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Metropolenminiaturen
Lothar
Struck über Wolfgang Hermanns poetische Versuche der
»Konstruktion einer Stadt«
»Dieses
Buch schrieb ich im Bauch von Berlin, als die Stadt noch ein ummauertes,
gefesseltes Tier war.«
Vielleicht steht es einfach zu früh dort – in dieser kurzen, kursiv gesetzten
Einleitung: Dieses Buch sei im Bauch von Berlin geschrieben worden als
die Stadt noch ein ummauertes, gefesseltes Tier war. Es handele sich um
Protokolle des Verlusts, so der Autor. Vielleicht hätte aber dem Leser der
Untertitel "Versuche" zu diesen "Konstruktion einer Stadt" zunächst einmal
genügt; die Spuren, dass hier aus einer vergangenen Zeit erzählt wird (abgesehen
von zwei Exkursen: einem fast restaurativ anmutenden Idyllenszenario, stark
erinnernd an die Emmanuel Bove-Welt beispielsweise aus "Meine Freunde" oder
"Armand", und, ziemlich am Anfang, einer kruden Weltapokalypse) hätten sich wenn
nicht sofort, so doch im Erzählten langsam ergeben. So lehnt man sich zurück und
staunt ob dieser so unendlich fern liegenden einundzwanzig (?) Jahre, in der
hier noch einmal eine Großstadt aufscheint (viel mehr als diese Großstadt dann
diese Zeit). Wie fast niedlich dieses mobilfunklose Treiben da plötzlich
erscheint, obwohl die "Protokolle" des Erzählers auch damals schon kein Glück in
den Gesichtern der Fußgänger, Nachtschwärmer, Nachmittagsspaziergänger, Voyeure,
Barmänner, Trainingshosenträger, Betrunkenen und/oder Beschäftigungslosen
entdecken.
Hermann schreibt in einer expressiven Einleitung vom welken und stummen Leben
der Städter (und setzt dabei Städter unterschwellig als synonym für den [post-?]modernen
Menschen), deren Poren verstopft sind. Sie wagen sich nicht aus ihren
kleinen Häusern, denn Sterben vor Angst, das ist Gesetz. Lieber Maus sein
als einmal freien Wind atmen. Und sie fragen 'Warum bin ich hier', sie
verstehen nicht, aber es muss etwas mit Gott zu tun haben, dem namenlos
Beispielgebenden. Und sie übertreiben, um das Maß wiederzufinden. Da ist es
folgerichtig, dass, wenn die Intervalle der Ampeln für Fußgänger zu kurz
sind, diese sich einander anrempeln. Die Gesichter der Vorübergehenden
sind ganz eingenommen von der Rauheit und Hektik dieser Zone, Blitze anstelle
von Blicken, Gemurmel, Wortfetzen. Und sosehr sich die Gehenden auch
fragten, wer sie waren, es blieb ihnen dunkel.
So changiert Hermann nicht nur vom essayistisch-Philosophischen ins
Beschreibende, dann ins mäandernd-Erzählende und wieder zurück – sondern
variiert auch Sprache und Perspektive. Mal ist der Erzähler jemand, der einen
Freund in der Stadt besucht, dann ein Briefeschreiber, ein Gartenbesucher oder
ein Tag- oder Nachtträumer. Dies neben Beobachtungen eines im Hintergrund
agierenden Voyeurs, nein, besser: Schauers. Hermanns Buch verblüfft ob seiner
Vielschichtigkeit; fordert den Leser heraus.
Klar ist, dass es sich nicht um typische (profane) Stadt- bzw. Flaneurprosa
handelt. Zu intensiv diese Kontraste zwischen Expression und Impression,
zwischen Beschreibung und epischem Notat, zwischen Hyperzeitlupenverdichtung und
ratterndem Bildergewitter. Hermann widersteht dabei sowohl der Versuchung, die
Figuren mit einem künstlichen Exotismus zu überzuckern (und damit einer gewissen
Putzigkeit auszuliefern) als auch der Gefahr, in eine verbissene,
kulturkritisch-soziologische Attitüde zu verfallen. Es bleibt immer möglich,
dass wir uns plötzlich wir selber in einem Hermann-Bild stehen sehen.
Unweigerlich assoziiert der Leser irgendwann "Paare, Passanten" von Botho Strauß
oder wird an Peter Handke erinnert, etwa bei dieser sehr schönen Miniatur über
Flipperspieler (übrigens auch eine Relikt-Erzählung).
Obwohl Hermanns Impressionen überwiegend aus sonnenlosem Herbst (der Zeit, in
der man längst vergessene Freunde wiedersieht) und dunklem Winter heraus
erzählt werden, handelt es sich nicht um pseudo-melancholische Trübsinnsprosa.
Zwar gibt es gelegentlich ganz schön viele Krähen nebst passendem Nebel. Aber in
den (zahlreichen!) gelungenen Szenen findet man wunderbare Bilder, etwa wenn die
langgezogenen Gesten und Blicke der letzten Versprengten derer notiert
werden, die aus einer Bar frühmorgens wie aus einer anderen Welt schauen.
Oder wie mit einem Mal ein Flaneur die Gesichter der Gehenden versteht
und alleine durch sein Anschauen bei den Passanten Reaktionen erzeugt. Oder die
brütende[n] Gestalten am Tresen der Bar und in einem Winkel ein
übernächtigtes verirrten Paar das flüsterte (man möchte wissen was, aber der
Erzähler bleibt diskret).
Oder wenn aus einer bloßen Beschreibung plötzlich ein Raum entsteht, wie zum
Beispiel im Zoo, der Elefant, an hinter- und Vorderfüßen angekettet, wippt
er nach vor und zurück. Er ist alt wie Stein. Vor den Augen der Zoobesucher
wird er niemals sterben. Er schließt seine Augen, den Ort des Sterbens zu suchen.
Oder die frisch Verheirateten, die sich, so der Erzähler, nach dem ersten Glück
irgendwann in einem nichtssagenden Hotelzimmer streiten werden und dann
beschämt und schweigend an einem Tisch im Restaurant sitzen, einander
ansehen, aneinander vorbeisehen. Das Leben wird weitergehen… Oder, oder,
oder (aber leider gibt es auch einige wenige Szenen, in denen Hermann seinen
Bilder nicht zu trauen scheint, ihnen einen Vergleich zur Seite stellt [mit
einem ominösen wie einleitend], der dann seltsam matt wirkt und die
Stimmung fast abzutöten scheint).
Blind davon, dass ich alles zugleich sehen will - so heißt es bei einer
Erzählung der Gärten. Blind werden vom Schauen – als Gefahr. Natürlich kein
unbekannter Topos in der Literatur: Die Fülle der Augenblicke auszuwählen, zu
bündeln, zu erzählen – und vorher vielleicht an ihr zu verzweifeln. Pathetisch
wird Hermann dann manchmal, ein bisschen zu pathetisch vielleicht.
Gleichwohl: "Konstruktion einer Stadt" ist ein kleines und feines Büchlein eines
hochtalentierten Autors mit großem Sprachgefühl. Zwar wirkt es gelegentlich ein
bisschen überinstrumentiert, aber imponierend ist der große Ernst, mit dem
Wolfgang Hermann erzählt. Und damit sind diese "Versuche" Balsam für den durch
Zyniker und Witzbolde in der zeitgenössischen Literatur geschundenen Leser.
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
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Wolfgang Hermann
Konstruktion einer Stadt.
Versuche
Limbus Verlag 2009
Reihe zeitgenossen
Gebunden mit Schutzumschlag
112 Seiten.
ISBN 978-3-902534-27-9.
€
14,90 [A]/[D] sFr. 22,90 [CH]
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