Glanz & Elend Magazin für Literatur und Zeitkritik


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Der Anteil des Zufalls an der
Wahrnehmung des Künstlers


Lothar Struck über den allzuständigen Ulf Erdmann Ziegler und dessen weltkluge Essaysammlung »Der Gegenspieler der Sonne«

Ulf Erdmann Zieglers Essaysammlung (zusammengestellt aus Veröffentlichungen, u.a. der "taz" [hier war Ziegler lange Kulturredakteur], der "Zeit" und der "F.A.Z.") mit dem wunderbar-grössenwahnsinnigen Titel "Der Gegenspieler der Sonne" trägt den nicht minder imposanten (im Verlauf sich als durchaus zutreffend herausstellenden) Untertitel "Gedankenklötze". Diese "Gedankenklötze" beginnen mit kleinen Miniaturen - "Limbos" genannt. Zum Beispiel dass das Automobil der Nachfolger des Pferdes ist, und es in der Lage ist, Familien zusammenzubringen, so wie einstmals der Christbaum oder das Taufbecken. Und warum es nahezu unmöglich sein dürfte, das Flugzeug in ähnlicher Manier zu lieben. Oder ein launiger Gedanke über Flugzeugabstürze: Im Gegensatz zum Absturz eines zivilen Flugzeugs, das eine magische Anormalität darstellt, sind militärische Jets schicksalsmäßig einem gewaltsamen Ende bestimmt; wären sie menschlich, würde man von einem angeborenen Todestrieb sprechen. 
Es bleibt nicht bei den Splittern. Ziegler beschäftigt sich mit der Verankerung des sexuellen Körper[s] als Sujet in der Kunst durch Auguste Rodin. In anderen Beiträgen über die Krise der Pubertät wird die Adoleszenz (auch in der künstlerischen Darstellung) von Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu den heutigen Vereinnahmungen der Jugendlichen durch Industrie und Medien untersucht. Ziegler behauptet, dass das Thema der Jugend für die Jugend von heute absichtsvoll zum Verschwinden gebracht wird. Dies könnte mit einiger Phantasie als eine Wiederbelebung des Postmanschen Gedankens des Verlusts der Kindheit gelesen werden.
Dabei wird ein Bogen von Munchs Bild "Pubertät" von 1895 bis zu dem der Vergewaltigung einer 14jährigen angeklagten Marco Weiss gespannt. Nicht immer sind Zieglers Schlussfolgerungen eingängig, etwa wenn er am Ende dieses Essays summiert: Noch vor zwei Generationen – die Ärsche der Kommune I – war Sexualität eine Waffe im Kampf gegen das Patriarchat. Das war eine anstrengende Sache. Marco Weiss ist nicht Fritz Teufel, aber wir wissen dennoch, was wir an ihm haben.

Main Street, Oklahoma, Szarkowski und Langspielplatten
Analysen der amerikanischen Stadtarchitektur sind ein weiteres Thema dieser Sammlung. Es geht um "gunshot stores", das Verschwinden der "Main Street" in den Stadtbildern, den Unterschied zwischen Mall und Strip und warum es auf amerikanischen Strassen keine Flaneure gibt (geben kann). Ein anderer Aufsatz widmet sich den nördlichen Texaner[n]: dem amerikanischen Bundesstaat Oklahoma (nebst der konturlosen Stadt Oklahoma City und einem Hotel als Nicht-Ort). Eine kleine Soziologie des Ortes darf man hier lesen.
Über die fotografische Kunst hat Ziegler exzellente Kenntnisse (er hat das studiert). Ein Essay ist eine kleine Kulturgeschichte des Schwarz-Weiß-Bildes und der Schwarz-Weiß-Fotografie in der Kunst und als Kunst. In einem kapitelweise sehr persönlichen Text schreibt Ziegler über seinen Lehrer John Szarkowski, der dreißig Jahre Kurator für Fotografie am Museum of Modern Art in New York war. Er habe, so heisst es am Ende fast huldigend, die Fotografie durchgesetzt, zur Kunst gemacht, ohne sie an der (die) Blasiertheit der 'art world' zu verraten. Aber Ziegler ist auch Realist, und ergänzt nüchtern: Man wird sich an ihn erinnern. Nur nicht so bald.
Es gibt schöne "Würdigungen" scheinbar alltäglicher oder abseitig gewordener Alltagsgegenstände. Wunderbar die Ausführungen über die Langspielplatte und den Begriff des "Albums" (nebst persönlicher Präferenzliste für die gelungensten Kreationen von Langspielplattenalben). Hier wird Ziegler sogar ein wenig melancholisch. Verblüffend die Ausführungen zur Toilette in der Wohnung: Während das Jahrtausend zuvor sich daran nicht störte, den Stuhl ins einsame Häuschen ohne Aussicht zu verlegen – "the outhouse" -, hat das zwanzigste Jahrhundert überraschenderweise die Darmentleerung im Wohnhaus für normal erklärt. Und schließlich wird die Toilette in die Wohnung gebracht…zum Lieblingsobjekt der häuslichen Hygiene. Kein Wunder, dass niemand mehr den "Abort" kennt (und ableiten kann).

Humoriges gibt es über den Tourismus des linksliberalen Bürgertums in Griechenland im Unterschied zum Massentourismus (Loutró gegen Matala). Interessant die Bemerkungen über das abstrakte Tauschmittel Gold. Provokant der Gedanke, dass es auch (und gerade) in der (bildenden) Kunst Gewinner und Verlierer geben muss (…die Gewinner müssen wenige bleiben, während wir von den Verlierern sehr viele brauchen) Dies erläutert er durchaus an Beispielen, währenddessen er ein bisschen arg mit der so modisch gewordenen "Authentizität" flirtet.
Hier wäre eine interessante Diskussionsgrundlage gelegt, inwiefern am Scheitern der meisten Künstler erst die Möglichkeit des Entstehens von großen Künstlerpersönlichkeiten möglich ist (man denke sich nur, jemand wie Peter Sloterdijk hätte eine solche Idee vertreten – es gäbe einen Aufschrei der Entrüstung der Egalitaristen des Feuilletons). Aber warum wird der eine "entdeckt" und der andere nicht? Ziegler macht sich keine Illusionen über den gehörigen Anteil des Zufalls an der Wahrnehmung des Künstlers in der Öffentlichkeit, bleibt dabei allerdings etwas unpräzise: Es gibt keine Regel dafür, wie ein Künstler oder eine Künstlerin beschaffen sein muss, um die entsprechende Aufmerksamkeit zu bekommen und belässt es schließlich bei dem Hinweis es [sei] entscheidend, dass sich eine Person-Werk-Relation etablieren lässt. Da hätte man gerne über die Bedeutung des Wortes etablieren in diesem Zusammenhang noch mehr erfahren.

Überlegene Architektur, Öko-Zeloten und ein "irregeleiteter Charmeur"
Immer wenn sich Ziegler auf das Terrain der "Yellow-Press" begibt, lässt die Qualität der Texte nach. So beispielsweise bei den arg holzschnittartigen Anmerkungen zu Lady Diana und deren Todesfahrt. Obwohl im Nachwort ausgeführt wird, dass es durchaus bedeutende Veränderungen zu den Urfassungen der Texte gegeben habe, erscheinen diese Betrachtungen seltsam steril. Auch die Darlegungen über Woody Allens Scheidungs- bzw. Trennungsgeschichte(n) sind unoriginell.
Der Versuch, die architektonisch und bautechnische Leistung des Architekten Yamasaki beim Bau der Türme des World Trade Center (diese Zeichen der Hybris einer Stadt, die…knapp am Bankrott vorbeischrammte) zu würdigen, ist mindestens ungewöhnlich. Für Ziegler ist die Tatsache, dass die Dinger nicht stürzen, wenn komplette Passagierflugzeuge in ihre Fassaden rasen…der letzte Beweis einer überlegenden Technologie. Bei den Betrachtungen über die Anschläge des 11. September (die eigentlich Betrachtungen über das World Trade Center sind) unterläuft dem Autor ein untypischer Ausrutscher, als er den Terroranschlag als Völkermord bezeichnet.
Normalerweise enthält sich der Autor in seinen Aufsätzen dezediert jeglicher vulgär-moralischer Bewertung. Das ist bei dem fulminanten Plädoyer für die Glühbirne (natürlich argumentiert der Künstler und Kunstkritiker hier für Helligkeit und eben nicht mit Lichteffizienz gegen die Öko-Zeloten) oder für die Abschaffung der Fußgängerzonen, jener deutschen Nachkriegserfahrung, die aus ideologischen Gründen hochgehalten werde, nur weil in einer Fußgängerzone keine Autos fahren, obwohl dafür die Peripherie der Fußgängerzonen mit Parkhäusern oder –plätzen zubetoniert werde, durchaus anregend.

Problematisch wird diese Art der ästhetischen Betrachtungsweise im Gerichts- und Prozessbericht über Marcus Gäfgen, dem Mörder von Jacob von Metzler. Zunächst suggeriert Ziegler eine neutralistische Position, die jedoch sehr schnell in Zweifel an der medialen und prozessualen Aufbereitung des Verbrechens umschlägt. So fragt Ziegler dann: Wer war im Gerichtssaal, der wirklich wissen wollte, wie Gäfgen zum Killer geworden ist? Neben den Prozessbeteiligten (dem väterliche[n] Richter, den nahezu stumm[en] Schöffen, die nichts wagten [was hätten sie denn "wagen" sollen und kennt Ziegler die Situation von Schöffen im allgemeinen und in einem solchen Verfahren im besonderen überhaupt?], dem spitzzüngigen Verteidiger) greift er die Berichtstattung der Presse, insbesondere auch der "Spiegel"-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen an, in dem er ihr vorwirft, sie habe Gäfgens Habgier-Motiv schon vor Prozessbeginn als gegeben postuliert und damit sogar Einfluss auf das Verfahren geübt. Sogar das Verhalten des Angeklagten stört ihn. Gäfgen habe es vorgezogen, sich als irregeleiteter Charmeur mit einer unwiderstehlichen Lust auf Luxus portraitieren zu lassen.

Zieglers Betrachtung ist in diesem Moment zu sehr verengt auf den Täter als das "unbekannte" und hier zu decouvrierende Wesen und berücksichtigt zu wenig die Möglichkeit des Täters, zu jedem Zeitpunkt die Tat nicht zu begehen bzw. abzubrechen. Mögen sich vor, bei, während oder nach der Prozessführung nicht geklärte Fragen zur Motivation des Täters, dessen eventuell ausgeprägte homoerotische Neigung (wobei diese Konnotation nur angetippt wird, ohne sie auch nur annähernd auszuführen) oder "Schuld" herausgestellt haben – Ziegler macht es sich hier zu leicht, wenn er von der Voreingenommenheit des Gerichts, der Öffentlichkeit und der Presse spricht. Und wenn er dann konstatiert, dass man hätte fragen können, warum ein Entführer, der ein Lebenszeichen nicht mehr liefern kann, mit Lösegeld rechnet, so erkennt man "nur" eine Entlastungsstrategie für den Angeklagten, die einen Affekt feststellen soll. Hier entwickelt er einen merkwürdigen Protestgestus mit pseudo-investigativer Rhetorik.

Die Einwände vermögen allerdings das Gesamtbild nicht zu trüben. Ulf Erdmann Zieglers Essays sind glücklicherweise nicht immer leichte Kost. Einige laden den Leser zu weiterführende Recherchen ein oder fordern sie sogar. Das ist eine Qualität, weil der Leser ernstgenommen wird. Und dass Ziegler nicht nur ein sehr guter und gelegentlich streitbarer Essayist, sondern auch ein ausgezeichneter Schriftsteller ist, sei noch am Rande erwähnt. Lothar Struck

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.
 

Ulf Erdmann Ziegler
Der Gegenspieler der Sonne
Gedankenklötze
Wallstein Verlag
€ 16,90
174 Seiten
Einband: gebunden, Schutzumschlag
ISBN 978-3-8353-0562-5


 


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