Peter Brinkemper über Olivier Bouillères Erzählung »retro«
Olivier Bouillère hat mit "retro", den ersten kleinen fiktiv-autobiographischen
Roman des Missbrauchs, eine Erzählschleife des Unerzählbaren geschaffen, den
Wimpernschlag eines Einblicks in den komplexen Schicksalskanal eines Tabus, das
derzeit überbelichtet, aber recht eindimensional in den Medien anlässlich der
massenhaft aufgedeckten Fälle in der Familie oder in konservativen (Kirche) und
progressiven (Internate) Institutionen diskutiert wird. Bouillères
strukturalistische Herangehensweise hat den Vorteil, die einschneidende
Erinnerung an den Vorgang selbst nicht in falscher naturalistischer
Betroffenheit darzustellen. Also nicht als larmoyantes So-Ist-Es.
Hier ist es eine fiktive Zeitreise eines halbherzig Erwachsenen und
Herangereiften, der zurück in die 70er Jahre der Amanda Lear (selbst von ihrem
Agenten einkaserniert) und in seinen ehemals jungen Körper und in die Metaphern
und Bildercluster seiner einstmals vielleicht naiveren Erlebenswelt "klettert".
Dem Autor gelingt der Bruch der Darstellung und der Entzug der
Darstellbarkeit schlechthin als Erforschung der selbst mitinszenierten
Nachfälschung einer temporalen und emotionalen Dekonstruktivon des eigenen
Ichs. Prousts Erinnerungsrituale, Batailles Überschreitungsprozesse und De Sades
klaustrophobische Einschließungen stehen Pate bei der fortschreitend
irrealisierten, geradezu Kafkaesk problematisieren Reise in die verlorene,
vielleicht niemals wirklich erlebte Unschuld, einer entwirklichten
Phänomenologie einer so oder so entschwindenden und entfremdeten Kindheit, in
der sich Sensibilität und Stumpfheit, Abenteuerlust und Sehnsucht, Angst und
Verlangen, Dummheit und Verschlagenheit, Verführbarkeit und Freiheitsdrang in
erotischen Spielen jenseits von Reinheit und Nichtwissen manifestieren, unter
der sanften oder heftigen Kontrolle von erwachsener Integrität oder neidvoll
oder berechnend eingreifenden Lüsternheit auf das Kindsein und Jungsein.
Bouillère malt das Szenario der beginnenden Abstumpfung, Gefühlsarmut und
Indifferenz aus, er schafft so ein spekulatives Gegengewicht gegen die
Ungeheuerlichkeit der oft plakativ aufbereiteten Medienerzählungen von
Missbrauch, Vergewaltigung und Pädophilie, ohne den entscheidenden Tatsachen der
ideologischen Verdammung oder Schönfärberei und der klaren physischen und
seelischen Freiheitsberaubung das Gewicht zu nehmen. Der vorrangige Tonfall des
Romans ist der einer eigentümlich experimentellen alptraumartigen Selbstaufgabe
und Selbstberaubung, die anscheinend zum Sympton missbräuchlicher Situationen
als durchgängigem Symptom der Unterwerfung unter die angeblich aufgeklärte und
angeblich schützende oder wohl versorgende westliche Zivilisation und ihre die
Intimität verwaltenden oder delegierenden Institutionen zu gehören scheint.
Perversion durchweht die Zivilität. An vielen Stellen spricht der Kommissar, der
aus dem Probanden doch einen wiederum vielfach missbrauchbaren,
höchst nützlichen Lockvogel macht: "Er kneift mir die Nase: 'Herr Lügenkoenig.'
Er sagt: 'Als ich wusste, dass es heute Abend passieren würde, bin ich so
schnell wie möglich gekommen. Ich dachte, ich würde dich im Palace erwischen,
aber du hast es geschafft zu verschwinden.'" Freiwillige Übernahme der
Verantwortung für den Gesamtvorgang und das Verschwinden in der Unsichtbarkeit -
das sind die Pole, zwischen denen sich das keineswegs nur als Opfer verstehende
Subjekt in der Geschichte Bouillères bewegt.
Olivier Bouillère retro
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Mathhes & Seitz Berlin
191 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-88221-529-8
€ 19,90
Interview mit Olivier Bouillère
Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und
Zeitkritik