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Sein Leben als alter Mann

Nach 34 Jahren verabschiedet sich Philip Roth von seinem alter ego Nathan Zuckerman.
Von Bernd Blaschke

In seinem Roman ‘Mein Leben als Mann’ ließ Philip Roth den Schriftsteller Nathan Zuckerman 1974 zum ersten Mal auftreten. War er hier noch eine Nebenfigur, so wurde er 1979 Ich-Erzähler und Hauptfigur in Der Ghostwriter. In der für Roth kennzeichnenden raffinierten Verquickung autobiographischer Erfahrungen und phantasmatischer Überhöhungen reflektierte Zuckerman das öffentliche Feedback, das Roths so erfolgreicher wie umstrittener Roman ‚Portnoys Beschwerden’ 1969 ausgelöst hatte. Denn Zuckerman hatte einen Roman über ‚Carnovsky’ geschrieben, der von exzessiven, (auto-) erotischen Praktiken und vertrackten jüdischen Familienbindungen handelte. Auch die folgenden Zuckerman-Bücher (Zuckermans Befreiung, Die Anatomiestunde und Die Prager Orgie) kreisten um Roths Leitthemen: Sexualität, Krankheiten, Ehe- und Familienerinnerungen und all diese stets in Beziehung auf den Schriftstellerberuf und seinen double bind zwischen gelebtem Leben und Ergüssen der Einbildungskraft. Nachdem Zuckerman in den letzten Roth-Romanen meist nur noch als Nebenfigur und zur Ruhe gekommener Chronist fremder Erlebnisse auftreten durfte (so etwa in den grandiosen Büchern Der menschliche Makel; Amerikanisches Idyll oder Mein Mann der Kommunist) bekommt er nun seinen letzten großen Soloauftritt.

Diese Abschiedsgala fällt freilich etwas traurig aus. Traurig stimmt den Roth-Liebhaber nicht nur die Lebenslage des alt gewordenen Zuckerman, der wegen Morddrohungen, Impotenz und Inkontinenz seit 11 Jahren zurückgezogen auf dem Land haust und schreibt. Ein wenig traurig ist auch, daß Exit Ghost zwar zweifellos ein lesenswertes Buch ist, aber doch nicht ganz die atemberaubende Größe der Altersbilder in Roths brillanten Spätwerken wie Sabbaths Theater oder Der menschliche Makel erreicht. Die kunstvoll ausbalancierte Melange aus Komik und Tragik, die Roths lebenssatte Handlungen und seinen spezifischen Tonfall sonst markiert, neigt sich nun – zumindest in der Weltsicht seines alter ego – zu einer mit Kulturkritik vermengten Bitterkeit. Nicht ganz zu unrecht haben einige Kritiker das neue Buch begriffen als Variation über alte Roth-Themen – als eher routiniertes Roth-Handwerk denn als einen neuerlichen ganz großen Wurf. Freilich ergibt bei einem Erzählkünstler von Roths Kaliber noch die mittelmäßig durchgeführte Variation seiner Lebensthemen allemal ein gut geschriebenes Werk von einiger gesellschaftlicher und existentieller Relevanz. Worum also geht es beim Abtritt von Roths ‚Geist’ Zuckerman (der Titel verweist auf Shakespeares Bühnenanweisungen, die nicht nur in Hamlet mit diesen Worten einen gespenstischen Wiedergänger verabschieden)?

Seit 11 Jahren lebt der nun 71jährige Nathan Zuckerman zurückgezogen in der Berkshires. Er hatte die Nase voll vom Sozialleben und seiner größtmöglichen Verdichtung namens New York, nachdem er als provokanter Autor Morddrohungen erhielt und nachdem die Altlasten seines Privatlebens die Einsamkeit als kleineres Übel erschienen ließen: „Ich war vor einer echten Bedrohung geflohen und war fortgeblieben, nicht nur, um Ruhe zu haben vor dem, was mich nicht mehr interessierte, sondern auch – und wer träumt nicht davon? –, um die fortbestehenden Konsequenzen der Fehler eines Lebens loszuwerden (in meinem Fall waren das mehrere gescheiterte Ehen, heimliche Affären und der emotionale Bumerang erotischer Bindungen). Vermutlich dadurch, daß ich gehandelt hatte, anstatt nur davon zu träumen, hatte ich mich selbst verloren.“

Seit seiner Prostata-Operation, die zur Impotenz und einem Leben in Windeln führte, war der Schriftsteller Nathan Zuckerman nicht mehr in New York gewesen. Wegen neuer Behandlungsoptionen für seine Blasenprobleme wagt sich der 71Jährige nun doch noch einmal in die große Stadt. Im Krankenhaus begegnet er der vom Krebs gekennzeichneten Amy Bellette, der er 50 Jahre zuvor nur einmal begegnet war. Sie war die Geliebte des vom jungen Zuckerman bewunderten Erzählers E. I. Lonoff. In dieser Vorbildfigur verdichtete Philip Roth schon in früheren Romanen Züge der für ihn bedeutsamen Erzähler Bernard Malamud und Saul Bellow. Bei seinem Lieblingsitaliener liest der einsame Autor ein Wohnungstauschangebot: ein junges Schriftstellerpaar möchte ein Jahr aufs Land. Und so ist der alte Zuckerman, ohne sich recht zu besinnen, zurück im Lebenstrubel. Wie es sich für den notorischen Ex-Erotomanen gehört, verliebt er sich umgehend in die junge Autorin Jamie – wohlwissend, daß ein Mann in Windeln und ohne sexuelle Potenz kaum Aussichten auf Löschung seines nach elf Jahren asketischer Entsagung neu entflammten Begehrens haben dürfte. 

Ein zweiter Handlungsstrang dreht sich um den Künstler Lonoff und das Verhältnis von Werk und Biographie. Ein ehemaliger Kommilitone und Liebhaber von Jamie, der bullige Kliman möchte für eine Enthüllungsbiographie gerne Auskünfte des Lonoff-Verehrers Zuckerman einholen. Der durch New York und das Begehren nach Jamie verzweifelt revitalisierte alte Autor stürzt sich in einen doppelten, aussichtlosen Kampf mit dem jungen Biographen. Der geht einerseits um die Zuneigung der attraktiven jungen Autorin Jamie, von der Zuckerman glaubt, daß sie ihren liebenswert kuscheligen Ehemann Billy mit dem physisch und sozial überlegenen Kliman betrügt. Und es geht um das Verhältnis zu Lonoff, und dabei insbesondere um die Wertung von gelebten Leben und fiktionalem Dichterwerk. Die intrikate Beziehung von biographischen Fakten und erzählerischen Fiktionen ist eines der Lieblingsthemen Roths, das er auf viruos verschachtelte und ironisch gebrochenen Weise schon mit seinen Stellvertreter Figuren Zuckerman und Kepesh aber auch in seinen (vermeintlich) autobiographischen Werken wie Tatsachen oder Mein Leben als Sohn durchspielte.

Der alte Zuckerman bezichtigt im Verbund mit der Dichter-Witwe Amy Belette den biographischen aber auch den journalistisch literaturkritischen Diskurs als durchweg destruktives Geschäft. Sie seien Schuld am Niedergang der Kultur und an der Vernichtung des eigentlich Bedeutsamen: der künstlerischen Werke. Amy Belettes große Tirade gegen die denunziatorische Schlüssellochperspektive auf Kunstwerke, die der an einem Hirntumor Erkrankten vom lange schon toten Lonoff eingeflüstert wurde, endet mit einer entfesselten Zensurphantasie: „Wenn ich soviel Macht hätte wie Stalin, würde ich sie nicht darauf verschwenden, Schriftsteller zum Schweigen zu bringen. Ich würde jene zum Schweigen bringen, die über Schriftsteller schreiben. Ich würde die öffentliche Diskussionen über Literatur in Zeitungen, Zeitschriften und gelehrten Journalen verbieten.“ Als geübter Jongleur von Fakten und Fiktionen versucht Zuckerman, die Indizien aus Lonoffs unvollendetem Roman umzudeuten. Nicht biographisch sei dessen Inzest-Plot zu verstehen, sondern als eine fiktive Geschichte über das rätselhafte Lebensgeheimnis des Autors Nathanael Hawthorne, der sich im 19. Jahrhundert vor den Zumutungen der Gesellschaft in die gleiche Provinz in Neuengland zurückzog.

Exit Ghost spielt im Jahre 2004, dem Jahr der Wiederwahl von George Bush. Der Wahlausgang wird von den jungen Schriftstellern als schmerzliche Katastrophe erlebt, während der ehemals engagierte Liberale Zuckerman auch dieses Übel resigniert und stoisch erträgt. Seine unstillbare Verfallenheit an die attraktive Jamie, die übrigens trotz der prägnanten Skizze Ihres Familien- und Ehehintergrundes wie so manche Frauenfigur bei Roth deutlich weniger profiliert wird als die Innenwelten von Roths männlichen Protagonisten, wird vom alten Zuckerman nur noch auf dem Papier ausphantasiert. Im Anschluß an die ereignisarmen Gespräche mit Jamie über den Wohnungstausch, über Lonoff und über dessen Biographen Kliman, schreibt Zuckerman in seinem Hotel Dialog-Szenen, in denen die real nicht stattfindenden Annäherungsversuche und Flirts mit Jamie durchgespielt werden. Das Liebesleben ereignet sich hier nur noch im Modus der Phantasie und der Schrift; durch deren dynamische Realitätseffekte wird für den Leser freilich deutlich, daß literarische Liebe und Sex in Büchern immer aus nichts als Sprache gemacht wird.

Am Ende zieht sich Zuckerman wieder aufs Land zurück und schreibt dort die letzte Szene seines Phantasiestücks ‚Er und Sie’. Solcherart entsagend schließt der alte Autor seine Fiktion über sich und Jamie. Die letzten Worte des Buches sind die letzten Worte von Zuckermans Fiktion. Kursiv gesetzt wird das Verschwinden Zuckermans, gewissermaßen als Bühnenanweisung, vorgetragen: „Er löst sich auf. Sie ist unterwegs, und er verschwindet. Er ist für immer fort.“ Vielleicht ist dieser Abgang Zuckermans in seinem eigenen Phantasietext ja – entgegen Roths Aussagen in Interviews – doch noch nicht das letzte Wort von und über Zuckerman. Der war 1987 im Roman Gegenleben ja schon einmal an einer Herzattacke gestorben und lebte doch in Roths späteren Romanen wieder auf.

Fortleben als eine der großen, literarisch unsterblichen Figuren wird diese jüdisch-amerikanische Männergestalt des Nathan Zuckerman. Der vom Schreiben und dem Begehren Besessene ist eine der mythischen Gestalten aus der Literatur des 20. Jahrhunderts: ein medienbewußter Widergänger des Don Juan, der die abgründigen Verhältnisse von gelebtem und phantasiertem Begehren auslotet. Und deren schmerzliche Nebenwirkungen verzeichnet. Exit Ghost ist wohl nicht Roths stärkstes Buch. Doch formuliert diese Erzählung erneut unvergeßliche Bilder von Alter und Krankheit. Sie fügt einen weiteren Mosaikstein ins nunmehr mehr als 25 Bücher umfassende Œuvre des amerikanischen Erzählers, der sich immer mehr als Autor mit einem unvergleichlich produktiven Spätwerk erweist.

Aus den Krankheiten und Trauerfällen, aus den Erinnerungen und Lebenskatastrophen seiner Figuren schmiedet der amerikanische Klassiker, unbeirrt und heroisch, tragikomische Erzählungen über die Vergänglichkeit, die Beschränktheiten der Körper und die eher peinigende als glückselige Unendlichkeit des Begehrens. Und bei aller düsteren Schmerzlichkeit seiner Handlungen bewahrt die Erzähl- und Perspektivenkunst Roths stets einen virtuos spielerischen, also heiteren Gestus. Die reflektierende Bannung der Zumutungen des Lebens mittels literarischer Formung und ironischer Spiegelkabinette der Stellvertreterfiguren wird beim späten Roth anschaulich als Trost der Literatur. Die Impotenz und Inkontinenz im Leben seiner Figur ermöglicht in geradezu hegelscher Logik (nach der nur das Bewußtsein, das dem Tod mutig ins Auge zu sehen vermag, die nächste Stufe in der Phänomenologie des Geistes erreicht) den Triumph des Autors Roth. Als potenter Erzähler von nunmehr eher kürzer, kompakter und mithin immer ‚kontinenter’ werdenden Alterswerken ist Roth nahezu konkurrenzlos. In Deutschland bietet allenfalls Martin Walser – der sich nach seinem großartigen Roman Angstblüte (über einen Alten Anlageberater, der über eine verführerische Schauspielerin Kopf, Ehe und Vermögen verliert) nun Goethes letzter Liebe Ulrike widmete – ein ähnlich breites, produktives Spätwerk. Bernd Blaschke
 

Philip Roth
Exit Ghost
Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Roman
Hanser Verlag
304 Seiten
Pappband mit Schutzumschlag
19,90 Euro
ISBN-10: 3-446-23001-7
ISBN-13: 978-3-446-23001-9

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