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Vatermord auf Bulgarisch
Eine Reise zweier Schwestern nach Bulgarien wird zur Abrechnung
mit dem Vater und seiner Heimat. Selten wurden einem Land derart die Leviten
gelesen, wie Bulgarien in Sybille Lewitscharoffs »Apostoloff« Als es im Jahr 2005 um die Aufnahme der neuen osteuropäischen Staaten in die Europäische Union ging, da war die Aufregung groß. Billigarbeiter, Demokratiedefizit, fehlende politische und legislative Kultur und vieles mehr wurde den osteuropäischen Staaten vorgehalten. Um die Euro-Tauglichkeit von zwei Staaten wurde besonders erbittert diskutiert: Rumänien und Bulgarien. Die ,Armenhäuser von Europa' wurden erst 2007 in die Union aufgenommen, da die EU die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in beiden Ländern anzweifelte. In der liberalen Schweiz wurde jüngst gar ein Volksbegehren initiiert, das die Ausweitung der Personenfreizügigkeit, die für die Bewohner aller EU-Staaten in der Schweiz gilt, auf Bulgaren und Rumänen verhindern sollte. Ist die Angst vor den Bulgaren und Rumänien irrational oder berechtigt? Um diese Frage zu klären, scheint ein Reiseroman aus Bulgarien gerade recht zu kommen - zumal wenn seine Autorin bulgarischer Herkunft ist. Sibylle Lewitscharoffs "Apostoloff" kommt als ein solcher Reiseroman daher, ist aber viel mehr als das. "Apostoloff" ist zugleich das Psychogramm einer Familie, einer Gesellschaft, einer Zeit. Zwei Schwestern bereisen die Heimat ihres nach Deutschland emigrierten Vaters. Jedoch nicht einfach so, aus Interesse oder Neugier, sondern aus einem spontanen Reflex nach einem erledigten Pflichtprogramm. Der bulgarische Millionär Tabakoff hat sie dafür bezahlt, dass sie die sterblichen Überreste des Vaters gemeinsam mit den Gebeinen einiger Mitglieder der bulgarischen Exilgemeinde in Stuttgart-Degerloch nach Sofia überführen. Diesen Ausflug nutzen beide Schwestern sogleich für eine Rundreise durch Bulgarien. Während die jüngere Schwester unablässig von der Rückbank wettert, macht die andere dem Reiseführer schöne Augen. Die Reise nach und durch die väterliche Heimat wird zu einer Tour de force durch die euro-bulgarische Historie und einer Abrechnung mit der Vaterfigur. Auch dessen Immigrantenkultur, die spezielle Mischung aus bulgarisch sein und schwäbisch sein wollen, und der spießige Provinzmief Stuttgarts bekommen ordentlich ihr Fett weg. Sybille Lewitscharoff kennt das Leben am endlosen Übergang, dieses Schweben in den multikulturellen Aggregatzuständen nur zu gut. In der Personenkonstellation des Romans spiegelt sich die Familie der Autorin nahezu im 1:1-Format. Als Tochter eines nach Stuttgart ausgewanderten bulgarischen Arztes und einer schwäbischen Mutter spricht sie wie ihre Hauptperson kein Wort bulgarisch. Aufgewachsen im Schoß der deutsch-bulgarischen Gemeinde Stuttgarts geht sie zum Studium nach Berlin, Paris und Buenos Aires. Sofia kam nicht infrage. Erst ein Stipendium der in Osteuropa vielfältig engagierten Robert-Bosch-Stiftung veranlasste sie, eine Geschichte über ihre bulgarischen Wurzeln zu schreiben. "Apostoloff" ist jedoch kein bulgarischer Werbeprospekt, sondern eine Abrechnung mit den bulgarischen Verhältnissen sondergleichen. Diese werden als eine absurd hässliche Mischung aus stalinistischer Architektur, zivilisatorischer Unkultur und politischer sowie sozialer Unart beschrieben: "Verbaut, verpatzt, verdreckt. Das aschgraue Meer - leergefischt. Das bulgarische Essen? Ein in schlechtem Öl ersoffener Matsch. Der Fisch ein verkokelter Witzfisch. Bulgarische Kunst im zwanzigsten Jahrhundert? Abscheulich, und zwar ohne jede Ausnahme. Die Architektur sofern nicht Klöster, Moscheen oder Handelshäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert? Ein Verbrechen." Durch dieses verbaute, verpatzte und verdreckte Land werden die beiden Schwestern in Lewitscharoffs Roman kutschiert - von Rumen Apostoloff. "Als uns ergebener Nervösling fährt er durch sein verzweifeltes Land, das bei Nacht noch viel verzweifelter ist". Apostoloff versucht, den verbitterten Töchtern die bulgarischen Juwelen zu präsentieren, doch selbst das Schwarze Meer wird von der Erzählerin zur giftigen Müllhalde stilisiert: "Plastikflaschen liegen herum, Gummiteile, Kinderschaufeln, Sandalen, gestrandete Quallen, eine verendete Möwe mit sandverkrustetem Kopf." Vergeblich "süßholzt und baedekert" Apostoloff über seine vom Kommunismus geprägte Heimat. Einzig bei der älteren Schwester scheint er mit seinem Bemühen einen positiven Eindruck hinterlassen zu können, denn gen Ende der gemeinsamen Reise stellt die Erzählerin ein "sanftes Leiden" in den Augen ihrer Mitfahrer fest. Über allem schwebt die Verbitterung der Töchter über "dieses Aas von Vater", der sich mit einem feigen Suizid aus ihrem Leben und seiner Verantwortung gestohlen hat - warum weiß keiner so genau. Seither behelligt er seine Töchter ungebeten im Schlaf, durch den er wie ein Schaf schleicht und seinen Galgenstrick hinter sich herzieht. Dass die so provozierte Schlaflosigkeit die Erzählerin in einem mafiotisch geprägten Bulgarien zu Zynismus und Aggressivität neigen lassen, verwundert kaum. Und so brennt während des ganzen Romans über dem Bulgarienbild (das eigentlich das Vaterbild ist) "das liebe, treue Familienhasslicht" der jüngeren Schwester. In jeder Suppe findet sie ein Haar, ganze Heerscharen von Läusen laufen über ihre, natürlich völlig alkoholfreie Leber und keinen Stein lässt sie auf dem anderen. Lewitscharoffs Erzählerin treibt dieses Bulgarienbashing derart auf die Spitze, dass absurder Weise ausgerechnet das nicht minder darniederliegende Nachbarland Rumänien als positiver Kontrapunkt dargestellt wird. Dies entlockt beim Leser allenthalben ein müdes Kopfschütteln, ebenso wie die ab und an auftauchenden saloppen und schwäbelnden Satzwendungen und - teilweise als Inflektiv verwendeten - Wortwiederholungen (Jaja, Neinnein, Wuselwusel). Lewitscharoffs anspruchsvoller Text wird derart unnötig verflacht. Zugleich aber beweist die Ingeborg-Bachmann- (1998) und Marie-Luise-Kaschnitz-Preisträgerin (2008) einmal mehr, warum ihre Bücher so große Erfolge haben ("Apostoloff" wurde von der Jury für den Leipziger Buchmessepreis nominiert). Wie sie die innere Psychologie ihrer Personen mit dem bulgarischen und dem paneuropäischen Schicksal verbindet, von den Untiefen der inneren Not spielerisch zu den Abgründen der bulgarischen Politik wechselt, ist grandios. Nüchterne Reisebilder, philosophische Anspielungen und Auszüge aus Martin Amis historisch-philosophischer Diktatorenstudie "Koba der Schreckliche" reihen sich intelligent aneinander und lassen unter dem meckernden Gebrabbel der Erzählerin einen klugen Subtext über das Mehr und das Weniger des Bulgarischen im Europäischen und des Europäischen im Bulgarischen entstehen. Zwischen Gebrabbel und Philosophie geht allerdings die Bindung zum Leser etwas verloren. Ein "Sich identifizieren können" mit der Erzählerin will einfach nicht eintreten und lässt den Roman am Leser vorbeigleiten, wie die Welt an einem fahrenden Zug, die den Reisenden zuweilen erschrecken, aber dennoch nicht erschüttern kann - schließlich sitzt er ja im schützenden Bauch des Waggons.
Mit "Apostoloff" ist
Sibylle Lewitscharoff ein osteuropäisches Road-Movie gelungen, von einem
abwesenden Vater und seinen Töchtern, der verschworenen Gemeinschaft der
schwäbischen Bulgaren in Stuttgart-Degerloch und einem Land am Boden am Rande
der europäischen Gemeinschaft erzählt. Im Mittelpunkt steht dabei die Angst der
Töchter vor der Auseinandersetzung mit der Bedrohung des Vatertods, der durch
das permanente offensichtliche und unterschwellige Thematisieren auf Distanz
gehalten und lächerlich gemacht wird. Doch seine Bedrohung bleibt, wie der Satz
deutlich macht, mit dem Lewitscharoff ihren Roman und die Erzählerin ihre
Vaterbewältigung beendet: "Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten,
denke ich, nur ein gutmütig gepflegter Haß." |
Sibylle
Lewitscharoff |
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