Glanz
&
Elend
Magazin für Literatur und Zeitkritik
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Die menschliche
Komödie
als work in progress
Zum 5-jährigen Bestehen
ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000
Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.
Sigrid Lüdke-Haertel über Hanns-Josef Ortheil bestes Buch: »Die Erfindung
des Lebens«
-
Der Lebensweg eines sprachlosen Kindes
Der Mann hat an die
dreißig Bücher geschrieben. Darunter über zwanzig Romane. Vieles, was er
schreibt, hat einen autobiographischen Hintergrund. Er ist Professor für
kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, lebt in Stuttgart, in
der Nähe von Köln und in Rom. Er wurde 1951 in Köln geboren, wuchs im Westerwald
auf und machte in Mainz Abitur. Er war das fünfte Kind seiner Eltern. Zwei
seiner Geschwister waren bei der Geburt schon tot. Zwei seiner Brüder kamen bei
einem Bombenangriff ums Leben, einer gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in den
Armen der Mutter durch einen Granatsplitter.
»Die Erfindung des
Lebens«, sein neuer, großer Roman erzählt, auf faszinierende Weise, die
Geschichte der Folgen dieser Schicksalsschläge.
»Damals, in meinen frühen Kindertagen, saß ich am Nachmittag oft mit
hochgezogenen Knien auf dem Fensterbrett, den Kopf dicht an die Scheibe gelehnt,
und schaute hinunter auf den Platz vor unserem Kölner Wohnhaus«. Täglich wartet
der kleine Johannes darauf, daß sein Vater von der Arbeit nach Hause kommt. Die
Mutter sitzt meist lesend im Sessel. Mutter und Kind sind beide stumm. Seit dem
Tod seines Bruders spricht sie nicht mehr. Kein Wort.
Ständig sind er und der Vater um die Mutter besorgt. Der kleine Junge meint, er
müsse sie beschützen. Aber erst viel später, als Jugendlicher, erfährt er von
einem Verwandten, warum seine Mutter ihre Sprache verloren hatte.
Als Johannes vier Jahre alt ist, schenkt ihm ein Onkel ein Klavier. Johannes
lebt völlig isoliert. Er hat keine Freunde. Seine Schulkameraden quälen ihn. Der
hochbegabte Junge übersteht das alles nur, indem er sich auf das Klavierspiel
stürzt. Dann zieht die Familie weg, von Köln aufs Land, in den Westerwald zu den
Eltern des Vaters, die dort eine Gastwirtschaft betreiben. In der Großfamilie
blüht der Junge auf. »Diese Tage hatten mich aus meiner jahrelangen Einsamkeit
herausgerissen und mich zu einem Menschen gemacht«. Die fast lebensunfähige,
ständig geistig abwesende Mutter versucht, ihren einzigen Sohn »mit allen
Kräften und Klauen« an sich zu binden. Hier, im Westerwald, beginnt er – mit
sieben Jahren –zu sprechen.
Johannes saß in der Gaststube und sah durch die geöffnete Tür zwei Jungen
Fußball spielen. »Ich schaute ihnen zu, es war so schön, das zu sehen, dieses
ruhige Kicken, keinen Streit, kein Sprechen, nur dieses Kicken, hin und her. Da
machte ich eine kleine Bewegung nach vorn und rief den beiden zu: Gebt mal her!
Wie bitte?! Hatte ich gerade etwa gesprochen?! War ich das gewesen? Waren diese
wenigen Laute meine eigenen Laute gewesen?« Das Wunder ist geschehen. Trotzdem
ist es noch ein langwieriger Prozeß. Erst ganz allmählich bemächtigt er sich der
Sprache, es wird Jahre dauern, bis er flüssig sprechen kann. Faszinierend, wie
es Ortheil gelingt, diesen mühseligen Prozeß zu beschreiben. Das zweite Wunder
folgt kurz darauf:
Als Johannes, wie andere Kinder auch, von einem hohen Felsen ins Wasser springen
will, kommt die Mutter dazu. Der Schock, ihren einzigen Sohn da oben zu sehen,
löst ihre Zunge, und sie schreit: »Johann, Du springst nicht! Tu das Deiner
Mutter nicht an!« Johannes springt, und die Mutter fällt in Ohnmacht.
Aus dieser entsetzlichen Zwangsgemeinschaft wird nun ganz allmählich eine
normale Familie. Aber alles, was passiert, wird nicht chronologisch erzählt,
sondern in ständigen Brechungen und Rückblendungen.
Ortheil war bereits über vierzig Jahre alt, als er – in dem Roman »Das Element
des Elephanten« – erstmals über diese traumatische Kindheit sprechen konnte.
Jetzt, mit Ende Fünfzig, wagt er sich noch einmal an diese, seine Geschichte.
Nur kommt er nicht so richtig voran. Deshalb fährt er nach Rom, wo er vor
dreißig Jahren als Musik-Student lebte. Damals eroberte er sich Schritt für
Schritt die Stadt, er schloß Freundschaften, verliebte sich. »Das römische Leben
ist ein einziger, unfaßbarer, und nicht endenwollender Rausch. Ein Rausch aus
Liebe, intensiver Arbeit und Freundschaft«. Vor allem studierte er Klavier, und
da er begabt war, schien ihm eine Karriere als Pianist sicher. Eine
Sehnenscheideentzündung macht dem Traum ein Ende. Er kehrt zurück nach Köln und
beginnt, Literaturwissenschaften zu studieren.
Fast vierzig Jahre später mietet er sich in Rom eine Wohnung, ganz in der Nähe
der ehemaligen, und tastet sich schreibend langsam, mühsam und oft unter großen
seelischen Schmerzen an seine Vergangenheit heran. Auch jetzt lebt er wieder
zurückgezogen, um sich auf sein Schreiben zu konzentrieren. Bald lernt er eine
Nachbarin und deren Klavier spielende Tochter kennen.
Eines Tages bittet ihn die Mutter des Mädchens, etwas über sich zu erzählen. Das
fällt ihm nicht leicht. Er sagt ihr: »Wenn ich doch einmal von mir erzähle, tue
ich das in schriftlicher Form, wie zum Beispiel in einem Roman, der von mir
handelt«. Ein Roman, ganz dicht am eigenen, ungeheuerlichen und ungewöhnlichen
Leben entlang geschrieben. Intensiv und fast zärtlich und, davor schreckt
Ortheil zum Glück nicht zurück, mit einem glücklichen Ende. Sigrid
Lüdke-Haertel
Dieser Artikel ist zuerst in dem Frankfurter Stadtmagazin
Strandgut erschienen.
Hanns-Josef
Ortheil Die Erfindung des Lebens
Roman
Luchterhand Verlag, München 2009,
590 Seiten
22,95 €
Hanns-Josef Ortheil erzählt
Glanz & Elend
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