Gran Canaria. Diese Art Mobilität mit Hilfe eines Jets erfüllt nicht annähernd die Passion des wahren Reisens. Die Lektüre von Münchhausens Ritt auf der Kanonenkugel wäre erregender.

Richtiges Reisen, sich bewusst von A nach B zu bewegen, spielt sich so ab: "Die sagenhafteste Mitfahrgelegenheit meines Lebens sollte noch kommen, ein Lastwagen mit flacher Pritsche hinten, darauf sechs, sieben Jungen ausgestreckt, und die Fahrer, zwei junge blonde Farmer aus Minnesota, sammelten jede Menschenseele auf, die sie am Straßenrand fanden - die zwei lustigsten, fröhlichsten, nett aussehendsten Holzköpfe, die zu treffen man sich wünschen konnte . . . Ich rannte hin und sagte: ,Ist noch Platz?' Sie sagten: ,Klar, spring auf, is' Platz genug für alle.'"

Die Zeilen stammen aus Jack Kerouacs Klassiker "Unterwegs". Das Buch ist nur etwas mehr als ein halbes Jahrhundert alt und seine Botschaft so aktuell wie Huckleberry Finns Floßfahrt auf dem Mississippi. Auf Reisen zu gehen kann nicht bedeuten, eine Hotelbude dem heimischen Schlafzimmer vorzuziehen. Reisen heißt suchen. Dahinter verbirgt sich die Sehnsucht nach dem Unbekannten. Das gilt für die Flucht der Bremer Stadtmusikanten nicht weniger als für Goethes Kutschfahrten oder die Tramper-Trips von Kerouac.

Der Bangkok- und Kenia-Tourist von heute begründet seine All-inclusive-Events nicht nur mit dem Recht, die Tapeten zu wechseln. Er legitimiert sie auch mit den internationalen Pflichten und kulturellen Ansprüchen des vernetzten Weltbürgers. Dabei brächte ihn jeder Dokumentarfilm auf Arte oder 3 Sat seinem Reiseziel mental näher als die Hippie-Nummer, ohne Sprachkenntnis in den Fluren fremder Menschen herumzutrampeln.

Ich bin Reisemuffel, und meine verbalen Attacken auf Touristen fallen mir aus Selbstschutz leichter als der läppische Hinweis, ich hasse Kofferpacken. Genau das tue ich aber. Denn Kofferpacken ist meistens für die Katz. Nicht nur einmal bin ich mit einer schäbigen Plastiktüte als einzigem Gepäckstück im Hotel einer Stadt angekommen. In der Tüte befand sich neben einem weißen T-Shirt in Nachthemdgröße, einer Zahnbürste mit angeklebter Zweitagescreme und einem unwirksamen Deostift die heiße Luft der nichtsnutzigen Fluggesellschaft. Mein mühsam, unter heftigem Fluchen gepackter Koffer hatte es wieder mal nicht aufs Laufband des Flughafens geschafft.

In solchen Momenten fallen mir die Worte des Komikers Loriot ein: Was willst du in Rio de Janeiro, hat er sinngemäß gesagt, solange du nicht einmal deine eigene Stadt kennst? Mag dieser Satz nicht unbedingt für einen ehrenwerten 600-Seelen-Dorfbewohner auf Mallorca-Kurs gelten, so steckt dahinter doch viel Wahrheit.

Rücksichtslos belästigt der Tourist fremde Länder und brave Leute mit Gewohnheiten, die zu Hause jeder Wachtmeister spätestens beim Verlassen der Schenke mit einer Ordnungsstrafe quittieren würde. In einem Souvenirgeschäft am New Yorker Times Square geht es heute nicht anders zu als in einer deutschen Abflughalle für Billig-Touren oder an den DevotionalienBuden des Cannstatter Volksfestes. Bayerische Dirndl, so weit das Auge reicht.

New York erwähne ich, weil ich die Stadt gelegentlich mit dem Argument des Reisemuffels heimsuche, dort fände ich die ganze Welt auf einem Fleck und könne so, als Touri-Trampel, den Rest der Welt verschonen.

Auf ihrem Flug nach New York springt die eingangs erwähnte Reisende Ellen aus T. C. Boyles Geschichte dem Tod noch von der Schippe. In Los Angeles gestartet, landet sie mit acht Stunden Verspätung auf dem Kennedy-Airport und freut sich ihres Lebens. Zuvor hat sie lediglich mehrere Notlandungen und die Unannehmlichkeit erdulden müssen, das Gesicht eines durchgeknallten Passagiers aus Notwehr mit der Gabel zu zerfleischen. Endlich am Boden, stellt sie sich vor, wie ihre Mutter sie gleich in die Arme nehmen und die Frage stellen wird: "Hast du einen guten Flug gehabt?"

Wir danken für die freundliche Erlaubnis von Joe Bauer.
Der Text ist erstmals erschienen in:
"Sonntag Aktuell".
 

Joe Bauer, Jahrgang 1954,
Kolumist der Stuttgarter Nachrichten, hauptberuflich Spaziergänger und Straßenbahnherumfahrer.
Betreibt zusammen mit Musikern und Entertainern die Lieder- und Geschichtenshow »Joe Bauers Flaneursalon«.

Letzte Veröffentlichung:

Schwaben, Schwafler, Ehrenmänner - Spazieren und vor die Hunde gehen in Stuttgart
Mit einem Titelbild von Thilo Rothacker
Critica Diabolis 169
Paperback, 176 Seiten
14.00 Euro, 24.50 SFr.
ISBN: 978-3-89320-136-5

Edition Tiamat, Berlin


Herzlichen Glückwunsch zu nunmehr 501 Depeschen in Joe Bauers
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