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Die Melancholie der Erinnerung Der Band »Ende der Sonntage« beweist einmal mehr das einmalige Erzähltalent des wiederentdeckten Italieners Alberto Vigevani. Ihm gelingt es darin auf einmalige Weise, der Schönheit im Wahren das Wahre im Schönen folgen zu lassen – eine bittersüße Erfahrung. »Der Fokus der Erinnerung lässt sich nicht restaurieren. Es gibt leere Stellen, verwischte Stellen, nicht aufeinander passende Ränder und in größerem Ausmaß Überlagerungen«, schreibt der anonymer Verfasser in Vigevanis Erzählung »Brief an Herrn Alzheryan« an Herrn A. Vigevani selbst kann es nicht sein, denn er ist ein Meister der Erinnerung, der Retrospektive, des Rückblicks. In seinen Erzählungen schillert die Vergangenheit in allen erdenklichen Farben und lässt sämtliche Töne der Klaviatur erklingen, um schließlich weitaus intensiver zu erscheinen, als es jede Gegenwart sein kann. Dies bewies bereits seine im vergangenen Jahr wiederentdeckte Erzählung »Sommer am See«. Einen weiteren Höhepunkt der retrospektiven Erzählung bietet nun der neue Erzählband »Ende der Sonntage«, der zwei einfühlsame, vorsichtige und bedachte Erzählungen Vigevanis versammelt. In diesen trägt Vigevani den Leser in die längst vergangene Zeit der Belle Epoque zurück. Alberto Vigevani war als Autor lange Zeit geradezu verschollen und wurde im vergangenen Jahr von der Friedenauer Presse für den deutschen Markt wiederentdeckt. Seine Erzählung »Sommer am See« sorgte für wahre Begeisterungsstürme unter den Rezensenten und wurde von Zeit-Literaturchef Ulrich Greiner zum Buch des Sommers erkoren. Eine Erzählung von »einer Schönheit, die zu Herzen geht«, so Greiner in seiner Lobeshymne auf das unauffällige Büchlein. Der kleine Familienverlag, inzwischen geführt von Katharina Wagenbach-Wolff, Urenkelin des russischen Verlegers Moritz Wolff, landete damit einen Coup sondergleichen und rechtfertigte einmal mehr seine Preisträgerschaft des Kurt-Wolff-Preises 2006. In der Laudatio hieß es, dass der Verlag »für seine Entdeckerfreude, mit dem er Fundstücke aus der Weltliteratur – insbesondere der internationalen klassischen Moderne – präsentiert« geehrt werde. Nun ist das so eine Sache mit den Wiederentdeckungen, das kann einmal gut gehen und ein anderes Mal auch wieder nicht. Nach dem äußerst erfolgreichen Vigevani-Debüt im vergangenen Sommer war die Entscheidung, zwei weitere Erzählungen aus dessen Feder zu verlegen, sicherlich ähnlich riskant, wie ein Tanz auf Messers Schneide. Doch es hat sich zweifelsohne gelohnt. Mit den Erzählungen »Ende der Sonntage« und „Brief an Herrn Alzheryan“ legt die Friedenauer Presse zwei weitere erstklassige Erzählungen vor, die von einer glückseligen Melancholie geprägt sind. Ihr Verfasser, Alberto Vigevani, wurde 1918 in Mailand in eine Familie des jüdisch-italienischen Bildungsbürgertums hineingeboren. In seiner Heimatstadt eröffnete er auch seine eigene Buchhandlung »La Lampada«, wo sich regelmäßig die Gegner des faschistischen Regimes Italiens versammelten. 1943 floh er vor den Faschisten in die Schweiz, kehrte aber nach Mailand zurück. Dort starb er 1999, nachdem er mehrere Romane, Erzählungen und Gedichte sowie seine Memoiren geschrieben hatte. In der Erzählung »Brief an Herrn Alzheryan« erinnert sich der anonyme Verfasser an seinen Patenonkel und Freund des Hauses. Mit bedachten Worten versucht der Schreiber ein Portrait seines Paten zu zeichnen. Bruchstückhaft ordnet er Erinnerungen und Details zu einem Gesamtbildnis an, welches in seiner Ganzheit und Allgemeinheit schon lange nicht mehr existiert. Letztlich ist die in Briefform verfasste Erzählung eine melancholische Erinnerung an einen Menschen, den der Schreiber doch nie wirklich kennen gelernt hat und doch bis zur Niederschrift des Briefes in besonderer Erinnerung behält. Letztlich war er der einzige aus dem familiären Bekanntenkreis, der dem Knaben in seinen Kindertagen wirkliche kindgerechte Geschenke mitbrachte: »Ich weiß es nicht, aber vielleicht suchten Sie für mich aus, was Sie sich selbst gewünscht hätten, wenn Sie noch ein Kind gewesen wären.« Herr A. verschwand eines Tages wie so oft, doch tauchte er nicht wieder auf. Allein in der Erinnerung des Briefschreibers lebt er fort, melancholisch verklärt und doch im rechten Licht. In der zweiten Erzählung »Ende der Sonntage« wird der Leser Zeuge eines sehnsuchtsvollen Rückblicks an längst vergangene Sonntage, an denen »Signor Cavallini« die Kinder seines Viertels als Gaukler unterhält. Mit reger Vorfreude zogen die Kinder an den Sonntagen durch die Straßen und Gassen der unbekannten Stadt und lauerten auf Signor Cavallinis spontane Vorstellungen. Dieser wusste die Sonntage der Kinder nicht nur mit seinen Kunststückchen zu verzaubern, sondern vor allem auch mit seinem schauspielerischen Talent, das ihn in verschiedene Rollen und Dialekte schlüpfen lässt. Diese Erzählung zeigt somit auch Vigevanis Gefühl für die Wirkung von sprachlichen Besonderheiten und deren gesellschaftlichem Gewicht. Eine wahre Freude ist es, diese sprachliche und stilistische Entfaltung des Feingeistes Alberto Vigevani lesend nachvollziehen zu können. Auch im »Ende der Sonntage« ist es die Melancholie der Erinnerung an längst vergangene Tage, die die Geschichte trägt: »Nicht einmal die Zeit, allem nachzuweinen hatten wir, merkten es nicht einmal, so schnell schleuderte uns die Jugend, als wir noch zarte Geschöpfe waren, bitteren Enttäuschungen entgegen, die einen dahin, die anderen dorthin.« Cavallini verkörpert in der Erzählung den Typus des Künstlers der belle Epoque, abgemagert und lange bulgarische Zigaretten rauchend. Wie ein Weckruf schüttelt es den Leser aus dem lieblichen Traum der Erzählung, als er am Ende der Erzählung vom abrupten Suizid des smarten Künstlers und Kinderherzeneroberers Cavallini erfährt, der sich eines Tages »mit einem Revolver ins Herz« schoss. Ein Schuss nicht nur ins Herz des verkappten Artisten, sondern ein Schuss ins Herz des Lesers, der jäh aus der melodiösen und rhythmischen, harmonischen Erzählung gerissen und in die Bitternis der Realität zurückgeworfen wird. Doch auch das ist Vigevanis Kunst, der Schönheit im Wahren das Wahre im Schönen folgen zu lassen, auch wenn es noch so zerstörerisch ist. »Einsame
Sonntage hab ich zuviel verbracht. Heut mach ich mich auf den Weg in die lange
Nacht. Bald brennen Kerzen und Rauch macht die Augen feucht. Weint doch nicht
Freunde, denn endlich fühl ich mich leicht. Der letzte Atemzug bringt mich für
immer heim. Im Reich der Schatten da werd ich geborgen sein. Trauriger Sonntag.«,
lautet es im berühmt gewordenen Lied der Selbstmörder
»Gloomy
Sunday«.
Wahrscheinlich war es die innere Einsamkeit hinter der Maskerade des Künstlers,
die Cavallini zum Revolver haben greifen lassen. Für Alberto Vigevani war es
wohl die Melancholie des Rückblickes, die ihn zum Schreiben solch fantastischer
Erzählungen veranlasst haben. Welch ein Glück. Thomas Hummitzsch |
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