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Jähzorniger Odysseus der Großstadt

Gregor Keuschnig über die illustrierte Neuauflage von Leo Perutz' Roman »Zwischen neun und neun«

Tatsächlich eine gelungene Neuauflage von Leo Perutz' 1918 erschienenem Buch "Zwischen neun und neun". Neben der temporeichen Erzählung gibt es einen kleinen aber feinen, fünfseitigen Anmerkungsteil und ein kenntnisreiches, behutsam ergänzendes Nachwort von Thomas Bleitner. Das alleine wäre schon Grund zur Freude, aber da sind auch noch die wunderbaren, die Stimmung des Buches und der Protagonisten kongenial treffenden, melancholisch-expressionistischen Illustrationen von Rasha El Sawiy, die erstaunlicherweise die Phantasie des Lesers nicht einengen, sondern sogar erweitern.

"Zwischen neun und neun" - das sind zwölf Stunden im Leben des Stanislaus Demba im Mai 1917. Demba lebt als Student in Wien und ist ein kauziger, zuweilen cholerischer Geselle, der sich als Nachhilfe- bzw. Hauslehrer in den besseren Kreisen verdingt. Er hat herausbekommen, dass seine Freundin Sonja einen neuen Liebhaber hat, mit dem sie am nächsten Tag zu einer langen Reise nach Italien aufbrechen will. Demba will dies unbedingt verhindern, akzeptiert Sonjas Abwendung nicht und glaubt, sie umstimmen und mit ihr die Reise machen zu können, wenn er ihr das Geld in den nächsten Stunden vorlegt. So hastet er nun durch die Großstadt, möchte ein (gestohlenes) Buch verkaufen, treibt Schulden ein, erbittet Vorschüsse und findet sich sogar am Bukidomino-Spieltisch wieder, obwohl er die Regeln gar nicht kennt.
Dabei lässt der allwissende Erzähler den Leser bis zur Mitte des Buches über die Gründe für das zum Teil sehr merkwürdiges Verhalten der Hauptfigur im Unklaren. So reagiert Demba beispielsweise bei der Erwähnung von Begriffen und Redensarten, die mit Händen zu tun haben mit seltsamer Verwirrung und Erregung. Und als ein Briefträger einen Geldbetrag überbringen möchte, verweigert er die Quittungsunterschrift mit der wunderlichen Attitüde "Ich lasse mir nichts erpressen" - und verzichtet damit auf das so dringend benötigte Geld. Bei einem Besuch in einem Lebensmittelladen nimmt er die Gegenstände erst an sich, wenn sich die Greislerin kurz abgewendet hatte. Einem Fräulein auf einer Parkbank bekundet er, er sei Analphabet und später bezeichnet er sich als Krüppel. In einem Café trinkt er Bier mit einem Strohhalm. Sein Benehmen verleitet zu skurrilen Rückschlüssen bei den Mitmenschen. So glaubt Sonja beim Besuch Dembas in ihrem Kontor einen Revolver unter seinem Mantel festgestellt zu haben und geht daher zum Schein auf sein Angebot, welches fast als Forderung formuliert wird, ein.

Es wäre unschicklich, das "Geheimnis", also den Grund für Stanislaus Dembas eigenartige Umgangsformen, hier preiszugeben. Der Leser würde um einen großen Teil des Lektüre-Vergnügens gebracht. Danach weiß der Leser zwar zum ersten Mal mehr als Dembas Umgebung, aber auch nach der "Enthüllung" büßt der Roman nichts von seiner Qualität ein. Furios, wie die Orte wechseln und die Lage des Helden immer aussichtsloser zu werden scheint. Man wird in einen Erzählsog hineingezogen und fiebert in einer Mischung zwischen Unverständnis, Wut und Mitleid mit dieser Figur. Mit Ausnahme der sechzehnjährigen Steffi (einer Gezeichneten: Ihre rechte Wange war eine einzige tiefrote Feuernarbe), der sich Demba anvertraut und die als einzige in diesem Roman menschlich-gütige Züge besitzt, ist Perutz' Erzähler streng auf die Hauptfigur fixiert. Bei diesem Stanislaus-Demba-Tunnelblick wirken die anderen Protagonisten zuweilen wie Statisten.
Unterdessen wird es immer turbulenter. Demba lässt keine Peinlichkeit aus. Es gibt sogar eine Caféhausschlägerei und plötzlich neigt sich Sonjas Sympathie wieder Demba zu und sie will von ihrem neuen Liebhaber ablassen. Nachdem nun das eingetreten ist, was Demba die ganze Zeit intendiert hatte, gibt es eine abrupte Veränderung seiner Gemütslage (die am Anfang des Buches schon dezent als Möglichkeit angedeutet wird). Diese Stelle gehört zu den eindringlichsten im Buch:

Demba sah Sonja an und wunderte sich über alle Maßen. Was war in ihn gefahren gewesen, daß er um dieses Mädchens willen wie toll durch den Tag gerast war, daß er gelogen, gestohlen und gebettelt hatte um ihretwillen? Sie stand vor ihm, und er sah nichts an ihr, nichts, was ihn fröhlich oder traurig machen könnte, sie war sein, aber er fühlte nichts, nicht Stolz, nicht die selige Unruhe des Besitzes, nicht die Angst, sie zu verlieren.

Er war ihrer satt.

Wer jetzt denkt, alles durchgemacht zu haben, wird auf den letzten Seiten abermals eines Besseren belehrt. Perutz verschafft dem Buch hinsichtlich der erzählten Zeit noch eine neue, völlig überraschende Wendung. Aber auch diese Pointe soll hier nicht verraten werden.

All diese "Erzähllabyrinthe" (Thomas Bleitner). Was ist das nun? Ein Kriminalroman? Nein, diese Deutung wäre ganz falsch. Eine Traumerzählung? Im Nachwort wird schön erläutert, warum diese Deutung ebenfalls abwegig ist. Vielleicht eine Art Rätsel- oder Überraschungsroman? Das könnte schon eher mindestens teilweise stimmen. Und wie ist das mit der vom Verlag auf dem Klappentext übernommenen Deutung des Autors einige Jahre nach der Veröffentlichung, der den Roman metaphorisch für eine zu Ende gehenden Epoche begreifen und Demba als ein entsprechendes Symbol dazu sehen wollte? Nach der Lektüre dürfte sich zeigen, dass - wie so oft - der Autor nicht unbedingt der beste Interpret seiner eigenen Werke ist.
Vor einer Überfrachtung dieses Buches sei dringend gewarnt, weil sie den zweifellos vorhandenen Zauber zerstören würde. Gerade die Fokussierung auf die "Causa Demba" und die Ausblendung nahezu aller wichtigen Zeitereignisse (man darf nicht vergessen, das 1917 der Erste Weltkrieg in Europa tobt), lässt eine wie auch immer geartete zeithistorische Deutung kaum zu. Der deutschsprachige Roman der untergehenden Epoche bleibt Joseph Roths "Radetzkymarsch".

Vorzuziehen wäre eine existenzialistische Deutung der Figur des Stanislaus Demba, dieses jähzornigen Odysseus der Großstadt, der seine Liebe erkaufen und materialistisch dokumentieren möchte, obwohl ihm der Gott des Geldes, zu dem sie alle beteten eigentlich nicht behagt. Im Augenblick von Sonjas Rückbesinnung wird die Erfüllung des Begehrens plötzlich reiz-, ja wertlos. Die Liebe war, wie erzählt wird, nicht nur tot, nicht gestorben, o nein: verreckt und zwar wie ein krankes, häßliches Tier. Perutz' Sprache ist eine Mischung aus Opulenz und feiner Ironie, wobei das Ausladende heutzutage manchmal etwas befremdet (und man wundert sich, dass es damals schon einen Hang zu Anglizismen gegeben hat). Dennoch ist da eine faszinierende Aktualität, eine phantastisch-instruktive Verknüpfung über die Jahrzehnte hinweg, ein Ruf aus einer unversehens gar nicht so fernen Zeit. Und wir ahnen, nein: wissen – Stanislaus Demba wäre heute auch nicht glücklicher. Das ist paradoxerweise fast schon ein Trost für den heutigen Leser. Gregor Keuschnig

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
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Leo Perutz
Zwischen neun und neun
Mit Illustrationen von Rasha El Sawiy
Herausgegeben, mit einem Nachwort und Anmerkungen von Thomas Bleitner
Matthes & Seitz Berlin
260 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-88221-654-7
€ 29,90

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