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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Mehr als nur Geschichten

Von Wissenschaft, Steinen, Modellstädten und dem, was wir nicht sehen.
Der Pulitzer-Preisträger Anthony Doerr verknüpft das Schicksal eines blinden,
französischen Mädchens mit dem eines technikaffinen NS-Eliteschülers.

Von Vera Bergmann

 

Marie-Laure wächst im Paris der 1930er auf. Im Alter von sechs Jahren erblindet sie und muss lernen dieses Handicap mit den übriggebliebenen Sinnen zu kompensieren. Um ihr ein weitgehend eigenständiges Leben zu ermöglichen, baut Daniel, ihr Vater, ein realitätsgetreues Modell des Stadtbezirkes, in dem sie wohnen, das ihr helfen soll sich außerhalb ihrer Wohnung zu orientieren. Außerdem nimmt er sie mit in das Muséum national d’Histoire naturelle, wo er als Schlüsselverwalter arbeitet. Hier erfährt Marie-Laure – abgesehen von zahlreichen Fakten über Schnecken, die Doerr ja bereits in Der Muschelsammler verbreitet – auch vom Meer der Flammen, einem blauen Edelstein, der dem Besitzer angeblich ewiges Leben verleihen, aber zugleich dessen Freunde, Bekannte und Verwandte in großes Unheil stürzen soll.

Parallel dazu entdeckt Werner, ein deutscher Waise, seine Begeisterung für Naturwissenschaft und Technik. Das Waisenhaus, in dem er lebt, bewahrt ihn aber nur bis zu seinem 15. Geburtstag vor der Arbeit im Kohlebergbau. Er ist sich sicher, dass er wie sein Vater untertage sterben wird und sucht verzweifelt nach einer Alternative. Einzig die enge Beziehung zu seiner Schwester Jutta und eine Wissenschaftssendung für Kinder im selbstreparierten Radio können Werner für kurze Zeit die Angst vergessen lassen. Überraschend wird er in eine nationalsozialistische Eliteschule aufgenommen und überzeugt dort durch seine technischen Fähigkeiten einen Wissenschaftler, ihn besonders in Funktechniken weiter auszubilden. Unterdessen gewinnen die Anhänger Hitlers weiter an Macht und die sogenannten »Erziehungs-Maßnahmen« der Lehrer werden stetig brutaler und skrupelloser, sodass Werner sich fragen muss, ob er – wie sein Schulkamerad Frederick und seine Schwester Jutta – den Mut aufbringen kann, sich den menschenverachtenden Idealen zu widersetzen.

Als der Krieg ausbricht, wird Werner in die Wehrmacht einberufen, wo er die Funksprüche regimefeindlicher Aufständischer zu ihren Urhebern zurückverfolgen soll. Marie-Laure und ihr Vater sind indes gezwungen von Paris nach Saint-Malo zu fliehen, mit einem Werkzeugkoffer, in dem ein blauer Stein liegt. Der Museumsdirektor hat zuvor drei Duplikate des Meers der Flammen anfertigen lassen: Eines bleibt im Museum, die anderen beiden und das Original gibt er drei Mitarbeitern auf die Flucht mit. Wer den Edelstein mit sich trägt weiß nur der Direktor. Der materielle Wert und das ewige Leben, das dessen Besitzer angeblich winkt, rufen den krebskranken Stabsfeldwebel von Rumpel auf den Plan. Er will den Stein um jeden Preis finden und sich Ruhm, Gesundheit und Wohlstand sichern. Dass Marie-Laures engste Bezugspersonen – ihr Onkel Etienne, die Haushälterin Madame Manec und Daniel - den französischen Widerstand unterstützen und das Mädchen nach und nach verlassen müssen, verschärft die Situation derart, dass die inzwischen 16-Jährige auf sich allein gestellt das Bombardement Saint-Malos und die Bedrohung durch von Rumpel bewältigen muss. Wie einen Talisman trägt sie die Miniaturversion des Hauses in Saint-Malo mit sich, die ihr Vater geschnitzt hat.

Anthony Doerr verwebt glaubhaft die Schicksale zweier junger Menschen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben: Werner und Marie-Laure teilen sich den unstillbaren Wissensdurst Heranwachsender, erschließen sich die Welt aber auf unterschiedliche Art und Weise. Er über physikalische oder mathematische Vorgänge, sie vor allem über Gehör, Tast-, und Geruchssinn: »Kalte, runde Kiesel unter den Füßen. Knisterndes Gras. Etwas Weicheres, nasser glatter Sand. Sie beugt sich vor und öffnet die Hände. Es ist wie kalte Seide. Kalte, kostbare Seide, auf die das Meer Gaben gebreitet hat: Kiesel, Muscheln, Krebse. Kleine Stücke Tang. Ihre Finger graben und strecken sich. Die Regentropfen treffen auf ihren Nacken, ihre Hände. Der Sand zieht die Wärme aus ihren Fingern, aus den Sohlen ihrer Füße« (S. 235). Er scheint der Stärkere, sie die Schwächere zu sein und doch verkehren sich diese Machtverhältnisse zunehmend ins Gegenteil. Eine vorgelesene Geschichte, eine Wissenschaftssendung für Kinder und Musik verknüpfen ihre Leben bevor sie sich der Existenz des jeweils anderen überhaupt bewusst sind und verursachen schließlich ihr Aufeinandertreffen.

Gegliedert ist der Roman in vierzehn Kapitel (wobei die Zählung bei »Null« beginnt), die wiederum in Unterkapitel aufgeteilt sind. Die chronologische Abfolge der Ereignisse wird unterbrochen von den Kapiteln über das Jahr 1944, in dem Marie-Laures und Werners Begegnung immer näher rückt. Zugegebenermaßen dauert es etwas sich an die zum Teil sehr kurzen Episoden und die sprunghaften Wechsel zwischen Werners und Marie-Laures Erlebnissen zu gewöhnen, doch als Baustein in Doerrs Gesamtkonzept funktioniert dieser Staccato-Stil: Beschreibungen, die einem Theaterstück entstammen könnten, zwischengeschobene Briefe, die zum Teil vom Zensor geschwärzt sind und die Legende vom Meer der Flammen, erzählt im schönsten Märchenton, erwecken den Roman und seine Figuren zum Leben.

Dabei versteht Doerr sich darauf dem Leser nicht zu viel aufzubürden, ihn aber auch nicht in seichter Banalität waten zu lassen: Schildert er einerseits die rührenden Bemühungen Daniels Marie-Laure ein guter Vater zu sein, beschreibt er andererseits die Gnadenlosigkeit, mit der Frederick – Werners Schulkamerad – dafür bestraft wird, dass er sich nicht an der Ermordung eines Gefangenen beteiligt. Das Ende schließlich ist – zum Glück – weder ein klischeebeladenes Happy End noch ein depressives Szenario, das den Leser mit einem Gefühl von Sinnlosigkeit zurücklässt.

»Alles Licht, das wir nicht sehen« ist voller Licht, Schatten, Musik, Gerüche, Aromen, Trauer und Glück. Obwohl das Licht nicht sichtbar ist, ist es dennoch vorhanden und damit auch die größte Metapher des Romans. Eines wird allemal deutlich: Dass Steine mehr sein können als Steine, Regen mehr als Regen, Unglück mehr als einfach nur Pech, Dinge mehr als Dinge und Geschichten – oder Romane – mehr als nur Geschichten.

Artikel online seit 01.07.15
 

Anthony Doerr
Alles Licht, das wir nicht sehen
Roman
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

C.H. Beck
528 Seiten
19,95 €

978-3-406-66751-0

Leseprobe

 


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