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Die
Stadt der wilden Hunde
Sigrid Lüdke-Haertel über
Martin Mosebachs
»Nachrichten aus dem alltäglichen Indien«
Auch für einen
Frankfurter ist es schön, mal rauszukommen aus der Stadt. Nur wissen wir,
und zwar von dem gottesfürchtigen Denker Blaise Pascal, woher alles Unglück
der Menschen rührt, aus dem Umstand nämlich, daß sie nicht zu Hause bleiben
können.
Martin Mosebach, ein echter Frankfurter Schriftsteller, letztes Jahr mit dem
Büchner-Preis ausgezeichnet, ist dennoch sehr häufig auf Achse. Worüber er
schreibt, das kennt er, aus eigener Anschauung.
Gut zwei Jahre nach »Das Beben«, einem großen, auch umfangreichen
Indien-Roman, und nicht einmal ein Jahr nach seinem prächtigen Erfolgsbuch
»Der Mond und das Mädchen« hat unser Autor jetzt schon wieder ein neues Buch
vorgelegt. Es sind, wie der Untertitel sagt, »Nachrichten aus dem
alltäglichen Indien«. Der Mann ist also unzweifelhaft fleißig und auch, wie
wir aus seinen Bekundungen wissen, noch gläubig dazu. Eine gute Mischung,
vielleicht sogar ein Mittel, das Unglück, von dem Pascal sprach, zu
vermeiden.
Mosebach war
jedenfalls viele Monate Gast einer indischen Familie in der unvorstellbar
staubigen Provinzhauptstadt Bikaner in der Provinz Rajastan am Rand der
Wüste, in einer anderen und in jeder Hinsicht fremden Welt. Schon in der
ersten Geschichte »Der stinkende Gürtel« beschreibt er nicht nur das für uns
Europäer so unterschiedliche Leben in Kasten, das das gesamte Leben in
Indien bestimmt, sondern scheinbar ganz banal seine Suche nach einem Gürtel.
Sein alter, geliebter Ledergürtel, 1977 in Venedig (!) gekauft, zollt seinem
Alter Tribut und beginnt sich aufzulösen. Der Besitzer des Gürtels glaubt
sich »zum Glück« in Indien, »dem Land der ungebrochenen Handwerkstradition«.
Hier, glaubt er fälschlicherweise, wird er ja wohl mühelos einen Sattler
finden. Weit gefehlt. Schon die Frage nach Leder war »heikel«. Nach
Rindsleder im Land der heiligen Kühe zu fragen, war ohnehin ein Unding.
Überhaupt: »Um Leder zu haben, mußte man ein Tier töten, Leder hing also mit
Blut vergießen zusammen«. Der Gastgeber, ein akademischer Bourgeois, wurde
um Rat gebeten. Hin- und hergerissen zwischen Gastfreundschaft und
religiösem Gebot, zog sich der Inder grandios aus der Affäre. In einem
Geschäft, das Baumwollstoffe herstellt, wurde in einem Hinterzimmer der neue
Gürtel gemacht, zwar kein brauner, sondern ein schwarzer, auch kein
lederner, sondern eine Art Gummigürtel, aus einem Autoreifen gefertigt. Der
Gastgeber, um weiteren Problemen aus dem Weg zu gehen, aber auch seinen Gast
nicht zu düpieren, sprach konsequent von einem »Ledergürtel«. (Das Einzige
was an einen solchen erinnerte, war die alte Schnalle.) Aber ein Mosebach
gibt so schnell nicht klein bei. Er machte sich selbst auf die Suche. In
einem Randgebiet von Bikaner, einer Gegend »über das man nicht spricht«, bei
Menschen, »die man nicht berührt«, bekommt er, was er begehrt – einen Gürtel
aus Kamelleder, der allerdings ein anderes Problem mit sich brachte. Dieser
Gürtel, der »die Geruchskraft eines ganzen Kamels« bewahrt hatte, sollte zum
Zweck der Geruchseindämmung einige Zeit in einem Beutel mit Öl aufbewahrt
werden. Als unser Autor, zurück in der Heimat, den sorgfältig verpackten
Gürtel auspackt, »platzte eine Stinkbombe«. Ihm war, als säße er »bei einer
Leiche, die sich in die Hosen gemacht hat.«
Bikaner, so groß wie Leipzig, aber fernab von überall, bietet viele solche
Eindrücke. Unterwegs in der nächtlichen Stadt sieht er »etwas schwärzlich
über die Straßen hoppeln« - Ratten. Diese klugen Tiere kennen sich aus. Sie
wissen »genau, daß sie nichts zu fürchten haben«. Denn: »Niemand käme auf
den Einfall, eine Ratte zu töten«: das Reittier einer Gottheit. Sie werden
vielmehr zu Hunderten in einem Tempel verehrt. Man füttert sie mit süßen
Kuchen und fettiger Milch. Mosebach empfindet zunächst Ekel. Nachdem er den
ersten Schock überwunden hat, fühlt er eine Art Befreiung: »Endlich hatte
ich ein Heiligtum mit jenem Schauer und jener Beklommenheit betreten, die
einem solchen Besuch angemessen« sind. Egal, in welcher Gestalt das Heilige
auch auftritt, er zeigt sich fasziniert.
Heilige Kühe an der Flughafenausfahrt, kein Mensch darf sie verscheuchen.
Ratten als göttliche Reittiere. Dazwischen gläubige Hindus mit Handys.
Computer-Experten, die im Nachthemd auf der Straße gehen. Ein unglaublicher
Glaube. Akademisch ausgebildete Frauen fasten für das Wohlergehen ihrer
Männer, in einer Form freilich, die westlichen Beobachtern eher als
Schlemmen erscheint. Gleichwohl berührt die politisch engagierte,
selbständige und gut ausgebildete Dame am Abend die Füße ihres Mannes.
Mosebach, in das Haus eines Schriftstellers eingeladen, muß warten, bis ihn
der Dichter endlich vorläßt, um dann zu erklären, er habe eigentlich keine
Zeit für ihn. Das braucht man unserem Büchner-Preisträger nicht zweimal zu
sagen. Er werde sofort gehen, bitte um seine Schuhe. Das will der
Schriftsteller auch wieder nicht, zumindest nicht, bevor der Gast ein Urteil
über sein Buch abgegeben hat. Mosebach antwortet ironisch, das Buch »gehöre
auf den Nachttisch eines jeden jungen Menschen in Indien«. Sofort wird ein
Diener gerufen, um dieses Lob aufzuschreiben. Am nächsten Tag konnte man es
wortwörtlich in der Zeitung lesen.
Mosebach geht mit offenen Augen durch die Gegend. Er sieht viel. Und
versteht viel. Das befähigt ihn, das Gesehene einzuordnen und zu deuten.
Aber den Wunsch einer deutschen Reporterin, ihren Hörern in Deutschland mit
wenigen Worten Indien zu beschreiben, kann er nicht erfüllen. Der Versuch,
alles Erlebte in eine Antwort hineinzupacken, verursacht in ihm einen
»intellektuellen Kollaps«. Über Indien, spürt er sofort, kann man nicht kurz
sprechen. Ein Land, das über 7oo.ooo Computerspezialisten verfügt, ein Land,
in dem fast überall ganztags der Fernseher läuft, Plastikdeckchen auf den
Allerweltsmöbeln liegen, auf wunderschönen Teichen, an denen Büffel trinken,
nicht nur herrliche Seerosen, sondern auch massenhaft Plastiktüten schwimmen
und ein verdorbener Geruch über allem treibt, ein solches Land läßt sich,
zum Glück, nicht unter einen Hut bringen. Die Mythologien ›leben‹, das
Kastenwesen bleibt bestehen, die Moderne ist eingezogen, und immer noch
werden die Bergzüge als Offenbarung verstanden. Das Land ist ein großes
Abenteuer, der lebendige Widerspruch. Und vieles davon findet sich in der
»Stadt der wilden Hunde«. Sigrid Lüdke-Haertel
|
Martin Mosebach
Die Stadt der wilden Hunde
Nachrichten aus dem alltäglichen Indien.
Hanser Verlag
172 Seiten
16,90 Euro
Leseprobe |