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Parabel
kapitalistischer Exzesse
Gregor
Keuschnig über ein bemerkenswertes Verlagsdebut:
Oscar Heyms Roman »Die
Reserven«
Deutschland 1976, mitten
im "Kalten Krieg". Die Ölkrise ist zwar vorüber (die Sonntagsfahrverbote wurden
im Dezember 1973 aufgehoben), aber der Schock sitzt tief. Wenzel Hoffmann,
deutsch-amerikanischer Geologe kommt nach Deutschland, um in halb-geheimer
Mission nach Öl zu bohren. Er wacht aus dem Flug aus bleierner Müdigkeit auf und
stellt fest, dass seine Unterlagen verschwunden sind. Er rennt zurück zum
Flieger, trifft dort aber nur einen alten Mann, der ihn kurz an seinen Vater
erinnert, und die attraktive Stewardess Margarethe (Mag). Beide können
ihm nicht helfen; die Unterlagen bleiben unauffindbar. Mag und Wenzel verbringen
entgegen jeder Planung mehrere Tage zusammen und geben sich hemmungslosem Sex
hin.
Wie ein kleiner Taugenichts wird dieser Wenzel eingeführt, der mit mehreren
Tagen Verspätung in dem fiktiven (?) Ort Gronau im deutsch-deutschen Grenzgebiet
eintrifft (das reale Gronau-Leine stimmt geografisch nicht ganz mit dem
Erzählort überein; allerdings gibt es tatsächlich Erdölvorkommen in
Niedersachsen die gefördert werden). Wenzel macht unmittelbar Bekanntschaft mit
der Provinzpolitik dieser eher finster gezeichneten Gegend (auch sein
Deutschland-Bild ist anfangs nicht ungetrübt). Die Fäden spinnt eine Frau
Krieger, die, herrisch, zynisch und menschenverachtend, Gronau mit harter Hand
beherrscht, den Pächtern gekündigt hat und mit dem Öl einen großen Profit
erwartet. Sie kommandiert Wenzel wie einen kleinen Jungen herum und demütigt
Familie und Umgebung wo sie nur kann (ihr Sohn ist behindert, die Tochter wird
später drogensüchtig). Sogar Wenzels Chef, Mr. Leicester, ist ihrem unbändigen
Aktionismus ausgeliefert.
Wenzels geologischer
"Ehrenkodex", d. h. vor Ort zahlreiche Bodenproben zu nehmen und diese vor
Probebohrungen umfassend zu analysieren, wird sehr schnell den wirtschaftlichen
Interessen untergeordnet. Als Mag Wenzel in Gronau besuchen kommt, lernen beide
den Hass von Frau Krieger kennen, die Mag unverhohlen als Prostituierte und
Spionin beschimpft. Auch hier ist Wenzels Widerstand überraschend gering; für
ihn, den 28-jährigen, soll diese Stelle ein Sprungbrett für die berufliche
Karriere sein. Zu Wenzel stößt Pop, der dem Job des Bohrleiter[s]
wahrnehmen soll, während Wenzel als Forschungsleiter fungiert. Der
Bohrplatz wird als Raffinerie für eine Zuckerrübenfabrik getarnt und die
Gebäude werden offiziell ein Erholungsheim für US-Soldaten.
Oscar Heym schildert den Ort und dessen Provinzialität durchaus plastisch. Der
Wirt scheint nicht zu wissen, wo Amerika liegt (das war selbst für die 70er
Jahre ungewöhnlich). Geschildert wird eindringlich die anfängliche
Verunsicherung Wenzels, die jedoch sukzessive einer kruden Mischung aus
Befehlsempfängertum, Profilierungsgehabe und Gier weicht. Früh wird er (auch
durch einen Besuch Leicesters) auf das "richtige" Ergebnis seiner Untersuchungen
sozusagen vergattert – unabhängig davon, ob es tatsächlich stimmt oder nicht.
Aber einmal wird Wenzel zu einem Empfang von Wirtschaftsführern in Frankfurt
eingeladen und man suggeriert ihm, die Bohrungen ruhen zu lassen. Als er dem
folgen will, gibt es einen Aufschrei der Entrüstung; sein Job steht auf dem
Spiel, aber als die Bohrungen wieder aufgenommen werden scheint alles vergessen;
er wird sogar befördert (irrtümlich nahm man wohl an, er wollte seine Position
dadurch verstärken).
Goldgräberstimmung ...
Langsam driftet
die Erzählung von Wenzels Befindlichkeiten weg zur Schilderung der
Verstrickungen, in die der unerfahrene Geologe (er leidet zusätzlich darunter,
dass Mag sich nicht mehr meldet und unauffindbar bleibt) gerät. Offiziell ist er
Leicester verpflichtet, der jedoch bis auf weiteres unerreichbar bleibt. Frau
Krieger übernimmt frech die Rolle des Chefs und versucht im Wechselspiel
zwischen herrischen Gesten und erotischen Avancen Wenzel an sich zu binden. Pop
will den Erfolg, um schnell auf eine lukrativere Stelle nach Arabien zu kommen,
obwohl er bei einer Gasexplosion verletzt wird und einen steifen Arm behält.
Nach zwischenzeitlichem Zögern, in dem Wenzel auf die Idee kommt, die
Ölvorkommen zu nationalen Reserven zu erklären und sie nicht auszubeuten
(Pop kritisiert dies natürlich mit der Logik eines Ölförderers), gibt er dem
Druck nach. Zwar wird anfangs sehr wohl Öl gefunden, aber er heizt den Hype
zusätzlich an und suggeriert immer größere Vorkommen. In der Stadt entwickelt
sich eine Goldgräberstimmung. Zwar nagte die Unzufriedenheit an Wenzel,
aber dann schwimmt er auf dieser Welle wider besseres Wissen mit und genießt den
Reichtum (bzw. dessen Antizipation). Und hieß es anfangs, die Ölförderung sei
ein Politikum (diese krude Mischung aus Angst und Hochmut vor den Kommunisten
- ein Phänomen der damaligen Zeit – versteht Heym sehr gut zu schildern), so
wird nun eine Blase produziert, die von vollkommen falschen Voraussetzungen auf
völlig irreale Ziele (Selbstversorgung Deutschlands binnen zehn Jahren)
fokussiert ist.
Wenzel muss, um den Boom noch eine Weile aufrecht zu erhalten, die Produktion
unter einem Vorwand drosseln (was diesmal widerspruchslos klappt). Nur so wird
verschleiert, dass die Fördermenge rapide zurückgeht (teilweise nur noch auf ein
Fass pro Tag!). Nicht Fakten zählen, sondern der Glaube an imaginäre,
eingebildete Fördermengen. Die Erwartung wird bestimmende Größe. Er bemerkt, was
für ein Dilettant und Hochstapler der Architekt Nitzschke ist und wie er sich
die Aufträge beschafft. Aber er selber wird zum Hochstapler des Alltags
und er und Pop sprechen von sensationellen Funden, die nur noch gefördert
werden müssen.
Wenzels Desillusionierung lässt nicht lange auf sich warten. Als Leicester seine
Anteile an der Firma verkauft (es bleibt bis zum Schluss unklar, wer danach
Mehrheitseigentümer wird) und einen anderen Job annimmt, wird ihm schlagartig
klar, dass es der Ausgangspunkt einer Blase war, die nun mit Vehemenz droht zu
platzen – mit allen Konsequenzen. Hinzu kommt das Gerücht, eine seltsame
Krankheit gehe um (Gasaustritt?). Immerhin hat man tatsächlich neue Vorkommen
entdeckt. Diese sind jedoch von minderer Qualität und werden streng genommen
schon auf dem Gebiet der DDR ausgebeutet. Dort duldet man dies und nimmt die
Ware zu 50% des Marktpreises ab, was zwar einen gewissen Abfluss garantiert, den
wirtschaftlichen Zusammenbruch aber nur verzögert.
Zum ökonomischen Desaster
kommt noch das Persönliche hinzu. Zwar begegnet Wenzel seiner Mag auf dem
Frankfurter Flughafen per Zufall wieder (sie ist nun Stewardess einer
osteuropäischen Fluglinie), aber die anfängliche Freude verwandelt sich schnell
in tiefe Verzweiflung. Sie hatte eine Totgeburt und ihre Eltern sind bei einem
Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sie ist ein anderer Mensch geworden,
fahrig, wie verfolgt, ihre Augen sind erloschen; Sex ist unmöglich
geworden. Sie ist drogen- und tablettenabhängig - und tatsächlich: sie spioniert
(aus Überzeugung) für die Gegenseite ("Der Westen ist die Krankheit…Er reißt
uns in den Abgrund"), was Wenzel nicht unterbindet.
Er versucht Mag zu helfen, zieht mit ihr in Frau Kriegers Haus, die es immer
mehr ins mondäne München zieht. Später stellt sich heraus, dass sie das Haus
nach Stasi-Manier verwanzt hat. Mag kommt beim Versuch, durch einen
stillgelegten Stollen in die DDR zu kommen, ums Leben. Die Förderung wird
eingestellt, Pop bekommt seinen Job in Arabien, Wenzel kommt ins Gefängnis
(Anklage wegen Geheimnisverrat) und ist ruiniert. Am Ende trifft er Nitzschke
wieder, der als Professor reüssiert hat. Er hat Frau Krieger geheiratet, die
sehr schwer krank ist, aber ihre Menschenverachtung blitzt noch immer hervor.
…und Zusammenbruch
Konnte man am
Anfang durchaus auf den Gedanken kommen, dass Wenzel ein bisschen etwas vom
Landvermesser K. hat, so ist dann am Ende der fast haarlose Geologe wie ein
entfernter Verwandter des Mannes in der Türhüterlegende, der hier Einlass
verlangt, um einen Vortrag im Auftrag Nitzschkes halten zu können und zunächst
nicht vorgelassen wird. Mehrmals streut Oscar Heym Gedächtnislücken bei Wenzel
ein; Filmrisse: Dokumente sind plötzlich verschwunden, eine große Müdigkeit ohne
Erinnerung beim Aufwachen, Desorientierung in Raum und Zeit. Aufgelöst wird das
nicht. Wurde er manipuliert oder unter Drogen gesetzt? Oder liegt eine Parallele
zur Demenz des Vaters vor (der als Opfer einer Fehlspekulation schlichtweg
verblödet ist)? Heym gibt dadurch der eigentlich klar konturierten Figur eine
geheimnisvolle Aura wieder zurück, die durchaus Raum für Deutungen lässt.
Fragt man sich anfangs
warum dem zeitgenössischen Leser eine fiktive Geschichte einer Ölförderung von
1976 (der Roman endet ungefähr 1983) interessieren soll, so gelingt es Heym
schnell, dieses Interesse zu erzeugen. Anfangs durch starke Bilder, fast
Lyrismen (etwa, wenn Tragflächen bei der Landung ein Geräusch wie wiehernde
Pferde machen, wenn er auf einer Straße steht verschluckt von der
Dunkelheit). Später verlässt der Roman diese kontemplative, wahrnehmende
Ebene dann zusehends, was der Verwandlung der Figur Wenzel, des Ich-Erzählers,
geschuldet ist und diese dadurch illustriert. Dennoch werden immer wieder
verstörende Bilder in den Roman eingebaut (beispielsweise die Inzest-Szene der
Krieger-Geschwister), die zunächst zusammenhanglos und willkürlich erscheinen.
Selten, dass Wenzel in seinem Klagen larmoyant wird, obwohl er sich durchaus
manchmal ausgeliefert sieht. Dennoch: Im entscheidenden Moment trifft er seine
Entscheidung autonom (auch wenn er die Folgen nicht zu übersehen vermag). Als
durch den Verkauf Leicesters die Angelegenheit durch diesen demonstrativ zur
Blase erklärt wird, besitzt er nicht die Stärke, auszusteigen.
Man kann diesen Roman durchaus als Parabel kapitalistischer Exzesse oder
vielleicht sogar des Kapitalismus selber lesen. Der Mikrokosmos Gronau dient als
Anschauungsobjekt für Vorgänge dieser Art und so ganz nebenbei wird mit der Fama
menschlicher Unzuständigkeit und Unverantwortlichkeit an einer solchen Blase
aufgeräumt. Die Folgen werden metaphorisch verpackt: Die einzige dezidierte
Kritikerin der Verhältnisse (Mag) stirbt bei dem Versuch, dem System zu
entfliehen. Die anderen Protagonisten sind gebrochene Persönlichkeiten oder
werden zu (psychischen und/oder physischen) Versehrten. Einige werden unheilbar
krank oder siechen (in Drogenkliniken) dahin. Familienbande lösen sich auf,
falls sie jemals vorhanden waren. Selbst der Opportunist, der als einziger
scheinbar "angekommen" ist (Nitzschke), wirkt nicht glücklich. Unklar bleibt am
Ende das Los Wenzels.
Glücklicherweise vermeidet der Autor sowohl den erhobenen Zeigefinger wie auch
überinstrumentalisierende Metaphern. Die Hauptfigur wird weder einer wohlfeilen
These "geopfert" noch als tollpatschiger Trottel verharmlost. Die Autonomie des
Lesers und dessen Reflexion bleibt erhalten und wird nicht bevormundet; es gibt
keine penetrant vorgetragene "Botschaft". Gelegentlich knirscht es ein bisschen
in der Sprache und besonders gegen Ende erscheint Wenzel immer noch ein bisschen
zu naiv. Aber "Die Reserven" hinterlässt eine erstaunliche Wirkung: man bekommt
diesen Wenzel Hofmann, der heute 60 Jahre alt wäre, so schnell nicht mehr aus
dem Kopf. Und man hätte gerne noch weitergelesen. Gregor Keuschnig
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
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Begleitschreiben.
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Oscar Heym
Die Reserven
Roman
siebenhundertzwanziggrad themenbuchverlag
ISBN 978-3-00-027739-9
15,--
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