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Tankstellenluft, Fenstersteher und Rauchkanaillen

Über Sibylle Lewitscharoffs neuen Roman »Apostoloff«, der als schräges Roadmovie durch den Wilden Osten Bulgariens daherkommt.


Rumen Apostoloff kutschiert zwei Schwestern in einem schon betagten Daihatsu über die Strassen Bulgariens. Die beiden Schwestern könnten nicht unterschiedlicher sein. Eine ist zappelig, geschwätzig, naseweis und beschallt vom Rücksitz in schier atemlosen Monologen die beiden anderen Reisenden. Sie ist in Sibylle Lewitscharoffs Buch "Apostoloff" die Ich-Erzählerin. Ihre Schwester, zwei Jahre älter, neben Rumen sitzend (der sie anhimmelt, ist das ruhige, geduldige, gefasste, manchmal etwas somnambul wirkende, kleintragödinnenhafte Pendant. Beide Schwestern bleiben namenlos, was den Titel des Buches sonderbar erscheinen lässt, da für den Leser nun Rumen, der den Schwestern ergebene Nervösling (und unser Hermes) zum Titelheld mutiert und eine gewisse Erwartungshaltung aufgebaut wird.
Aber so seltsam wie die drei in ihren Dialogen, Monologen und gelegentlichem Schweigen (jeder von uns war anders schweigsam) durch dieses Malefizland Thrakien, einem Operettenland, fahren, essen, schlafen, Burgen und Häuser besichtigen und sich erinnern, so seltsam scheint auch mit fortlaufender Lektüre der Titel gewählt, denn Rumen ist keineswegs der auftrumpfende "Held" in diesem Buch, obwohl seine Rolle natürlich weit über das zunächst nahe liegende hinausgeht.

Überführung nach Bulgarien
Die beiden Schwestern sind zunächst zusammen mit anderen Stuttgarter Bulgarienkinder[n] auf Einladung des Multimillionärs, lange in Deutschland lebenden und schliesslich in Amerika reüssierenden Tabakoff unterwegs. Tabakoff ist auf die Idee gekommen, die ihm aus Stuttgart bekannten und inzwischen verstorbenen Bulgaren und ihre Verwandten (insgesamt sind es 19 Kumpane, darunter auch seine Frau Lilo, mit die Erzählerin als neunjährige eine unvergessliche Autofahrt unternahm) zu exhumieren, mittels einer dubiosen
Kryotechnik zu behandeln und nach Bulgarien zu überführen; dorthin wo sie, so seine Meinung, hingehören. Auch die Eltern der beiden Schwestern gehören dazu und die Ältere trotzt Tabakoff sagenhafte 70.000 Euro für die Genehmigung ab (der anfangs nur zehntausend geben wollte).
Die Kolonne mit insgesamt dreizehn Luxuslimousinen (ihre Scheiben waren geschwärzt) setzt sich von Degerloch aus in Bewegung, man speist in den vorzüglichsten Restaurants, übernachtet in den besten Hotels bis man endlich in Sofia ans Ziel kommt und in einer grandios geplanten Inszenierung (die dann ungewollt etwas profaner ausfällt) die feierliche Bestattung vornimmt. Hier lernen die beiden Schwestern Rumen kennen und sie machen sich aus dem Staub um das Land auf eigene Faust "neu" zu entdecken. Damit beginnt das (nicht chronologisch erzählende) Buch.

Die Überführung der sterblichen Überreste hat ein bisschen was von Graham Swifts "Letzte Runde"; die Hauptprotagonisten erinnern an Handkes Mauerschauer (die ruhige Schwester) und Spielverderber (die Erzählerin) und dem Einheimischen (Rumen) aus dem "Spiel vom Fragen". Die Erzählerin mäkelt bei jeder sich bietenden Gelegenheit an den Zuständen dieses Landes herum. Bulgarien sei ein verzweifeltes Land und verbaut, verpatzt, verdreckt. Das aschgraue Meer – leergefischt. Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Bulgarische Kost sei abscheulich, und zwar ohne jede Ausnahme. Die Hotels sind hässliche Großblöcke, die ihre Gäste mit rhombengemusterten Teppichboden empfangen, die wie das Aufmarschgelände zu einer monumentalen Fußpilzhölle wirken. Wenn die Erzählerin beginnt, Rumänien zu preisen, schreitet Rumen ein und verteidigt sein Land, während die Schwester (mit ihrem protestantischen Atheismus) vermeintlich teilnahmslos bleibt (die Hauptwaffe der Schwester: Sie ist nicht anwesend) und nur einmal, gegen Ende, explodiert sie; dann jedoch mit Verve (eine herrliche Szene wider Musikbeschallungen in Restaurants.

Der "Kristo-Vater"
Wir erfahren viel über die bulgarische Emigrantenszene speziell in Stuttgart und noch spezieller aus dem Umfeld der Familie der beiden Schwestern. Ihr Vater kam 1943 zum Studium nach Tübingen (Bulgarien war Verbündeter des nationalsozialistischen Deutschland), kehrte 1946 nach Bulgarien zurück, wurde dort verhaftet und zur Mitarbeit zum Geheimdienst verpflichtet (das erfährt die Erzählerin erst während der Tabakoff-Fahrt, also neununddreissig Jahre nach dem Tod des Vaters), bevor er wieder nach Deutschland (Stuttgart) ging und praktizierender Arzt wurde. Er wird als zurückhaltend, weich, später depressiv geschildert (als die Erzählerin in die Schule kommt, wurde er mehr und mehr zum Finsterling. Ein Finsterling, der die Herzen seiner Kinder verdüsterte) und nahm sich (es muss wohl in den späteren 60er Jahren gewesen sein) das Leben. Die (deutsche) Mutter hat den Tod nie verkraftet; im Gegensatz zum immer wieder erscheinenden und herbeibeschworenen Vater bleibt sie im Buch bis auf wenige Szenen seltsam schemenhaft.
Neben der bulgarienhasserischen Erzählebene, die komisch-skurril angelegt ist und manchmal nur haarscharf an (verdächtig epigonalem) bernhardschem Übertreibungsfuror vorbeischrammt (dabei gelegentlich nervt, was allerdings durchaus beabsichtigt sein könnte um dem Duktus der Erzählerin gerecht zu werden), der imposant-kuriosen Überführungsreise (Tabakoff und seine Entourage wirken wie mediokre Mafia-Paten oder deren Imitationen) und der behutsam sich entwickelnden, fast keuschen Liebesgeschichte zwischen Rumen und der Schwester (nur einmal verirrt sich eine Hand auf ein Knie) gibt es dichte Erinnerungsszenen, Ausweise unerwiderter Vaterliebe, die der Erzählerin auf dieser Reise (noch einmal? wieder?) hervorbrechen; der wahre Kern dieses Buches.

Dann zeigt sich dieses kratzbürstige, nervige Plappermaul als verletzliche Person deren Vaterhaß nur äusserlicher Schutz ist (vermutlich wird so auch der Länderhaß; auf Bulgarien erklärbar). Aus dem Vater-Kristo, anfangs kein wertvoller Vater, der da weggestorben ist sondern bloss ein alberner Bulgare wird dann plötzlich ein verblichener Held aus einer verschwommenen Geschichte und die seltenen Sonntagsausflüge werden als vollkommenes Glück evoziert.
Unser Vater war ein ausgezeichneter Lenker heisst es da (Rumen in seinem Daihatsu – ein Ersatzvater, so kommt es da dem vulgärpsychologisch verdorbenen Leser in den Sinn) und seine Kleidung entsprach der des Automobilisten der dreißiger Jahre. …Er raste nicht, fuhr weder lahm noch ruckhaft, fluchte nie. Trotzdem wurde mir jedes Mal schlecht, und es war die Aufgabe meiner Schwester, nach vorne zu melden, dass wir anhalten müssten. Wie immer saß ich auf der rechten Seite, um schnell die Tür öffnen zu können, kotzte routiniert, kehrte zurück alle waren daran gewöhnt. Danach wurde ich übermütig und kasperte mit meiner Schwester lautlos herum…Kein Wort entschlüpfte uns, ein unterdrücktes Kichern höchstens, das sofort abbrach, wenn sich unsere Mutter nach uns umdrehte. Freiwilliges Schweigen: In geeinter Stummheit rächten wir uns an den falschen Eltern, die glaubten, uns mit einer lächerlichen Gutwetteraktion davon überzeugen zu können, sie führten sich wie richtige auf. Freimütig heisst es Die grosse Liebe zu meiner Schwester rührt von diesen gemeinsamen Kämpfen her und die Resignation (Ernüchterung?) der Gegenwart überlagert dann plötzlich die Erinnerung: Aber aus meiner Schwester ist längst eine geschmeidige Erwachsene geworden, die alles nimmt, wie's kommt, und sehr im Unterschied zu mir fast alles verzeiht. (Später erfahren wir, dass sie zwei Kinder hat, denen nicht einmal die Tragik…vergönnt sei.)
Aber dieses Nicht-Verzeihen, dieses nachtragende Elefantengedächtnis ist auch schon wieder ein bisschen Pose. Es geht auch gefühlvoller, wie diese heitere Erinnerung an den Vater – ohne die Schwester (das bedeutet Verrat) -und das Bollwerk der Verschwörung bröckelt sofort: Der Vater liebte es, wenn ich ihm aus der 'Stuttgarter Zeitung' vorlas – bevor ich lesen konnte. Er amüsierte sich königlich, wenn ich würdevoll die Zeitung entfaltete und nach einem geeigneten Artikel Ausschau hielt, gluckste vor Lachen, wenn ich anfing zu lesen, spornte mich an und bedachte mich am Ende meines Vortrags mit einem zarten Kuß. So sehr genoß ich dieses Privileg, dass ich an manchen Tagen mit wenig anderem beschäftigt war, als mir auszudenken, was ich dem Vater am Abend vorlesen würde.

Tankstellenluft, Fenstersteher und Rauchkanaillen
Ein andermal fahren sie an Gärten vorbei und plötzlich die Erinnerung an den kleinen Balkon in Degerloch, der ebenfalls nach hinten in die Gärten hineinschwebte, an die Kleingärtner und Autobastler mit allerhand Gerätschaften in und neben der Garage…ein Gewurstel, wenn auch kein bulgarisches, sondern ein überlegtes, schwäbisch hartnäckiges. Und an die ausladenden Äste des Birnbaums, die mit Stützen versehen waren; sommers hing er schwer an seinen Krücken, im Winter behauptete er eisern und starr seinen Platz. Als vielarmiger Greis, der in einer drohenden Bewegung hin und her schwang und den Schnee von sich schüttelte, plötzlich rennen konnte und die Stöcke hob, geisterte er durch meine Träume. Und gegenüber die riesige Tanne, die im Sturm rauschte, als unterhalte sie sich mit ihren Schwestern im Schwarzwald. Der Vater starb mit 43 (die Erzählerin war da im Teenageralter); der Birnbaum als vielarmiger Greis - Widerschein für den so innig vermissten Vater?
Epiphanien, auch (oder gerade?) beim einem düsteren Stilleben mit der Mutter, der alkoholisierten Rauchkanaille (wobei Rauchkanaille durchaus ehrenvoll gemeint sein soll, aber wie nennt man einen Menschen, der 80 Zigaretten am Tag raucht?). Die Mutter, kurz vor ihrem Tod (das war 2001), wie sie Nacht für Nacht am hohen, erleuchteten Fenster über das zerstückelte Degerloch schaut…Blutwolken über den Dächern von Degerloch. Kalter Beton der achtziger Jahre. Ein harter Mond über den Neonleuchten. Tankstellenluft. Kleingehäuseltes. Nachbarn erzählten, sie habe regungslos am Fenster gestanden, ewig lang, wenn das Bild auftaucht, packt's mich. Unser Vater war nämlich auch so ein entsetzlicher Fenstersteher gewesen Hals tief im Nacken versenkt, worttaub, womit er die Gastgeber verstörte. Das sind Bilder, die sich wie Säure ins Hirn fressen, so spricht sie, die Erzählerin, ein bisschen schnodderig und versucht damit, das Pathos der Wieder-Holung, die Melancholie, zu verscheuchen.
Was auch oft genug (zu oft?) gelingt, etwa wenn dieser überschäumende Mitteilungsdrang in halluzinatorische Wachträume übergeht. Oder sich auf einem Detail eine riesige Theorie entwickelt (eine, wie behauptet wird, landestypische Eigenschaft) oder kräftig der bulgarische[n] Neigung, Gerüchten Glauben zu schenken gefrönt wird (etwa wenn es heisst, der Vater sei – wahlweise - vom Geheimdienst ermordet oder von seiner deutschen Frau vergiftet worden) und diese mit kindlicher Lust weiterphantasiert werden. Wundersüchtige Neigungen attestiert die Erzählerin sich selbst und stellenweise bewundert man die Geduld der beiden Mitreisenden (und der Leser wird im Laufe des Buches entweder zum Komplizen - oder zum Gegner).

Aber manchmal gelingen eben wunderbare Beschreibungen, etwa von Pflanzenkübel[n], aus denen es mit einer Verzweiflung blüht, den zufallenden Schlafhäuten (Augenlider), den Genicken mit denen die drei müde über den Tellern [hängen] oder dem Ärger, der bei der Schwester an ihren verschlierten Herzkammern…schmaust. Beim Besuch bei Rumens Schulfreund, dem Mafioso Saschko und seiner exaltierten Frau, gibt es herrliche Darstellungen balkanesisch-protzigen Einrichtungskitsches, wobei die niederschmetterndste (und treffendste) Wahrnehmung aus der profanen Feststellung Nirgendwo ein Buch besteht. Die Schwestern wollen fliehen, während Rumen im riesigen Pool noch eine Runde plantscht.

Diskrepanzen
Das assoziative, ausholende, teilweise phantasmagorische Erzählen verlangt den geduldigen und vor allem aufmerksamen Leser. Ein, zwei Sätze zu schnell oder unkonzentriert gelesen – und schon ist man plötzlich raus aus der Geschichte, dem Gedanken, dem Traum. Womit gesagt sein soll, dass Lewitscharoff eine präzise und genaue Stilistin ist. Nur äusserst selten geht ihr der Erzählgaul durch und ihre Protagonistin verheddert sich ihren Assoziationsketten. Das sie die Erzählperspektive nie wechselt, kann man bedauern, ihr aber nicht vorwerfen. So bleibt dieses Buch zwar einerseits monoperspektivisch, andererseits jedoch verwässert Lewitscharoff dadurch nicht die Eindrücke, weil der Leser auf eine Erzählerin fixiert bleibt und nicht auf andere "Meinungen" ausweichen kann.
Dennoch: "Apostoloff" lässt den Leser am Ende eher ratlos zurück. Einige biografische Parallelen könnten den Schluss nahelegen, in der Erzählerin das Alter Ego von Sibylle Lewitscharoff zu erkennen. Man könnte es als "Abrechnung" oder späten Emanzipationsversuch von den Eltern deuten. Vielleicht ist es so – vielleicht auch nicht. Für die (literarische) Annäherung ist das allerdings (zunächst) ziemlich uninteressant. Mit autobiografischen Ausdeutungen banalisieren einige Rezensenten die eigentliche Auseinandersetzung mit dem vorliegenden "Stück Literatur". Man transferiert das Geschriebene einfach auf den Autor und klopft es mit dessen Biographie ab. Statt Literaturkritik wird dem Leser eine Art Konformitäts-Memory unter dem Schlagwort der "Authentizität" untergejubelt.

Die geheimnisvollste Figur im Buch ist die Schwester mit ihrem provozierenden Gesundheitsweiß, und dem merkwürdigen Gang, dieser gewisse[n] elastische[n] Art (einmal kokett mit der Linken, ohne sich umzudrehen wedelnd). Rumen und sie dürften ein Paar werden und die Erzählerin kehrt wieder zurück nach Stuttgart.
Die Figur der Ich-Erzählerin, mit der das Buch letztlich steht und fällt, bleibt ambivalent. Vielleicht riskiert Sibylle Lewitscharoff zu wenig: Zu geschliffen und zu "sauber" wirkt dieses Buch. Die Figur bleibt zwischen der magischen Traum- und Evokationswelt ihrer Kindheit und dem Realismus der schmutzigen bulgarischen Strände und hässlichen Hotels in der Schwebe.

Wenn diese Erzählerin schon ungeduldig, akribisch detailversessen und assoziativ daherkommt, warum wirkt sie nur wie ein Wildfang? Einerseits kritisiert sie klug und wortgewandt alles und jeden – andererseits gibt sie sich mit der Lektüre von Martin Amis zufrieden. Einerseits muss sie über fünfzig Jahre sein - andererseits hat man manchmal das Gefühl, einem bockigen Teenager zuzuhören. Wo bleibt das Doppelbödige, das Abgründige (das Diabolische)? Nicht, dass es gänzlich inexistent sei; alle Hauptfiguren besitzen durchaus Anlagen zum Tiefgang.

Etwa wenn sie von ihrer Drecksmigräne erzählt, dieser Theaterkrankheit und dann kommt das Gespräch auf das Mitleid, die Frage Je Mitleid gehabt? Ich höre und es bricht aus ihr heraus: Keines. Mit der sterbenden Mutter nicht, mit überhaupt nie einem Menschen, höchstens mit verwahrlosten Straßenkötern und struppigen Katzen… Beeindruckend (auch wie es weitergeht), aber wäre ein solcher Mensch nicht widersprüchlicher, unbeugsamer, sperriger, asozialer als die hier präsentierte Figur, die dann doch zu oft nur als possierlich-skurrile Aussenseiterin daherkommt?
Die Suchenden, die wirklich Ungeduldigen, die an der Fülle des Augenblicks nicht nur verzweifeln, sondern immer noch neugieriger werden – diese Figuren der vollkommenen Hingabe an der Welt (oder gegen die Welt – je nach Lage und Laune) gibt es - auch und gerade in der Literatur. Sibylle Lewitscharoffs namenlose Erzählerin ist es nur teilweise, daher ergreift sie den Leser zu selten, sondern fokussiert sich (leider) zu sehr auf das vordergründige Amüsement. Gregor Keuschnig

Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

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Sibylle Lewitscharoff
Apostoloff

Roman
Suhrkamp
245 Seiten, Gebunden
Euro 19,80 [D] / Euro 20,40 [A] / sFr 34.30
ISBN 978-3-518-42061-4


 


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