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Hölzerne Figuren, bunt kostümiert
Gregor Keuschnig über Salman Rushdies neuen
Roman »Die bezaubernde Florentinerin«
In einem Ochsenkarren kommt er daher, der gelbhaarige
Fremde, ein anmutiger Narr … vielleicht aber auch gar kein Narr. Nicht
sitzend sondern stehend, aufrecht wie ein Gott, im rumpelnden Gefährt
geschickt die Balance haltend. Man schreibt das Jahr 1572 (laut Klappentext) und
befindet sich in
Fatehpur Sikri, einem Ort jenseits von Religion,
Region, Rang und Stamm, der Stadt der schönen Lüge, der Hauptstadt
des Reiches von Jalaluddin Muhammad Akbar, dem indischen Grossmogul, dem
Weltverschlinger.
Der Fremde sei im Namen der englischen Königin unterwegs und müsse Akbar
unbedingt persönlich eine Botschaft der Monarchin übermitteln. Dafür hat er die
weite Reise von Europa über das Kap der Guten Hoffnung nach Indien gemacht.
Zunächst geht er allerdings in ein Hurenhaus, macht Bekanntschaft mit den
Huren Skelett und Matratze. Dort erprobt er erst einmal eine
Salbe, die sexuelles Verlangen steigern soll, bevor die beiden Huren ihn mit
speziellen Düften parfümieren. Er soll riechen wie ein König damit er die
verschiedenen Instanzen am Hof entsprechend überwinden kann und auch tatsächlich
zu Akbar, dem Schirmherr der Welt, vorgelassen wird.
Diesen Akbar hat es wirklich gegeben. Allerdings heisst es bei Rushdie
ausdrücklich, dass es sich bei diesem Buch um ein "Werk der Phantasie" handele
und "im Interesse der Wahrheit … einige Freiheiten im Umgang mit dem historisch
Verbürgten" notwendig waren. Diese Freiheiten werden bereits bei der Lektüre des
Wikipedia-Artikels über den historischen Akbar
deutlich. Wobei die Frage bleibt, warum es dann überhaupt der historischen
Personen und Orte bedarf, wenn sie derart verbogen werden (freilich ein in den
letzten Jahren immer häufiger verwandtes Verfahren).
Grausam und melancholisch
Rushdies Akbar ist ein (aus heutiger Sicht natürlich) grausamer Despot, was aber
oft genug dem Selbstverständnis des absoluten Herrschers eines
grossen Reiches geschuldet zu sein scheint. Seine
andere Seite ist die Melancholie; dann ist er schlachtenmüde…, nachdenklich,
…poetisch und sogar zu Übergewicht neigend. Ein eher vereinsamter
Regent, der mit sich selber darüber philosophiert, ob er nicht lieber "Ich" zu
sich sagen oder doch beim "Wir" bleiben soll (er bleibt beim "Wir") und sich
nach den Freuden des Diskurs[es] sehnt. Als er einen aufmüpfigen Rebellen
köpfte, überkam ihn wieder dieser Dämon der Einsamkeit und er ängstigte
sich, dass er vielleicht just den Menschen geköpft haben könnte, mit dem er in
einen schönen Diskurs hätte treten können.
Akbar gibt sich freidenkerisch (er lässt ein Zelt errichten, in dem Philosophen
und Gelehrte diskutieren können), bleibt jedoch empfindlich, wenn er glaubt,
dass seine Autorität untergraben zu werden droht und umgibt sich – ganz
unintellektuell – mit Schmeichlern, deren Kopf auch immer ein bisschen lose zu
sitzen scheint, die er aber bei entsprechenden "Vergehen" grosszügig begnadigt (du
darfst weiterleben).
Überfluss ist selten vorteilhaft (beruhigend, dass dies keine primäre Erfahrung
der Moderne zu sein scheint), so auch bei Haremsdamen. Der sexbesessene
Rushdie-Akbar ist den realen Damen wohl überdrüssig und imaginiert sich
stattdessen seine liebste Konkubine – eine gewisse Jodha. Die Vorzüge dieser
Phantasiegestalt liegen auf der Hand: Keine echte Frau konnte sein wie sie,
vollkommen in ihrer Aufmerksamkeit, absolut anspruchslos, immerzu verfügbar. Sie
war …das perfekte Fabelwesen… Der Rushdie-Akbar weiss offensichtlich, dass
das wichtigste Geschlechtsorgan das Gehirn ist. Und weil ihm niemand zu
widersprechen wagt, wird die imaginäre Lieblings-Geliebte von den anderen Frauen
gefürchtet. Ihr Einfluss wuchs stetig, Künstler besangen sie in ihren
Liedern, und in Atelier und Skriptorium wurde ihre Schönheit mit Versen und
Bildnissen gefeiert.
In diese Welt versucht nun der Fremde (bereits auf Seite 15 erfährt der Leser,
dass dieser mit einem Geheimnis angereist ist), der sich zunächst
Uccello di Firenze nennt, Einlass zu finden. Durch die Parfümierungen der
beiden Huren und durch Glück und Geschick überwindet er die diversen Türhüter
und kommt tatsächlich ins Machtzentrum um Akbar, seiner Familie, seinen beiden
Beratern Birdal und Abul Fazl (der Mann, der alles wusste - nur nicht,
dass er Jahre später in einen Hinterhalt geraten wird) und Akbars treuesten
Spion, dem haarlosen Eunuchen Umar der Ayyar.
Liebe auf den ersten Blick
Mit grosser, theatralischer Geste verliest Uccello eine Botschaft der Königin
von England (Jahre später, als man des Schriftstückes habhaft wird, stellt sich
heraus, dass die eigentlich harmlose Bitte, den Handel Englands mit Indien zu
ermöglichen, von Uccello enorm aufgebauscht und für seine Zwecke manipuliert
wurde). Aus Uccello wird der Mogor dell'Amore, was die Skepsis
unter den Beratern Akbars und im Umfeld des Hofstaates vergrössert. Aber
fabulieren kann der Fremde. Alleine die Geschichten der abenteuerlichen
Überfahrt sind kunstvoll gesponnenes Seemannsgarn. Akbar bringt diesem
schwadronierenden Grossmaul sofort Liebe auf den ersten Blick entgegen,
ist entzückt und belustigt, bleibt aber – ganz Herrscher – äusserlich
reserviert.
Es kommt, was kommen muss: Im Hofstaat wird Mogor immer kritischer
beäugt; Kabale bilden sich. Akbar stellt ihn zur Rede, es kommt zu einem "Prozess"
und aus Uccello beziehungsweise Mogor dell'Amore wird nach
entsprechender Verhandlung und Geständnis Niccolò Vespucci, der nun die
Ungeheuerlichkeit besitzt zu behaupten, er sei ein Onkel Akbars; Sohn der
schönsten Frau, die die Welt je gesehen hat, einer Tochter von Dschingis Khan,
Qara Köz, auch Angelica genannt, der schwarzäugigen Prinzessin.
Und Niccolò beginnt nun die Geschichte und Geschichtchen der drei Freunde
aus Florenz zu erzählen. Von Antonio Argalia, genannt der Türke, der
später der Geliebte eben jener Angelica werden sollte (aber – und das
verwirrt alle – alleine schon aus mathematischen Gründen nicht der Vater von
Niccolò Vespucci sein kann), Niccolò 'Il Machia', womit kein geringerer
als Niccolò Machiavelli gemeint ist (dessen Vita nur episodisch ausgeführt wird)
und Ago Vespucci, ein Neffe des grossen Amerigo.
Bilderreich, detailversessen, redundant – und ermüdend
Auf den nächsten rund zweihundert Seiten entwickelt Rushdie ein
opulent-barockes, exotisches Erzählpanorama: bilderreich, detailversessen,
redundant, namen- und zahlenmystisch (häufig dauert etwas ein Jahr und einen Tag
oder 101 Tage und es gibt eine Nacht der hundertundeinen Kopulation),
verspielt, ausschweifend bis zotig – und für den Leser derart ermüdend, dass man
die gelegentlichen ungeduldigen Einwürfe Akbars (dem diese Geschichten erzählt
werden) nur allzu gut nachvollziehen kann.
Es gibt zwei Erzählperspektiven – zum einen die des auktorialen Erzählers, der
in und um Akbars Palast spricht, auch Akbars Gedanken kennt und reflektiert und
die andere des weit ausholenden, ostentativ erzählenden Niccolò Vespucci. Die
Unterschiede sind marginal; Klang und Stil der beiden Erzähler sind zum
verwechseln ähnlich, aber auf solche Details kommt es offensichtlich (leider)
nicht an. Am Ende des Buches findet sich eine Bibliografie, die zeigt, welcher
Literatur Rushdie sich für dieses Buch bedient hat. Neben Sachbüchern über die
Zeitgeschichte des 16. Jahrhunderts in Florenz, der Medici und Indien (derer er
sich nur bedient zu haben scheint, um sie zu ignorieren oder umzudichten),
finden sich dort auch fiktionale Werke, wie zum Beispiel (merkwürdigerweise)
Italo Calvino (den Rushdie verehrt) und natürlich auch der
"Orlano Furioso", der "Rasende Roland" und der
Kamasutra. Andere Bücher, denen er Motive entlehnt, führt er merkwürdigerweise
nicht auf, so beispielsweise die Geschichten aus tausendundeiner Nacht,
Boccaccios "Decamerone" (einmal liest jemand dieses Buch) oder Süskinds "Das
Parfüm".
Als der Leser dann taumelnd vor Mattigkeit vor dem letzten Drittel des Buches
steht, sind Qara Köz mit ihrer Gefährtin Spiegel endlich in
Florenz angekommen. Und plötzlich, wenn alle Schlachtfelder verlassen und Kriege
geführt sind, wenn alle Seefahrer angekommen und die fast unzähligen Rand- und
Nebenfiguren entweder tot, geflüchtet oder tatsächlich (endlich!) unwichtig
geworden sind: dann beginnt das Buch auf einmal zu leuchten und zu flirren.
Von der Zauberin zur Hexe
Auf einmal gelingt es Rushdie den Leser wieder aufzuwecken, den Erzähl-Nebel
wegzupusten und den Zauber der schönen Frau und ihrer fast so schönen, mit ihr
untrennbar verbundenen Gefährtin lesbar, spürbar, erlebbar zu machen. Diese
Schilderung der Verzauberung der Bewohner der vierzigtausend Seelen-Stadt
Florenz: ein Brückenbau zwischen den grossen Kulturen Europas und des Ostens
scheint sich da plötzlich zu ergeben. Sie anzubeten, war der Freude genug
heisst es dann, wenn die Schönheit jegliches sexuelle Verlangen sekundär werden
lässt und in den Hintergrund schiebt. Dieser Pesthauch der Faszination
den Qara Köz verströmte und der sich rasch in der gesamten Gegend…ausbreitete,
diese Schönheit und Grazie der unverschleierten Frau(en) lassen die Stadt in
friedliche Verzückung fallen. Sogar von Wundern ist die Rede und der Klerus hat
keine Einwände.
Diese Zeit, die wohl einige Jahre umfasst, rafft Rushdie, denn hier spielt sich
das Erzählenswerte nicht in der Idylle ab. Und so macht sich dann irgendwann
eine Erschöpfung bei Qara Köz bemerkbar (vermutlich sind Schönheit und Liebreiz
anstrengend und die Dame ist schon 28 Jahre alt, es gibt Denunziationen (Sarazenenhure);
die Stimmung kippt. Während Argalia als "condotierre" (eine Art Feldherr
einer Söldnerarmee) mit seinen Unbesiegbaren die Stadt Florenz auf einem
Schlachtfeld verteidigt, wird die fremde Schönheit von Lorenzo Medici
unverhohlen bedroht, aber als dieser nach einem Fest plötzlich stirbt, wird aus
der Zauberin, der inoffiziellen Schutzheilige[n] der Stadt plötzlich
(plötzlich?) die Hexe und wie dieser kurze Weg von [der] Zauberin zur
Hexe erzählt wird, das ist intensiv, dicht und packend. Zwar kommt Argalia
mit seinem stark reduzierten Heer gerade noch rechtzeitig um die Prinzessin zu
retten, aber er ist verwundet, seine Haut weiß wie der Tod und wenig
später stirbt er und Angelica und Spiegel ziehen weiter mit dem
neuen Gefährten Ago Vespucci und sie lassen sich von Andrea Doria nach
Amerika, in die Neue Welt ("Novus Mundus") verschiffen (und Akbar
ärgert es beim Anhören der Geschichte, dass die Westler diese bizarre[n],
unfassbare[n] Männer und Frauen mit Federn, Haut und Knochen "Indianer"
nennen).
Und dann sind wir wieder am Palast von Akbar, der am Tag seines
vierundvierzigsten Geburtstags (das müsste also – folgt man der Historie – 1586
gewesen sein) überlegt, den skurrilen, geschwätzigen jungen Vagabunden
als seinen Sohn anzunehmen. "Seine" Jodha wird in der Imagination Qara Köz immer
ähnlicher.
Aber längst ist Akbar nicht mehr der mächtige Herrscher. Kronprinz Salim, einer
seiner Söhne, ein brutaler Folterer, hatte die engsten Berater seines Vaters in
Hinterhalte geschickt und ermorden lassen und versucht, seinen Vater politisch
zu schwächen. Akbar stärkt dennoch demonstrativ Salims Position als Kronprinz
(mangels Alternative, denn die anderen Söhne sind der Trunksucht verfallen und
noch untauglicher für die Nachfolge). Als Salim heiratet und seine Frau weitere
Intrigen gegen den Fremden spinnt, beginnt Niccolòs Stellung immer fragiler zu
werden. Er soll nun endlich die ganze Geschichte, die ganze Wahrheit erzählen,
denn eine Entscheidung soll fallen (alle Optionen offen – von "Adoption" bis
Exekution). Niccolò bleibt bei seiner Version der Geschichte – Akbar entwickelt
eine andere. Der Grossmogul hat die Geduld verloren und verbietet den
Umgang mit dem Fremden. Niccolò flüchtet mit den beiden Huren Skelett und
Matratze. Akbar, der am Ende noch eine Anweisung zum Entkommenlassen gab,
verfällt abermals in Melancholie ob der Abwesenheit des inzwischen doch
irgendwie liebgewonnenen Kauzes und wir erfahren dann auf der letzten Seite noch
das "Geheimnis" von Niccolò (welches, genauer gesagt, zwei Geheimnisse sind -
beide werden aber hier nicht verraten).
Hölzerne Figuren, bunt kostümiert
Insbesondere wenn die Geschichte zum reflektierenden Akbar geht, zeigt sich die
Schwäche des Buches. Diese Passagen wirken hölzern und das nicht nur, weil sie
im Gegensatz zum sonstigen ostentativen Erzählen stehen. Mit Leben erfüllt
Rushdie nur die Titelheldin; das andere "Personal" bleibt seltsam matt und hat
die Aura einer Folkloregruppe – sowohl im reflexiven als auch im magischen
Erzählen. So nimmt man am Ende mit einer gewissen Gleichgültigkeit dieses
Geheimnis von Niccolò Vespucci auf; eine Figur, die beim Leser auf vierhundert
Seiten kaum Empathie erzeugen konnte.
"Die bezaubernde Florentinerin" ("Die Zauberin von Florenz" wäre die treffendere
Übersetzung gewesen und würde nicht sofort an eine
US-amerikanische Fernsehserie der 60er Jahre erinnern)
ist irgendwie eine Mischung zwischen Scheherazade, Umberto Eco, Robert Louis
Stevenson, einer Prise Lord Byron und – pardon – Karl May. Rushdie gilt
natürlich zu Recht als Vertreter des "magische Realismus", der dezidiert anders
erzählt als die (angeblich so individualistische) westliche, moderne Literatur
(die – zugegeben - allzu oft eine Art lakonischen "Neorealismus" feiert oder
akribisch das Seelenheil der Protagonisten bis in die letzten Verästelungen
ausleuchtet). Insofern geht es nicht darum, Rushdie mit einem klassischen
europäischen oder amerikanischen Erzähler der Gegenwart zu messen. Auch die
Tatsache, dass hier Rekurs auf das 16. Jahrhundert genommen wird, kann nicht per
se gegen den Roman zu sprechen.
Aber wenn bei all diesem überbordenden Erzählen, dieser wuchtig daherkommenden
Fabulierlust letztlich nur ein L'art pour l'art-Sentiment bleibt, wenn
doppelbödiges, hintergründiges, ja diabolisches, ausbleibt oder bestenfalls
Fassade eines kulissenschieberisch agierenden Erzählmonsters wird und wenn es
dabei fast nur noch um schöne Formulierungskünste zu gehen scheint (und – das
ist das ernüchternde und überraschende - so oft keine Sprache gefunden wird,
sondern nur die Worte klingen gelassen werden) - kurz: wenn die Harmlosigkeit
dominiert und Figuren wie bunt kostümierte Holzpuppen wirken, wenn Niccolò
Vespucci, die drei Freunde, die schöne Angelica, der indische Grossmogul und
sein Hofstaat (nebst virtuellen und realen Lustdamen) wie Stereotypen einer
Pappmaché-Märchenwelt wirken und Rushdie als ein Animateur eines virtuellen
Phantasialands daherkommt, dann vermag auch der geduldigste Leser irgendwann
jener Mischung zwischen Ödnis, Übersättigung und gähnender Langeweile nicht mehr
widerstehen zu können und eine Frage schiebt sich in den Vordergrund: Warum [das
alles]?
Und der vielleicht schon mit allerlei "westlicher" Literatur verdorbene
Rezipient ist leider nur teilweise mit Qara Köz' und Spiegels Geschichte
versöhnt. Zu selten wird ein Zauber durch das Erzählte erzeugt – zu oft wird
bloss bebildert. Nein, das hier ist kein Gedächtnispalast, auch kein
Bordell der Erinnerungen. Eher ein kleines Dachstübchen. Gregor Keuschnig
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Begleitschreiben.
|
Salman Rushdie
Die bezaubernde Florentinerin
Roman
Ins Deutsche übersetzt
von Bernhard Robben
Rowohlt
Hardcover, 448 S.
06.03.2009
19,90 €
978-3-498-05783-1
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