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Salut
au Monde –
Der amerikanische
Schriftsteller Walt Whitman (1819–1892) gilt als Begründer der modernen
amerikanischen Dichtung. Ohne sein Lebenswerk »Grasblätter« wäre T.S. Eliots
Langgedicht »Das öde Land« wohl kaum denkbar. Nicht umsonst wird Whitman als der
amerikanische Homer und Dante Amerikas verehrt. Seine prosaischen, freien Verse
haben die amerikanische Literatur geprägt, wie kein zweites dichterisches Werk.
Aber auch auf den europäischen Expressionismus hat Whitmans Lyrik einen
wesentlichen Einfluss gehabt. Umso größer waren Schmerz und innere Zerrissenheit über den amerikanischen Sezessionskrieg. Seine Hoffnung, die Südstaatler würden auf die Sklaverei verzichten, bevor sie gegen die Nordstaaten in einen Bürgerkrieg ziehen, erfüllte sich nicht. Die Wahl Abraham Lincolns zum amerikanischen Präsident 1860 führte zur Abspaltung der konföderierten (Süd-)Staaten und löste den Krieg aus. Lincoln rechtfertigte den blutigen Krieg des Nordens gegen den Süden zwei Jahre später als Kampf gegen die Sklaverei. Bei der legendären Schlacht in Gettysbury 1864 gelang den Nordstaaten der Durchbruch und 1865 mussten die Südstaaten kapitulieren. Lincolns Position setzte sich durch und somit bestätigte sich Whitmans Vorahnung, dass spätestens der Bürgerkrieg die Sklaverei beenden würde. In den Jahren 1865 bis 1870 wurde die Sklaverei konstitutionell abgeschafft und die ehemaligen Sklaven erhielten die amerikanischen Bürgerrechte. Lincoln selbst konnte die Früchte seines Kampfes nicht mehr ernten. Er wurde 1865 bei einem Theaterbesuch ermordet. Für Walt Whitman war dies nicht nur großer menschlicher Verlust, sondern auch ein tragischer Moment für Amerika. Dem ermordeten Präsidenten widmete er daher sein Gedicht »O Käpt’n! mein Käpt’n“, das er mit den Versen beschließt: »Vor Anker sicher liegt das Schiff, gelungen ist, zu Ende unsre Reise, / Nach schlimmer Fahrt läuft ein der Sieger mit erstrittnem Preise; / Ihr Ufer jubelt, klingt, ihr Glocken! / Doch ich in Schmerz und Not, / Ich bin an Deck, da liegt mein Käpt’n, / Gefallen, kalt und tot.« Mit diesen Zeilen traf Whitman die Befindlichkeit eines Großteils der Amerikaner. Dies war jedoch eine Ausnahme, denn »O Käpt’n! mein Käpt’n« blieb Whitmans einziges, zu Lebzeiten populäres Gedicht.
Whitman war die utopische
Programmatik seiner Dichtung bewusst, wenngleich er sich das Scheitern seiner
Verse zu Lebzeiten eingestehen musste. So schreibt er in einem Resümee seines
dichterischen Schaffens zwei Jahre vor seinem Tod, dass »aus einer weltlichen
und geschäftlichen Sicht die ‚Grasblätter’ Schlimmeres als ein Fehlschlag
waren.« Und weiter heißt es: »Über ihren Wert wird die Zeit urteilen.«
Whitman wurde 1819 als
zweites von acht lebenden Kindern geboren. Er wuchs in Long Island und Brooklyn
auf und besuchte ab dem Alter von fünf Jahren eine Grundschule, die er jedoch
bereits mit elf Jahren verließ. Zunächst arbeitete er bei einem Anwalt als
Schreiber, begann jedoch schon bald eine Ausbildung in einer Druckerei. Dort
eignete er sich journalistische Grundkenntnisse an und begann, Dramen von
Shakespeare, Homer und Dante zu lesen. Autodidaktisch machte er sich mit der
Weltliteratur vertraut und arbeitete dann als Lehrer, bevor er ab 1839 als
Journalist regelmäßig für verschiedene Zeitungen schrieb. In dieser Zeit formten
sich seine linkspolitischen Ansichten. Ab 1848 war er als Herausgeber einer
Zeitschrift der Anti-Sklaverei-Bewegung tätig.
Schon der Titel
»Grasblätter« (Engl. Orig. Leaves of Grass) machte die Unkonventionalität
seiner Literatur deutlich. Whitman wich vom gewöhnlichen Sprachgebrauch ab, denn
Grasblätter gibt es in dem Sinne ja nicht. Allgemein spricht man auch heute noch
von Grashalmen (Engl. Blades of Grass). Whitman verwies bereits mit der
Wahl des Titels auf das Neue, Revolutionäre und Individuelle zwischen den
Buchdeckeln. Einmal angefangen, sollte Whitman bis an sein Lebensende an diesem
Gedichte-Konvolut schreiben und editieren, mit dem Ziel, keine Facette Amerikas
zu vergessen. Dies führt zu zahlreichen, katalogischen Aufzählungen, die sich
über mehrere Seiten hinziehen und deren Lektüre durchaus auch Anstrengung
verursacht.
Schrieb Whitman nicht über
die Faszination der zwischenmenschlichen Beziehungen, dann erfasste er in seinen
Versen vor allem die (entwicklungs-)politischen, sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Zustände der USA aus ihrer Historie heraus. »Es schien mir …, dass
die Zeit gekommen ist, um über alle alten und neuen Themen und Dinge im Lichte
der Ankunft Amerikas und der Demokratie nachzudenken.« Er nahm damit die
Funktion des dichtenden Historikers und Soziologen der Vereinigten Staaten ein.
Wie sich Alexis de Tocqueville den USA mit seiner Schrift Ȇber die Demokratie
in Amerika« soziologisch annäherte, vollführte Whitman seine Analyse des
amerikanischen Staats- und Bürgerwesens auf lyrische Art und Weise. Als
Nationalliterat hatte er die zahlreichen Höhepunkte und Tiefschläge der
amerikanischen Geschichte in seinen Grasblättern verarbeitet. Auf dem Höhepunkt seiner Dichtung befand sich Whitman, als sich seine Heimat in der tiefsten historischen Krise befand. Die tragischen Ereignisse der Sezessionskämpfe in den 1860er Jahren und seine damit verbundenen persönlichen Erlebnisse führten zu einer von allen Beschränkungen befreiten Dichtung von seltener Intensität und Strahlkraft. Die unter »Trommelschläge« sowie »Erinnerung an Präsident Lincoln« versammelten Verse gehören unzweifelhaft zu den ausdrucksstärksten und eindringlichsten Zeilen der Weltliteratur. Sie entführen zunächst zu den Aufmärschen und Militärparaden (man meint noch den Trommelwirbel und die Marschmusik zu hören) zum Beginn des Sezessionskrieges und lassen noch die Hoffnung auf ein schnelles Ende und die Wiedervereinigung der Nation anklingen. Die späteren lyrischen Berichte von den Schlachtfeldern und aus Lazaretten sind hingegen von Lethargie und Kriegsmüdigkeit geprägt, erzählen von Wunden und Schmerzen, Trauer und Tod. Hier schreibt Whitman eine Geschichte der USA, die nichts als verbrannte Erde hinterlässt. Besonders eindrucksvoll sind die Gedichte »Des Hundertjährigen Erzählung«, in dem Whitman die historische Tragik des Sezessionskrieges als geradezu deckungsgleiche Wiederholung des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges deutlich macht, sowie »Der Wundpfleger«, in dem er autobiografisch seine Erlebnisse als Sanitäter in Washington beschreibt. Zugleich schuf diese Katastrophe aber auch die Grundlagen für den Aufstieg einer neuen und selbstbewussten Nation. Nach dem Sezessionskrieg begleitete Whitman die politischen und sozialen Verhältnisse der Vereinigten Staaten. 1871 sorgte er mit seiner kritischen Schrift »Demokratische Ausblicke« nochmals für Aufsehen. In dieser setzt er sich kritisch mit der Kapitalisierung des amerikanischen Lebens nach dem Bürgerkrieg auseinander und stellt dieser die Idee einer egalitären demokratischen Kultur und Gesellschaft entgegen. Er arbeitete auch immer wieder an seinen »Grasblättern«, strich einzelne Teile heraus und fügte neue Verse hinzu, schrieb neue Strophen, um alte zu ersetzen. 1873 erlitt er einen Schlaganfall und war infolge nur noch stark eingeschränkt arbeitsfähig. 1892 stirbt Whitman und hinterlässt ein Werk, das erst nach seinem Tod entdeckt und seine ganze Kraft entfalten konnte.
Jürgen Brôcans
beeindruckender editorischer Leistung ist es zu verdanken, dass Whitmans
sämtliche Gedichte nun erstmals in ihrem Kontext – versehen mit zahlreichen
Interpretations- und Hintergrundinformationen – zu lesen sind. Zu
Neuübersetzungen ist es nur dort gekommen, wo die bisherigen Übertragungen
undeutlich oder falsch waren. Brôcan ist es zu verdanken, dass wir diesen großen
Dichter Amerikas, der den Aufbruch seiner Nation aufmerksam begleitet und in
Versform gebannt hat, nun wiederentdecken und heute noch einmal den historischen
Momenten beiwohnen können, in denen eine ganze Nation der Welt ein
selbstbewusstes »Salut au Monde« entgegen ruft. |
Walt Whitman
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