Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik


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Die menschliche Komödie
als work in progress


Zum 5-jährigen Bestehen ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.

 

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Glanz&Elend - Die Zeitschrift
Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

»Diese mühselige Arbeit an den Zügen des Menschlichen«
Zu diesem Thema haben wir Texte von Honoré de Balzac, Hannah Arendt, Fernando Pessoa, Nicolás Gómez Dávila, Stephane Mallarmé, Gert Neumann, Wassili Grossman, Dieter Leisegang, Peter Brook, Uve Schmidt, Erich Mühsam u.a., gesammelt und mit den besten Essays und Artikeln unserer Internet-Ausgabe ergänzt. Inhalt als PDF-Datei
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Ein Fenster nach Osten

Christiane Pöhlmann über Grigori Rjaschskis Jahrhundert-Roman »Moskau, Bel Ètage«

»Außerdem hat mir Grigori Rjaschskis Moskau, Bel Étage gefallen.« Mit diesen knappen Worten hält Wladimir Sorokin am 05.01.2006 in seinem Blog seinen Leseeindruck fest. Das sagt alles – und nichts. Denn worauf lassen diese Worte hoffen? Auf etwas Schräges, Skandalöses, Surrealistisches? Wer das sucht, ist mit Sorokin selbst besser beraten. Was Rjaschski gelingt, ist nämlich nichts Geringeres als die nochmalige Erfindung des Rads: Er erzählt frisch und doch traditionell, von hundert Jahren russischer Geschichte.

Hundert Jahre, das heißt Zarismus, Revolution und Kollektivierung, der Zweite Weltkrieg und die Repression mit den Lagern, Tauwetter und Stagnation, die Olympiade 1980, anlässlich derer staatliche Willkür und Öffnungswille noch einmal hart aufeinanderstoßen, Perestroika, Gorbatschow, Putsch I und II in den Jahren 1991 und 1993, das sind noch einmal Ehen, die einen Knacks erleiden, "kurz nach der Verhaftung Berijas" und neue Lieben, die keimen, als Tschernenko stirbt. Das ist noch einmal die alte Frage nach Schuld und Verantwortung. Und das sind mittendrin in diesem Tableau Rosa und Semjon Mirski, ein großbürgerliches jüdisches Ehepaar, das in einem Mietshaus mit Maisonettes wohnt und seinen Weg durchs Leben sucht.

Semjon, 1880 geboren, Grandseigneur und Schürzenjäger, Architekt besagten Hauses und von Picasso mit dem Gemälde Frau mit Gitarre beschenkt. Mit Rosa, der seine ungeteilte Liebe gilt, hat er einen Sohn, mit der ukrainischen Haushaltshilfe Sina eine uneheliche Tochter. Rosa, in dem Jahr geboren, als das Haus erbaut wurde, 1903, ist eine patente Frau mit ausgeprägtem Gefühl für gute Manieren. Sie beschreitet einen schmalen Grat zwischen Naivität und Integrität, wenn sie, die Gefühle in Backwaren verwandeln kann, ihre Verwandten, die gesetzestreuen wie die kriminellen, den Nachbarn vom KGB, den Mafioso und die Putschisten 1991 mit Pasteten und Küchlein versorgt. Und wenn sie im Jahre 2003, nach etlichen Schicksalsschlägen, nach dem Tod von Sohn und Urenkel, versucht, ihre untergegangene jüdisch-russische Familie mit der Enkelin Sinas und deren Söhnen als jüdisch-ukrainisch-tartarische neu zu erfinden, ist das ebenso die Quintessenz ihres Lebens wie die des Romans – der auch ein Roman vom Verfall und Wiederaufbau einer Familie ist.

Mit Familie hat Grigori Rjaschski es überhaupt. Insgesamt sechs Storybände und Romane hat der 1953 geborene Russe inzwischen vorgelegt, und stets ranken sich seine Plots um eine oder mehrere Familien. In Moskau, Bel Étage hat er Familien- und Landesgeschichte, Einzelschicksale, die Zeitläufte und die ewig großen Fragen aber vielleicht am überzeugendsten verquickt. Was dabei ins Auge springt, ist seine Erzähltechnik: Rjaschski kommt vom Film, ist Drehbuchautor und Produzent. Das mag man kaum glauben, so dialogarm wie er schreibt. Was vielen Texten zum Manko geriete, wird bei ihm jedoch durch eine lakonische, fein ironische Erzählerstimme mehr als wettgemacht. Ungläubiger noch hört man vom Filmmenschen angesichts der Konzentration auf nur einen Schauplatz, jenes Mietshaus im Zentrum Moskaus. Das ließe eher an einen Theaterregisseur denken.

Doch ist das Haus nicht nur Schauplatz, sondern auch Protagonist. Es ist ein Haus, darin sich Schicksale kreuzen, ein Vielvölkerstaat im Miniaturformat. Wer wohnt nicht alles in ihm! Die Boheme und die Macht, Mafiosi und Intelligenzler, russische und jüdische Familien, mit und ohne georgische Ehefrau. Wohnungen sind rar im nachrevolutionären Russland, siebzig Jahre bewährt sich im Zwischenmenschlichen das Rezept: "Verführung mittels einer Wohnung im Stadtzentrum". Und hier locken gar Maisonettes. Womit es hieße: Wohnungsbeschaffungsmaßnahme, die Erste:
Die Mirskis und ihre Nachbarn feiern 1932 in ausgelassener Runde den Passahabend. Drei Jahre später sucht der aufstrebende NKWD-Hauptmann Gleb Tschapaikin "eine anständige menschliche Behausung". Gedacht, getan. Schnell wird er fündig – eben, das Haus, die Maisonettes. Witze verjähren nicht, aus ihnen lässt sich immer noch eine Vaterlandsverschwörung herausschälen. Flugs ist die Familie weg, die Wohnung frei. Hat so das System funktioniert? Jein! Denn: Wohnungsbeschaffungsmaßnahme, die Zweite:
Stefan, Edelganove auf dem Weg zum Mafioso, wird Ende der Achtziger aus dem Lager ins Perestroika-Russland entlassen. Kurzerhand kürt er die Maisonettes zum Objekt seiner Begierde, durchleuchtet akribisch das Privatleben der einzelnen Mieter, stößt auf eine Unterschlagung von Staatsgeldern und hat damit alles für eine Erpressung an der Hand. Neue Zeiten? Eher neue Helden. Oder, wie es im Buch heißt: "Der eine war ein Dieb gewesen, der andere ein Vertreter der Macht. Der Dieb hatte sich als cleverer erwiesen."

Natürlich muss Rjaschski zu manchem Kunstgriff greifen, um das Geschehen immer wieder in das Haus an den Patriarchenteichen zu lenken, eine erste Adresse auch in der russischen Literatur, nimmt dort doch Bulgakows Meister und Margarita seinen Anfang. Aber wo Bulgakow mit seiner Phantastik zu einer unglaublichen Groteske auf das Russland der Dreißiger Jahre anhebt, bleibt Rjaschski, bei aller Verfremdung, stets Realist. Dennoch gibt es Berührungspunkte nicht nur lokaler Natur. Ungehemmt wie auf dem Ball des Satans geht es auch bei Rjaschski zu, reichlich und zumeist lustvoll in fremden wie eigenen Betten. Aber was würde das allgewaltige System besser entlarven als die Angst, die jeden Seitensprung begleitet? Wenn man sich nicht um eine zerrüttete Beziehung sorgt, sondern fürchten muss, beim Auffliegen im Lager zu landen? Und das ist Rjaschskis große Kunst: dass er einem das Lachen immer wieder im Halse stecken bleiben lässt, dass er in seinen kleinen und kleinsten Geschichten immer wieder erkennen lässt, wie das große Ganze funktioniert hat, ohne dabei je seine Figuren zu verraten. Selten ist mit einer solchen Warmherzigkeit zugebissen worden.

Nicht zuletzt geht es – natürlich – um das Verhältnis zur Macht, exemplarisch dargestellt am Verhältnis zu Gleb Tschapaikin, diesem KGBler durch und durch, der noch, als er Familie und Status längst verloren hat, eine Kirche betritt und sich finster umschaut: "Als wollte er sogleich den Heiligen Geist einem Verhör unterziehen, sei sich bloß nicht sicher, wie die erste Frage lauten würde und ob er vorher nicht lieber ein handfestes Verfahren gegen den Sohn und den Vater einleiten sollte." Er, der sich so tatkräftig die begehrte Wohnung besorgt hat und nun den hilfsbereiten Nachbarn mimt, der sich zu Tee und Rosas Gebäck einlädt. Rosa erträgt seine Anwesenheit nicht und flieht in die Küche. Semjon dagegen macht gute Miene zum bösen Spiel, zerbricht aber innerlich am Teetrinken mit der Macht, fühlt sich seitdem als alter Mann. Da sollte ihm das Jahr 1940 und damit eine fünfzehnjährige Lagerhaft allerdings erst noch bevorstehen. Als er aus Sibirien zurückkommt, haben philosophische Fragen für ihn keine Bedeutung mehr, da interessiert ihn nur noch das Essen. "Doch weder konnte sich irgendwer in der Familie an diesen so ganz anderen Ehemann und Vater gewöhnen noch an ihm verzweifeln, denn zu kurz war die Zeit, um sich für das eine oder andere zu entscheiden." Gleb und Rosa finden dagegen ihr Auskommen miteinander. Wer jedoch vermöchte zu sagen, warum. Wegen Rosas Naivität? Oder wegen ihres Weltwissens? Weil Gleb die gepflegte Dame bewundert? Oder weil er sie mögen muss – um nicht wegen mangelnder Aufmerksamkeit gegenüber dem Volksfeind selbst im Lager zu landen?

Rjaschski wirft viele Fragen auf, überlässt es aber meist der Leserschaft, Antworten zu finden, ganz wie bei seiner weiblichen Hauptfigur: "Auch Rosa Markowna versuchte, als sie sich von ihrem Glück erholt hatte, einen gedanklichen Faden kausaler Zusammenhänge zu spinnen, doch er riss jedes Mal gleich zu Beginn, und sie schüttelte nur den Kopf, denn sie glaubte weiterhin weder an Wunder noch an eine besonders glückliche Ader ihrer Familie noch an den allerhöchsten Wohltäter welcher Nationalität auch immer." Er tastet sich nicht chronologisch, sondern episodisch durch sein Jahrhundert. Das kommt seinem offenen Ansatz zugute. Durch geschicktes Reminiszieren versteht er es, die Fäden immer wieder zusammenzuführen, so dass man in dem an Personen und Geschichten reichen Text nie den Überblick verliert. Der Rahmen, in den er sein Bild spannt, gibt wenig Anlass zu Hoffnung. Siebzig Jahre Sowjetunion, zwanzig Jahre GUS – viel ändert sich da nicht. In der Nachkriegszeit werden die Ehen kürzer, gibt es mehr vaterlose Töchter und mutterlose Söhne, irgendwann folgen Kapitalisierung und Kriminalisierung, heißt es statt Fünfjahresplan: "Sechs Leute saßen an Schreibtischen und brachten die Kultur voran." Das Bild in diesem Rahmen gibt der Einzelne ab, irrend zwischen Liebe und Hass, Lauterkeit und Korruption, Courage und Duckmäusertum. Wie gehabt hegt er das Bedürfnis nach Doppel- und Rückversicherung in einem System, das keinen Irrtum kennt, wie gehabt hortet er Geheimnisse, um zu erpressen, und Geheimnisse, um zu schonen. Welches Motiv man den jeweiligen Charakteren unterstellt, muss jede Leserin, jeder Leser für sich entscheiden.

Zuletzt hat es einen solchen Jahrhundertroman vielleicht von Günter Grass gegeben, eben sein Jahrhundert. Der gebürtige Danziger zieht mit seinen einhundert Geschichten quer durch Deutschland und schielt immer mal wieder auf die Weltgeschichte. Rjaschski konzentriert sich ganz auf Russland, auf Moskau, öffnet ein Fenster nach Osten und gibt damit ebenso den Blick aufs Universelle frei. Für Rjaschski schließt sich jetzt der Kreis, sein Roman wird als TV-Serie verfilmt. Man darf die Zuschauer in Russland beneiden, denn dort werden mitunter brillante Literaturverfilmungen produziert. Hierzulande liegt nun die deutsche Übersetzung vor. Der Roman hat nicht nur beim ersten Lesen Gültigkeit. So wie ein Kaleidoskop mit jeder Drehung ein neues Bild hervorbringt, beschert eine jede Lektüre neue Erfahrung, neuen Genuss. Und jedes Mal möchte man sagen: "Außerdem hat mir Grigori Rjaschskis Moskau, Bel Étage gefallen." Christiane Pöhlmann


 

Grigori Rjaschski
Moskau, Bel Étage
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Kiepenheuer & Witsch
400 Seiten
22,95 Euro

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