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Der Geheimrat
mit siebzig Goethe war gut. So sang Rudi Carrell 1978. Er beneidete im Refrain die Reimkunst des Klassikers und spielte in seinen Strophen mit Anspielungen auf Ehe und Sex. Martin Walser hingegen bewunderte 1982 in seinem Theaterstück In Goethes Hand. Szenen aus dem 19. Jahrhundert wenig am alten Goethe und seinem großen Spätgedicht der Marienbader Elegie. Eher wunderte und mokierte Walser sich vor 25 Jahren über die Dienst- und Verzichtsfähigkeit des treuen Gehilfen Eckermann. Wozu Goethe nun alles gut ist, wird die Öffentlichkeit dieser Tage schon bemerkt haben, lange bevor sie Anfang März Walsers neuen Roman Ein liebender Mann in den Buchhandlungen erwerben kann. Da gibt es einerseits die FAZ, die erstmals nach dem harschen Disput über Walsers vermeintlich antisemitische Literaturbetriebssatire Tod eines Kritikers wieder einen Walser-Roman vorabdruckt. Und damit nicht genug, macht Schirrmachers Team, immer auf der Suche nach der Lufthoheit über die intellektuellen Debatten des Landes, diesen Roman über Goethes Liebe zur 55 Jahre jüngeren Ulrike von Levetzow zugleich zum zweiten Gegenstand seines Online Reading Rooms. Nach den historischen Kommentaren zu Jonathan Littells umstrittener Fiktion über die Kriegs-Erlebnisse eines SS-Manns, Die Wohlgesinnten, versammelt die FAZ nunmehr ein Dutzend Goethe-Spezialisten, die Walsers Inszenierung des alten Dichterfürsten kommentieren sollen.
Die solcherart
angerührte öffentliche Diskussion über einen wichtigen neuen Roman und die
Versorgung des Publikums mit Hintergrundinformationen
zu Goethe Leben und Alterswerk nebst Hinweisen auf die Geschichte des
Goethe-Bildes im Wandel der Zeiten ist natürlich zu begrüßen. Das Internet
bietet für solch umfassendere Kommentierungen und Debatten das richtige
Medium. Man darf der FAZ gratulieren zum Coup, die Debatte auf ihren Seiten
zu konzentrieren, und damit die Stimmenvielfalt, die das Internet
auszeichnet, tendenziell zu monopolisieren. Irritierender ist dann schon,
wie der Autor, der Verlag und andere Medien mit dem Buch umgehen, in dessen
Rezensionsexemplaren sich die Bitte findet, keine Besprechungen vor dem
Erstverkaufstag, dem 7.3.2007 zu publizieren. Ulrich Greiner hat das Buch
schon in der
ZEIT vom 21.2.2008 hymnisch
lobend besprochen (). Der Autor selbst gab im Interview mit dpa zu
Protokoll, die neuerliche Thematisierung einer Liebe über alle Altersgrenzen
hinweg anhand einer Lebensepisode Goethes verstehe er auch als
immunisierende Reaktion auf die Vorwürfe einiger Kritikerinnen
(„Altmännerliteratur“), die seine Romane Der Lebenslauf der Liebe;
Der Augenblick der Liebe und Angstblüte provozierten:
Bevor die breitere
Öffentlichkeit den Roman lesen kann, dürfen wir also vorab festhalten:
Goethe ist gut, um moralische, ästhetische oder gendertheoretische
Vorbehalte gegenüber Altersliebe abzublocken. Aber auch: Goethe ist gut um
sich mit der FAZ zu versöhnen. Und weiterhin: Walsers neuer Roman ist gut,
um sich mit Goethes Alter, seinen Aufenthalten in Kurbädern und seiner
Marienbader Elegie zu befassen, wie es die FAZ dankenswerter Weise tut.
Martin Walser nutzt dieses Fehlen von Briefen indem er im dritten, abschließenden Teil seines Romans, diese Briefe Goethes kurzerhand selbst dichtet (was ihm, laut Interviews, die allergrößte Schreibfreude bereitet habe – und den ganzen Roman flott binnen zwei Monaten, in einem böhmischen Grand Hotel logierend, hervorsprudeln ließ). Daß die 95 jährige Ulrike von Levetzow am Ende des Jahrhunderts, seit Jahrzehnten von Goethe-Bewunderern bestürmt und bedrängt, kurz vor ihrem Tod zu Protokoll gab, „Keine Liebschaft war es nicht“, bremst den im Alter bewundernswert produktiven Dichter vom Bodensee keineswegs. Sein Buch schildert im ersten Teil Goethe im Glück der 1823 ausbrechenden Liebe zu dem Mädchen, das er durch die Bekanntschaft zu ihrer Mutter schon Jahre zuvor als Kind kannte. Plötzlich, ausgelöst durch fixierende Blicke der jungen Dame, ist die 19 Jährige zu einer unwiderstehlich attraktiven, weil neugierigen, selbstbewußten und kaum koketten Frau geworden. Der Weimarer verbringt seine Zeit im Kurbad nur allzu gerne mit Ulrike, deren gewitzte Konversation ihn verjüngt – meist trifft man sich allerdings züchtig im Kreise ihrer Mutter und ihrer zwei jüngeren Schwestern. In einer Pause des Kostümballs, der zur Apotheose des als Werther und Lotte verkleideten ungleichen Paares zu werden schien, fällt der verliebte Alte und lädiert sich das Gesicht. Eindringlich versteht der Peinlichkeitsspezialist das Gefühl der Erniedrigung auszubuchstabieren, daß solche körperlichen Insuffizienzen in der Seele des lebens- und liebeshungrigen Greises auslösen. Nach der distanzierten Aufnahme seines durch den Weimarer Großherzog übermittelten Heiratsantrags muß Walsers Held im Mittelteil zunehmend die schmerzlichen Seiten der Liebe erleiden; zuerst noch in der dritten Person. Auf den letzten Hundert Seiten dichtet Walser dann Goethes Briefe an die (im Straßburger Internat) ferne Ulrike. Ergänzt werden diese allzu jugendlich oder walserisch klingenden Brieferfindungen mit Passagen im style indirect libre. Die malen das liebeswunde Innenleben des Sehnenden, Hoffenden und Verzweifelten ebenso aus, wie seine Mühen, die Weimarer Verpflichtungen gegenüber der Familie und der Welt, die einer solchen Liebe feindlich begegnen, zumindest fassadenhaft zu erfüllen. Dieser dritte Teil ist zweifellos ziemlich mitreißend. Es lohnt sich also, auch den gelegentlich repetitiven Schwärmereien des Beginns und den langatmig ausgebreiteten Zweifeln und Schmerzen der Mitte zu trotzen. Allerdings ist dieser großartige Schluß, bis auf die in Gänze abgedruckte Goethesche Marienbader Elegie, eben großartiger Walser und nichts als Walser! Und dieser für pathetische Niederlagen, große Gefühle und mikroskopierte Peinlichkeiten so gekonnte Walser-Ton hat mit Goethes klassischer Gedämpftheit so wenig zu tun, wie mit der Gefaßtheit seiner Reflexionen und Maximen. Walsers Goethe schmachtet ganz fern von der Sachlichkeit der Wanderjahre oder dem zitatenhaft-archivarischen, ‚klassisch-romantischen’ Formenkosmos des Zweiten Faust. Walsers Schilderung von Goethes Liebesleid liest sich wunderbar. Doch ist diese Sprache von Goethes lyrischem Spätwerk ebenso entfernt wie einen die Albernheiten der Abkürzungssprache befremden, in der sich die Levetzow-Töchter verständigen, und die Goethe hier gerne übernimmt. Das Versprechen permanenter Erreichbarkeit, „Keine Veränderung des Ortes ohne Mitteilung“, lautet in der Privatsprache des von Walser zum Liebespaar stilisierten ungleichen Paares „KVdOoM“. Bei dieser Einverleibung Goethes, oder genauer: im Einnisten seiner Sprache und Psychologie in die Lebenslage des alten Goethe, verfährt der heutige Autor durchaus nicht ohne Raffinesse. Den allfälligen Anachronismus-Vorwurf bestimmter Projektionen unterläuft er geschickt, indem er seinen Goethe explizit – doch heimlich, für sich, privatissime – über faktisch Ungesagtes meditieren läßt. So bekennt Walsers Dichterheiliger vor dem Spiegel sein sprachschöpferisches Versagen angesichts des Genitals: „Aber da, zwischen den weich und nachgiebig werden wollenden Lenden, sein Geschlechtsteil, das ein Leben lang den Ehrgeiz hatte, das Ganze zu sein. Er hatte den machtlüsternen Ehrgeiz dieses Teils ein Leben lang zähmen müssen. Das war nicht immer gleich gut gelungen. […] Dass das Teil, in der Sprache, in der das Leben doch erst zu sich selbst kommt, nicht erscheinen darf, es sei denn lateinisch oder verballhornt, ist eine Schande. Sag ruhig: eine Kulturschande. Zu deren Überwindung hast du nichts getan. […] Er entschuldigte sich wieder einmal bei seinem Teil.“ Und bevor im Roman die Marienbader Elegie in toto abgedruckt wird als Teil eines Briefs an Ulrike, läßt Walser seinen revisionistischen Goethe über das nunmehr hinfällige, therapeutische Verhältnis von Werk und Leben reflektieren: „Was habe ich nicht alles in die Welt gesetzt über die Gründe des Schreibens. Ganze Schulen suchen Heil in meinen Geständnissen, die besagen, daß man schreibend mit allem fertig wird, was einen, schriebe man nicht, umbringen könnte. Von Werther an. Und jetzt, liebe Ulrike! Ich habe die Elegie geschrieben. Zum ersten Mal hilft es nicht, geschrieben zu haben. […] Ich möchte sein wie die Elegie. So gefaßt.“ Der Roman-Goethe dementiert mithin das landläufige Bild vom weisen, gefaßten und souverän resignierenden Alten. Gegen Ende erkennt der Niedergeschmetterte: „Er hätte seine Kraft nicht im Affentheater der Entsagungs-Schau vergeuden dürfen, sondern im Kampf gegen Ulrikes Gegenwart in ihm selber.“ So schafft sich der heutige Autor den Raum für die eigenen, pathetischen Bilder des beklagenswerten Alters, für die Schmerzensorgien des Mannes, der zum ersten Mal eindrücklich erfährt, wie sich Zurückweisung anfühlt. Eine Lebenslage, die er bisher immer den anderen zugemutet hatte. Und hier ist der 80 jährige Romancier und Gefühlserkunder ganz in seinem Element. Einfühlsame Bilder aufwühlender Altersliebe hatte Walser ja schon in seinen vorigen Romanen entworfen. Aber die entscheidende Frage bleibt: Wozu Goethe? Was ist der historische oder literarische Mehrwert, wenn ein heutiger Schriftsteller Lebensprobleme an Figuren der Geschichte durchspielt? Gut, man mag sich freuen, auf wie gekonnte Art hier biographisches Bildungswissen über Goethe und sein Umfeld inszeniert wird. Etwa wenn der betagte Dichter gleich zu Beginn die Galerie seiner Lieben in Form von lakonisch verdichteten Ultrakurz-Portraits Revue passieren läßt: „Einem weiteren Sommergeplänkel ließ sich entgegensehen. Dann dieser Blick, der alles veränderte. Da musste Sessenheim auftauchen, Friederikes bloße Mädchenhaftigkeit. Augen, in denen es heftig zuging, aber alles immer so schnell wechselnd, als müsse jede Stimmung, wenn sie deutliche werden will, sofort verlassen werden. […] Und dann Charlotte Buff, die große Sentimentale, die das Universum in einen Seufzer fasste und es darin untergehen ließ. Er steigerte, was sie in ihm geweckt hatte, ins Allergrößte. Werthers Lotte. Mit Recht beschwerte sie sich nachträglich über das, was er in der Novelle aus ihr gemacht hatte. Werthers Lotte, das war er, genauso wie Werther. Und Christiane, das große Gefühl, das sich nicht zu groß war für jede Anpassung.“ Dann Marianne, die „es auch schaffte, sich bis zur Selbstaufgabe anzuverwandeln. Aber das nur als Kostümball. Als kulturelle Sensation.“ Und nun Ulrike: „Zwei Jahre Mädchenzauber aus lauter stimmungsvollen So-nicht-Gemeintheiten.“ Freuen oder ärgern mag man sich über Walsers Gestaltung von Goethes schwieriger Schwiegertochter Ottilie, deren Eheprobleme und deren gutes Verhältnis zum Schwiegervater historisch verbürgt sind. In diesem Roman äußert sie ihre Besitz- und Erbansprüche am Weimarer Familienvorstand freilich angesichts seiner Verliebtheit (und gar seiner Heiratspläne) als doch arg hysterische Furie. Von besonderem Interesse ist natürlich, wie anschaulich und überzeugend das Portrait der jungen Ulrike von Levetzow gelingt. Walser möchte sie ja, zwecks Ehrenrettung Goethes (vor dem Vorwurf, ein irregehender Lustgreis zu sein) von einer unbedeutenden jungen Gesellschaftsdame zu einer fesselnden Persönlichkeit promovieren. Ulrike erscheint hier ganz fortschrittlich, dem Modernen zugewandt. Sie interessiert sich für Wissenschaft, Technik und schwärmt für die Maschinen, die der zukunftsskeptische Goethe in den Wanderjahren als bedrohliche Neuerungen inszenierte. Nach ihrer überaus nüchternen Rezitation aus Walter Scotts Romanen wird sie als genuin ungekünstelte, sachliche Person geschildert. Der Charakter des Mädchens entspräche damit Goethes lakonischem Alterstil – der freilich vom immer noch eher stürmerisch und drängerisch formulierenden Walser und dem stürmischen Habitus seines Helden konterkariert wird: „Ihre Natur weigerte sich, etwas zu produzieren, was nicht aus ihr selber kam. Sie war gegen alles Künstliche. Und sei es Kunst. Sie war die Sachlichkeit selbst. Die Unverbiegbarkeit. […] Kein Ausdruckswille ihrerseits.“ Weiblichkeit als reine Natürlichkeit ist freilich ein kaum weniger stereotypes Gegenmodell zur Vorstellung von Frauen als dem gezierten Geschlecht, der koketten Künstlichkeit. Als geschickt erfundenen Katalysator läßt Walser einen jüngeren, hypervirilen Konkurrenten um Goethes Geliebte auftreten, den reichen Schmuckhändler de Ror, der gar noch mit künstlichen, hergestellten Diamanten handelt. Auch diesen Widerstreit von natürlicher Grazie versus gezierter Schmuckträgerei hatte Walser übrigens im vorigen Roman schon inszeniert anhand seiner Fernsehmoderatorin Gundi und ihren wechselnden Bekenntnissen zu totaler Schmuckabstinenz respektive zum Tragen ausgewählter Preziosen. Natürlich gehört die fortschreibende Variation eigener Themen zu den so üblichen wie legitimen Mitteln von Spätwerken. Von beinahe allzu kunsthandwerklichen, dramaturgischen Fähigkeiten und überzogener symbolischer Maniriertheit zeugt auch die Schlüsselszene zur Konkurrenz und Eifersucht auf einem Ball. Der blenderhafte Schönling Herr de Ror tanzt artistisch mit Ulrike. Alle bestaunen das jugendlich über die Tanzfläche fliegende Paar, als ein junger Goethe-Bewunderer den schmucken Konkurrenten attackiert, von dem körperlich Überlegenen aber niedergestreckt wird. Zur – natürlich nur äußeren – Beruhigung der Gesellschaft nach diesem Tumult eilt Graf Klebelsberg, Ulrikes Stiefvater in spe, ans Klavier. Er trägt Schuberts geniale neue Vertonung von Mignons sentimentalem Gedicht Nur wer die Sehnsucht kennt vor und dann auch noch dessen avantgardistisches Lied nach Goethes Erlkönig-Gedicht; zwei der gefühlsstärksten Popsongs des jüngeren Goethe. Dieser Beitrag zum schon für ausgestorben gehaltenen Genre des Goethe-Romans (das im 19. Jahrhundert eifrig blühte und bei Thomas Mann zum krönenden Abschluß gekommen schien) ist also zuvorderst ein Walser-Roman. Dabei kann der mit einer bewundernswerten Altersproduktivität gesegnete alemannische Autor sich bei seiner emotional aufputschenden Verjüngung des alten Goethes durchaus auf dessen Formulierung gegenüber Eckermann berufen, wenn er schreibt: „Einige Naturen erleben eine wiederholte Pubertät, während andere nur einmal jung sind. Das ist kein Künstlerprivileg. Es ist kein Geschenk der Natur. Es will erworben sein durch Arbeit.“ Und fraglos sind die Stimmungen und Analysen des Alters, die wir in diesem Roman finden von großer Anschaulichkeit und zeugen von psychologischer Kühnheit und dichterischer Kraft.
Doch war Walser, den
man in dieser Hinsicht mit dem amerikanischen Meistererzähler Philip Roth
vergleichen kann, schon zuvor mit selbsterfundenen, heutigen Figuren als
fulminanter Fabulierer der Lebensalter etabliert. Seine so sensiblen wie
unverstellten Erkundungen der Übergangsphasen von Kindheit und Alter sind
Glanzstücke psychologischer Sprachkunst. Insofern bleibt ein gemischtes
Fazit angesichts der kardinalen Frage: Wozu Goethe? Für Walser-Fans ist das
fraglos ein unbedingt lesenswertes Buch; auch wenn man seine strittigen
Bilder von Altersliebe mutiger und aktueller finden mag, wenn sie ohne den
vorgeschobenen Nationalheiligen dargeboten werden. Für Goethe-Liebhaber ist
diese doch arg grelle, phantasievoll übersteuerte Veranschaulichung von
Goethes letzter Liebe ein zwiespältiges Vergnügen. Wie Filmbilder drohen
sich Walsers heutige Sprache und sein Innenwelt-Panorama des späten Goethes
vor dessen Lebenszeugnisse und vor allem: vor dessen kühnes literarisches
Spätwerk zu stellen. In dieser Hinsicht bleibt ein zurückhaltendes,
quellennahes Buch wie Sigrid Damms Goethes letzte Reise (2007) gewiß
die diskretere narrative Annäherung an die letzten Jahre unseres
Überklassikers. Bernd Blaschke |
Martin Walser |
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