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Heimsuchung

Ein ungarischer Minister trifft eine verhängnisvolle Entscheidung. Doch statt selbst Herr über das Schicksal seines Volkes zu werden, wird er zum Opfer des eigenen. Sándor Márai’s Roman »Die Möwe« erzählt einfühlsam von den inneren Zerrissenheiten eines Lebens.

Wer kennt sie nicht, diese Situation, einem unbekannten Menschen zu begegnen, der einer vertrauten Person auf geradezu unheimliche Art und Weise ähnlich sieht? Wenn sich die Natur einen Scherz erlaubt und Gesichtszüge geradezu deckungsgleich entwirft? Die Situation des Luftholens, um dann doch nicht die alles auflösende Frage »Bist Du’s?« zu stellen. Diejenigen, die diese Situationen erleben, bleiben meist zweifelnd zurück. War alles Illusion oder Wirklichkeit? Einen solchen Moment erlebt ein ungarischer Minister in »Die Möwe«, der jüngsten Wiederentdeckung aus dem Oeuvre des großen Romanciers Sándor Márai, als die junge Lehrerin Aino Laine sein Büro betritt. Sie erinnert ihn an seine große Liebe Ilona, die sich mit der Blausäure aus der Apotheke ihres Vaters das Leben genommen hat. Die junge Finnin in seinem Büro erscheint ihm wie eine Reinkarnation, wie eine schicksalhafte Rückkehr der toten Geliebten. Kann eine fremde Frau der bis ins kleinste Detail Vertrauten derart ähnlich sein, ohne in einer Verbindung mit ihr zu stehen? Oder ist es gar die verloren Geglaubte, die Einzige unter den Einen?

Aino Laine floh aus ihrem Heimatland, als die finnische Regierung einen Kooperationsvertrag mit Nazideutschland gegen die sowjetische Großmacht schloss. Seither reist sie, getrieben von den Europa erobernden Nazis, durch die europäischen Metropolen und gelangt nach Budapest. Um dort zu arbeiten, benötigt sie jedoch eine Genehmigung, die sie sich von Minister Rat erhofft. Dieser gerät ob der visuellen Verwandtschaft mit seiner Ex-Geliebten innerlich in Unruhe und lädt die junge Lehrerin für den Abend in die Oper ein. Die anschließende Nacht gehört allein dem Dialog zwischen dem schicksalsergebenen Minister und der jungen Finnin. »Die Möwe« ist – wie schon Márai’s wiederentdeckter Bestseller »Die Glut« – das Dokument eines intensiven Gedankenaustausches zweier Menschen, die sich zwar vertraut fühlen, zwischen denen objektiv aber Welten stehen. Seit der Wiederauflage von »Die Glut« erlebt der Romancier eine wahre Renaissance. Eine Vielzahl seiner Romane, Aufzeichnungen und essayistischen Betrachtungen wurde seitdem neu aufgelegt und erfreut sich einer begeisterten Leserschaft.

Sándor Grosschmid de Mára wurde am 14. April 1900 im damals zu Österreich-Ungarn gehörenden Kaschau (heutiges Košice in der Slowakei) geboren. Sein Studium begann er in Budapest, wo ihn jedoch schon bald das Gefühl beschlich, vor seinen Augen „falle alles auseinander.« Er wechselte 1919 an die Universität in Leipzig, später nach Frankfurt am Main und Berlin, bevor er als Korrespondent der Frankfurter Zeitung 1923 nach Paris ging. 1928 sah er sich aus finanziellen Gründen jedoch gezwungen, zurück nach Ungarn zu gehen. Er arbeitete in Budapest als Journalist und seine schaffensreichste Zeit als Autor und Publizist begann. Konfrontiert mit dem wirtschaftlichen Niedergang und den antiliberalen, nationalistischen Tendenzen unter dem ungarischen Reichsverweser Miklós Horthy entstanden in den 1930er Jahren vor allem seine essayistischen zeit- und gesellschaftskritischen Werke wie »Die Schule der Armen« oder der autobiographisch geprägte Roman »Bekenntnisse eines Bürgers«. Auch in »Die Möwe« findet sich die Enttäuschung des Romanciers über den gesellschaftlichen und moralischen Verfall wieder, den er im Europa der 1930er Jahre beobachtete. Es ist der Massenmensch – »diese sprießende, wuchernde Unpersönlichkeit, die über alles »ihre Meinung« hat und von nichts wirklich eine Ahnung« – der Europa in das Elend des alles zerstörenden Krieges stürzte und der dem ungarischen Minister in Budapest an jeder Straßenecke begegnet.

Es ist der erbitterte Kampf dieser Zeit, zwischen der nationalsozialistisch-faschistischen und der marxistisch-kommunistischen Weltsicht, der den historischen Hintergrund von »Die Möwe« bildet. Eine Notiz in seinen Tagebüchern lässt darauf schließen, dass dieser zugrunde liegende Ideologiekonflikt ausschlaggebend für den Titel des Werkes war: Ich hatte eine »Möwe beobachtet, die regungslos in der Höhe stehend das Ufer abspähte … nach vorne sieht sie nicht, den Horizont kennt sie nur in der Perspektive der rechten und der linken Hemisphäre. Ähnlich wie ein Ideologe, der die menschliche Welt allein aus rechter oder linker Sicht kennt. Doch man kann auch gerade sehen, … dazu braucht man eine Stirn und in ihr Augen.« Márai hatte diese Augen, diesen aufgeweckten Beobachtungssinn der ihn davor bewahrte, den leeren Versprechungen der Ideologen zu erliegen. Er bewahrte sich stets seinen kritischen Geist – in alle ideologischen Himmelsrichtungen.

Diese ideologiekritische Haltung ist nicht zuletzt auch Resultat des eigenen Aufreibens zwischen den Weltanschauungen. Sándor Márai war sowohl Verfolgter des ungarischen Naziregimes der Pfeilkreuzler als auch Staatsfeind der ungarischen Kommunisten. Seit 1941 führte Ungarn Krieg an der Seite Deutschlands. Márai, dessen Frau Lola Jüdin war, ging in den Untergrund und veröffentlichte aus diesem sein heute bekanntestes Werk – »Die Glut«. Von den Kritikern des kommunistischen Ungarn wurden seine Werke mit geradezu vernichtenden Kommentaren bedacht, die Bücher wurden verboten. Über die Schweiz und Italien wanderte Márai schließlich in die USA aus und wurde gezwungener Maßen ein wahrer Exilschriftsteller. Sein Leben im Exil brachte ihn dem Ungarischen nur noch näher, denn Schreiben bzw. vielmehr Schöpfen sei nur in der Muttersprache möglich, offenbarte Márai seinen Tagebüchern. Welch Sprachvirtuose Sándor Márai war, zeigt sich auch in der neuesten Veröffentlichung eines seiner Werke. Dass er in »Die Möwe« mittels der Personenkonstellation die finno-ugrische Sprachfamilie aufleben lässt, gerät fast schon zur Petitesse, einer kulturellen Randbemerkung. Viel deutlicher zeigt sich sein Sprachgefühl in der Namensbedeutung der jungen Finnin und deren Verbindung zu Minister Rat’s Reinkarnationsillusion. Aino Laine bedeutet »Einzige Welle«, kein Zufall in einem Roman, in dem die Einzige verloren geglaubt ist und einer Welle gleich wiedergebracht wird. Auch »Die Möwe« ist geprägt von einer dichten, intensiven und eindringlichen Sprache, die Márais Werke so unverwechselbar identisch und authentisch machen.

Heimat war für Márai jedoch weniger ein Ort, als vielmehr ein Gefühl der Verbundenheit und des Rückhalts. Den Rückhalt bot ihm seine Familie. Als seine Frau Lola 1986 ihrem Krebsleiden erliegt und nur ein Jahr später auch sein Adoptivsohn János verstirbt, verliert der Ungar die Lust am Leben. »Eines Tages erwacht man und reibt sich die Augen: Man weiß nicht, wozu man erwacht ist. … Nicht einmal das Unerwartete, Ungewohnte, Schreckliche überrascht einen, weil man alle Wechselfälle kennt, mit allem rechnet, nichts mehr will, weder Gutes noch Schlechtes«, gesteht der lebensmüde General Henrik seinem Jugendfreund Konrád in „Die Glut«. Eine ähnliche Überdrüssigkeit am Leben überkam Márai nach dem Tod seiner Liebsten. Er erschoss sich am 22. Februar 1989.

Der ungarische Schriftsteller lässt den Leser in »Die Möwe« in die Gedankenwelt eines Ministers eintauchen, der, statt Herr über das Schicksal von Millionen zu sein, zum Spielball des eigenen Schicksals wird und mit diesem hadert. Vor dem Auge des Lesers entsteht ein intellektuelles, monologisches Ringen um das Rätsel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die große Frage dabei ist: Wie viel ist die Gegenwart noch wert, wenn Sie in der Vergangenheit versinkt und damit einem melancholischen Trauerspiel, das in Vergessen münden muss, anheim gegeben ist? Es ist die einzig wahre Frage nach dem Sinn des Lebens. Ein solches Leben wird dann zum bedauernswerten Jux, zum Treppenwitz des eigenen Schicksals, wenn ein solches Leben verdammt ist, im Schatten der Ereignisse zu verbleiben, wie es in »Die Möwe« der Fall ist. Man möchte Márais ganz in Melancholie versunkenen Minister im besten Nietzsch’en Sinne »Amor fati! – Liebe Dein Schicksal!« zurufen. Denn selbst wenn das Leben keine unbändige Freude sein mag, so ist es doch auch eine Chance. Der Minister lässt sie verstreichen, im Namen einer unsichtbaren, alles steuernden Hand, die auch schon das Leben und die Sehnsucht der zwei gealterten Jugendfreunde in »Die Glut« bestimmt hatte. Im Namen der Hand einer Toten. Thomas Hummitzsch
 

Sándor Márai
Die Möwe
Aus dem Ungarischen von Christina Kunze
Piper-Verlag. München 2008.
245 Seiten
16,90 €.
ISBN 3492052088

 

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