Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik


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Die menschliche Komödie
als work in progress


Zum 5-jährigen Bestehen ist
ein großformatiger Broschurband
in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren
mit 176 Seiten erschienen, die es in sich haben.

 

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Zum 5-jährigen Bestehen ist ein großformatiger Broschurband in limitierter Auflage von 1.000 Exemplaren mit 176 Seiten, die es in sich haben:

Die menschliche Komödie als work in progress

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Seitwert

 

Totentanz der Wiedergänger

Sibylle Berg brilliert mal wieder.
Diesmal mit ihrem Roman »Der Mann schläft«.

Von Rolf Löchel

Es gibt da eine Philosophie, die nennt sich die anthropofugale. Unter diesem Markenzeichen propagiert der vielseitig tätige Schriftsteller Ulrich Horstmann die gründliche Auslöschung allen Lebens auf diesem Planeten. Doch wird die Forderung durch die dem Autor eigene Ironie mehr als nur sanft abgefedert. Anthropofugal, das bedeutet jedoch auch noch etwas zweites, nämlich die Menschen zu fliehen. Und in diesem Sinne ist die Ich-Erzählerin von Sibylle Bergs neuem Roman Der Mann schläft eine Vertreterin der anthropofugalen Haltung per excellence. Ebenso wie das übrige Personal des Romans ist auch sie weniger eine Figur aus Fleisch und Blut, sondern vielmehr eine dem altgriechischen Theater entsprungene Person, wobei die Masken von Bergs Figuren-Ensemble für menschliche Zustände stehen. Wenn ein Zwerg „wie kaum ein anderer auf dieser Welt das Prinzip Hass verkörpert“, wird das sogar einmal ausgesprochen.

Doch zurück zur Ich-Erzählerin, einer Frau am Ende der Menopause, nach eigener Wahrnehmung von eher unattraktivem, im Grunde jedoch unbestimmtem Aussehen. Zwar ist sie sich und des Daseins redlich überdrüssig und fest davon überzeugt, dass man die Menschen nicht „ihrer letzten Freiheit berauben“ und „zwingen“ darf, „die achtzig Jahre abzusitzen“. Nur ist sie leider auch „zu feige“, „Hand an [s]ich zu legen“. Und das aus gutem Grund. Denn „selbst wenn einen nichts mehr am Leben hält, ist es doch kein Spaziergang, die Welt zu verlassen.“

Bergs Protagonistin ist nun beileibe nicht die einzige Figur, die Suizidwünsche hegt. Dies tun viele, allerdings mit unterschiedlich stark ausgeprägter Kraft, den Willen zum Leben mittels einer entsprechend nachhaltigen Handlung auch praktisch zu verneinen. Ein alter Chinese versucht etwa „nur ein paar Schnitte“, um dann zu resignieren, sein „Instinkt“ sei doch „stärker als [s]ein Wille“, da halte er eben weiter durch. Trost findet er darin, dass es in seinem Alter „ja so nicht mehr lange weitergehen“ kann. Eine ebenfalls „ältere Dame“, die den Suizid freudig  antizipiert, schildert ihren Sprung aus dem Fenster als „stillste[n] Moment meines Lebens, durch die Luft zu fliegen, nicht einmal Rauschen werde ich hören, und fliegen, endlich fliegen, und wissen, dass ich nie wieder Geräusche hören muss, nie wieder Stimmen.“ Und auch ein älteres Schwulenpaar geht gemeinsam den Weg ins Freie. Es sind also immer die Alten, die ihn suchen und finden. In Bergs Romanwelt zumindest.

Kann sich die Ich-Erzählerin auch nicht überwinden, sich endgültig von der Welt zu verabschieden, so doch ohne weiteres von unliebsamer Gesellschaft. Zu diesem Zweck schützt sie gerne – und zwar vornämlich gegenüber Männern – angebliche Beschwerden der Wechseljahre vor. Das wird aber nur dann und wann einmal notwendig. Denn ebenso wie sie selbst niemanden wahrnimmt, nehmen auch die Menschen kaum einmal Notiz von ihr. „Keiner sieht mich, keiner interessiert sich für mich, man weicht mir aus“. Damit ist sie es auch ganz zufrieden, denn es ist dies „das Höchstmaß an Kontakt, das ich mir vorstellen kann“ mit all diesen „emotionale[n] Krüppel[n] in abstoßenden Hüllen“, diesen „Zellhäufung[en]“, die „aus Versehen ein Mensch geworden“ sind und nun nicht damit zurecht kommen, dass sie denken und fühlen können. Am schlimmsten aber ist, dass sie der „zunehmende Ekel“ vor ihren Spezies-GenossInnen „noch mehr zum Teil einer großen Masse“ macht. Denn wie sie sehr wohl weiß, handelt es sich bei der Misanthropie um „ein sehr verbreitetes Phänomen.“

Der titelstiftende Mann – den die Ich-Erzählerin nie anders als eben so: Mann nennt – wirbelt das anthropofugale Dasein der Protagonistin bald mächtig durcheinander, indem er es in noch ruhigere Bahnen lenkt. Zunächst jedenfalls und vielleicht auch nur scheinbar. Doch immerhin wünscht sie sich in der Zweisamkeit mit ihm „unsterblich zu sein“, ein ihr bislang ganz unbekannter Wunsch. Sie hegt ihn nicht etwa, weil sie sich in den Mann vom Berge bei Ascona Hals über Kopf verliebt hätte. Nein, ganz und gar nicht, erkennt sie ihn doch als kaum mediokren Vertreter seines Geschlechts, weder „auffallend schön oder reich“, noch ein „guter Redner“ und nicht einmal sonderlich charmant. Dafür aber ist er mit einem leichten Plus an Übergewicht gesegnet. Eines jedoch zeichnet ihn vor den allermeisten seiner Mitmänner aus, das aber ist eine wahre „Glanzleistung“: Er gibt einer Frau das Gefühl, liebenswert zu sein. Und diese Frau ist eben die erzählende Protagonistin. So ist er nicht weniger als „die Antwort auf alle Fragen, die ich mir, bevor wir uns trafen, nicht gestellt hatte.“

Das Paar richtet sich in einem Partnerschaftsideal ein; ganz ohne die Wirrnisse der Verliebtheit, sondern mit ruhiger unaufgeregter Zuneigung, die es ihnen ermöglicht, miteinander „in einer Art“ zu verkehren, „wie es junge Tiere tun.“ Ein regressives Glück also, das den Verstand lahm legt, was die Frau allerdings, wenn überhaupt, ohne Bedauern registriert. Denn sie ist „alt genug zu wissen, dass es Glück ist, einen zu treffen, den man so gern hat, dass er einen nie stört.“ Das allerdings ist eine  (womöglich jedoch eher dystopische) Utopie, mindestens so weit entfernt und unerreichbar wie Morus’ Insel, wie denn auch die Protagonistin erfahren muss. Denn bald fährt sie gegen den Mann alles auf, was ihr „an Krieg möglich“ ist. Doch ist das nicht viel mehr als ein „spitz[er] und bös[er] Mund“. Und so bleibt er sogar dann noch stets freundlich und gut zu ihr, so dass ihre Kriegsführung nicht von langer Dauer ist und sie fortfahren kann, das zu tun, was vor ihr noch niemand tat, nämlich eine Liebe „schildern, die ruhig und still verlief, die freundschaftlich war und eine gewisse Niedlichkeit ausstrahlte.“

Die Partnerschaftsbeziehung, die man kaum eine Liebesgeschichte nennen kann, währt dreieinhalb Jahre und ein paar Monate, um dann ebenso banal, wie sie verlief, zu enden. Der Mann kehrt von Zeitungsholen nicht zurück und die Frau sehnt sich fortan nach ihm. Und ebenso alltäglich ist auch, dass sich die Frau ganz grundlos die Schuld am Verschwinden des Mannes gibt. Wäre sie doch bloß nicht auf „[d]ie unselige Idee zu verreisen“ gekommen. Sicher wäre er dann noch heute an ihrer Seite, klagt sie sich an. Gerade so, als ob es am Ufer des Lago Majore keine Zeitungsstände gäbe, was ja nicht sehr wahrscheinlich ist.

Jedenfalls zieht es Bergs Roman-Volk bekanntlich schon immer gerne in fremde Länder an die äußersten Zipfel der Welt. Und so hat es die Protagonistin ihres schlafenden Mannes denn auch auf eine Insel ins südchinesische Meer getrieben, wo ihr letzterer abhanden kommt und sie sich nach einer Zeit märchenhaft „dauerndem Glück[s] und großer Zufriedenheit“ in ihrem „alte[n] Leben“ wiederfindet, das von „ermüdenden Muster[n] und Gedanken“ geprägt ist, „die zu nichts führten außer zu tiefer Verzweiflung und dem Wunsch, sich in einen Lurch zu verwandeln.“ Nur dass nun noch das Verlangen nach dem verlorenen Mann hinzugetreten ist. Dabei weiß sie nur zu gut, dass die Hoffnung „immer nur eine aberwitzige Träumerei der Erbärmlichen“ ist. Doch wie sie aufgeben? So bleibt ihr in der einsamen Ferne am Ende nichts als die unerfüllbare Sehnsucht nach der heimatlichen Spießbürgeridylle zu zweit.

Berg beweist mit dem neuen Roman einmal mehr ihr Vermögen, Inhalt und Darstellung kunstvoll mit einander zu verweben. So wird die vier Jahre andauernde Handlungszeit nicht linear erzählt. Vielmehr wechseln sich (fast) chronologisch erzählte Rückblenden mit einer als „heute“ bezeichneten Gegenwart ab, welche die Protagonistin von morgens bis abends durchleiden und durchlangweilen muss, was die Autorin allerdings sehr unterhaltsam und kurzweilig zu gestalten versteht. Und das obwohl, oder vielleicht sogar gerade weil das Eingangskapitel gegen Ende noch einmal wiederholt und dabei „langsam“ über mehrere Abschnitte zerdehnt wird, wobei sich beide Erzählstränge zuletzt vereinen. Doch was bedeutet der Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart schon angesichts der ewigen Wiederkehr des Immergleichen bei nur unbedeutenden Variationen im uhrwerkgleichen Ablauf der Menschenleben.

Berg formuliert mit der ganzen Wucht Schopenhauers, nur vielleicht noch ein wenig zungenfertiger als der für einen Vertreter des Faches Philosophie ganz außergewöhnlich eloquente Meisterpessimist.
Nicht nur, wie Berg den Inhalt und dessen Darbietung kompositorisch verschränkt, ist brillant. Der Roman ist zudem mit einer schwarzen Galle durchtränkt, die vorzugeben scheint, sich hinter Sarkasmen verstecken zu wollen, so dass er geradezu vor aphoristischen Wendungen, Bonmots und Aperçus birst.

Berg reicht ohne weiteres an die Melancholie und den Pessimismus des weisen Silen, Kohelets und des Timon von Athen heran, an Schopenhauers Meisterschüler Philipp Mainländer, die Stücke Becketts und die Aphorismen Ciroans wie auch an den eingangs genannten Ulrich Horstmann. Sie alle grüßen dann und wann einmal von Ferne. Dabei wird der Roman zwar vom Atem derer durchhaucht, die sich vor Berg an der schwarzen Sonne wärmten, ohne allerdings von ihnen künstlich beatmet zu werden. Nicht alleine, weil ihre Weisheiten nur anklingen, wie etwa die des Mundschenks Dionysos’ in der Bemerkung, „so großartig wie vor dem Leben [werde] das Leben nicht mehr“, oder wie die Erlösungsphilosophie der Entropie, die gerade mal beiläufig als „Zustand“ des Menschen Erwähnung findet, „der nichts will, außer wieder in Ruhe zu liegen“. Von Beckett etwa unterscheidet Berg sich ganz grundlegend durch die Welthaftigkeit, mit der die Autorin die ewigen Wiedergänger Dasein und Gesellschaft zum Totentanz bittet. Und von ihnen allen durch das unsterbliche Glücksverlangen ihrer Figuren.

 

Sibylle Berg
Der Mann schläft
Roman.
Hanser Verlag München 2009.
309 Seiten
19,90 Euro.
ISBN 978-3-446-23388-1


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