1.
»Warum gibt es
etwas und nicht vielmehr nichts?«: Diese Frage drapiert sich seit vielen
Jahrhunderten zunehmend selbstverliebt in metaphysischem Gewande. Dabei kann sie
nur schwerlich verbergen, dass sie von ihren diesseitigen, materiellen
Bedingungen lebt: Sie kann nur stellen, der ist, und nicht, der nicht ist. Das
Universum expandiert rund 13,7 Mrd. Jahre gedankenlos vor sich hin, um auf der
allerletzten Strecke von einer seiner Hervorbringungen radikal in Frage gestellt
zu werden. Das hat etwas von der Chuzpe eines Neugeborenen, das seiner Mutter –
auf ihrem Bauch liegend – die Frage stellt: Und? Neu hier?
2.
Neulich fand ich
mich – getrieben von Hunger – in unserem Vorratsraum wieder. Als ich das
Gesuchte nicht erblicken konnte, fragte ich meine Frau: »Wo sind die Nudeln?«
Meine Liebste – sie kennt mich und meinen selektiven Blick ja schon einige Jahre
– verdrehte die Augen und antwortete mit nur schlecht unterdrückter Vehemenz:
»In der Vorratskammer.« Ich also zurück, um alles noch einmal genauestens zu
prüfen. Ich fand eine Brotkapsel, eine Packung Kaffee, drei Dosen Mais, zwei
Tuben Tomatenmark, jede Menge Kartoffeln und – weil wir gerade auch bei Leibniz
sind – eine Packung Butterkekse. Aber Nudeln? Mit Bestimmtheit rief ich zurück:
»Ich seh die nicht!« Meine Frau erwiderte: »Schatz, jetzt guck doch noch mal
genau hin!« Ich retournierte: »Die sind da nicht!« Erneut setzte sie zur Rede
an, doch ich kam ihr zuvor und legte letztgültig fest: »Da ist nichts!«
3.
Für heutige Ohren ist die Negation »nichts« nicht ohne das Negierte zu erklären.
Fangen wir als mit dem Positiven an. Das Grimmsche Wörterbuch1
führt aus, dass das Wort »icht« (mhd. iht) die Bedeutung von »irgendein
Ding, etwas« hat. Die Form »ichtesicht« – die Verbindung aus Genitiv und
Nominativ des Begriffs »icht« – stellt eine Verstärkung dar. In gleicher Weise
gilt dies für die Negation »nicht« (»nicht etwas«) und »nichtesnicht« (»ganz und
gar kein Ding«). Im Laufe der Zeit haben sich beide Formen verkürzt: »ichtesicht«
zu »ichts« und »nichtesnicht« zu »nichts«. Ironischerweise dämmerte das »ichts«
später seinem Nichts entgegen, während das »nichts« bis heute seine Existenz
behaupten konnte. Und wie!
4.
Zurück zur
Vorratskammer. Angesichts eines Meers aus »etwas« behaupten wir ganz fidel, da
befinde sich »nichts«. Die Absurdität, die diese Aussage annimmt, resultiert aus
dem Zwitterwesen des Begriffs: Einerseits meint er das konkret Fehlende vor
einem weiterhin materiell seienden Horizont, andererseits die Abwesenheit von
allem Materiellen – also nicht nur der heißgeliebten Nudeln, sondern auch von
Mais, Kaffee, Kartoffeln, Tomatenmark, Butterkeksen, ja, der ganzen
Vorratskammer und dem Rest des Universums. Und so fasse ich den Begriff wie
folgt: Das »nichts« bezeichnet die Abwesenheit von Materie und/oder ihres
Äquivalents Energie. Mit der Einschränkung, dass bis zum 20. Jahrhundert der
Zusammenhang von Materie und Energie nicht bekannt war, lässt sich feststellen,
dass sich das »nichts« in dieser Definition zum stolzen weißen Schwan der
Metaphysik entfaltet hat, der sich glücklich von allen materiellen Anhaftungen
befreien konnte und seitdem ein irritierendes Eigenleben führt.
5.
Frei nach Paul
Watzlawick lässt sich feststellen: Man kann nicht nichts denken, geschweige denn
»nichts« denken. Wenn es heißt: »Denk mal nicht an einen grünen Frosch«, so
denke ich zuverlässig an einen grünen Frosch. Und wenn wir enttäuscht die
Vorratskammer verlassen, in der wir eben »nichts« entdeckt haben, denken wir
doch unentwegt an die Nudeln, die nur eben nicht an Ort und Stelle waren. Die
Leerstelle in der Vorratskammer hat keine Entsprechung in unserem Denken. Und
auch die metaphysische Leerstelle des »nichts« füllen wir unentwegt mit
Diesseitigem, wie das Beispiel Plotins zeigt. Der verhedderte sich einst heillos
wie Laokoon, als er daran ging, das Unsagbare zum Gegenstand der Sprache zu
machen. Bekanntlich betrachtete er das »Eine« einerseits als nicht de-finier-bar,
hegte es aber in Form von Negationen mehr und mehr ein: Das »Eine« sei
unendlich, unbegrenzt, unteilbar, unräumlich, unzeitlich und so weiter.2
In der Absicht, das »Eine« begrifflich wie ein rohes Ei zu behandeln, schlägt er
es zuverlässig in die Pfanne.
6.
Nun ist das »Eine«
etwas Seiendes, nach Plotin sogar der Urgrund des Seins schlechthin. Wie größer
sind die Schwierigkeiten, wenn wir »nichts« zur Sprache – oder besser – in
die Sprache bringen! Wir gliedern es wie selbstverständlich in unsere lang
eingewöhnte Grammatik ein und machen es so zu einem »etwas«. In der Frage »Warum
gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?« steckt ja die Möglichkeit, dass es
»nichts« geben könnte. Das ist aber ein Widerspruch in sich: »nichts« kann es
nicht geben, weil »geben« im Sinne von »existieren« sich nur auf Seiendes
beziehen kann. Das reine »nichts« – der stolze weiße Schwan der Metaphysik –
regrediert durch die Berührung mit der Sprache wieder zum hässlichen Entlein,
das unabwaschbar mit Materiellem kontaminiert ist.
7.
Apostel Paulus müssen wir uns als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Immerhin glaubte er, seine Eingebungen direkt vom lieben Gott zu erhalten.3
Heute wissen wir es besser: Der menschliche Geist kommt nicht vom Himmel,
sondern ist ein Produkt der Evolution.4 Er hat sich in der
ständigen Auseinandersetzung mit den ihm umgebenden Dingen herausgebildet.
Sprache ist immer zunächst positiv, die Fähigkeit zur Negation dagegen eine
zeitlich wie logisch nachgeschaltete Abstraktionsleistung des menschlichen
Geistes. Mit anderen Worten: Zuerst ist das Ding, bevor es zum Nicht-Ding
erklärt werden kann. Das zweite geht aus dem ersten hervor. Die Antithese »Etwas
– Nichts«, die unserer Frage zugrunde liegt, verwischt diese Abhängigkeit und
insinuiert zwei gleichrangige, voneinander unabhängige Entitäten.
8.
Wie die Sprache hat
auch die Naturwissenschaft Antennen ausschließlich für das Seiende.
Vorausgesetzt, das »nichts« existierte – die Naturwissenschaft verfügte gar
nicht über die erforderlichen Messinstrumente, es nachzuweisen. Das »nichts« –
soviel wissen wir immerhin darüber – tritt nicht in eine wie auch immer geartete
Wechselwirkung mit einem Detektor. Ein Messinstrument, das nicht
anschlägt, ist kein Beweis für die Existenz des »nichts«.
9.
Die Unverfügbarkeit
des »nichts« kann exakt zwei Reaktionen nach sich ziehen:
a.) Der Mensch
fokussiert auf das materiell Seiende. So halten die Astrophysiker über das
»Davor« und »Daneben« unseres Universums jede Menge Theorien bereit und reden
unablässig von Singularitäten, Quantenfluktuationen, Multiversen, Strings,
Branen und Loops, als ob es kein Morgen gäbe.5 Das »nichts«
und die Vorstellung, die Welt sei aus dem Nichts entstanden, haben in ihren
Modellen keinen Platz. Zugegeben: Sie halten keinerlei Beweis für ihre
Annahmen in Händen. Immerhin reden sie über »Zeiten« und »Orte«, die für unsere
physikalischen Nachweisverfahren aus prinzipiellen Gründen nicht erreichbar
sind. Aber sie spekulieren nicht einfach ins Blaue hinein, sondern entwickeln
ihre Gedankengebäude auf der Grundlage mathematischer, also wissenschaftlich
nachprüfbarer Schritte.
b.) Oder der
Mensch lässt das Seiende links liegen und vertraut darauf, dass der Begriff
»nichts« durch die bloße Setzung Faktizität erlangt. Einmal in die Welt
entlassen, drängt der Begriff ins Sein, gewinnt als solcher immer mehr an
»Realität« und hält uns wie das Ungeheuer von Loch Ness in Atem. Niemand hat es
je gesehen, aber jeder spricht davon und weiß Näheres. Und schon tauchen die
ersten Bilder auf, die Nessi – zugegeben – etwas verwackelt und unscharf, aber
dennoch unwiderlegbar »beweisen«…
10.
Die Frage »Warum
gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?« besteht aus zwei Teilen:
Teil 1: Warum gibt
es etwas? Diese Frage hat eine heuristische Funktion im Rahmen der
Naturwissenschaft und steht dann mit beiden Beinen auf festem Boden. Wie
gezeigt, gibt es aus naturwissenschaftlicher Perspektive zwar jede Menge
Theorien, aber keine bis heute per Experiment bewiesene Antwort.
Teil 2: Warum gibt
es nicht nichts? Inhaltlich betrachtet, ist sie mit der ersten Teilfrage
identisch. Warum sie also anhängen? Weil sie nichts anderes ist als ein
rhetorischer Nachbrenner – wie dazu gemacht, den Kopf durch die Wand des
Diesseits zu treiben, um einen Blick in die Welt hinter der Welt zu erhaschen.
Leibesübungen für den Hinterweltler.6
11.
Die Kernfrage
lautet also nicht: »Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?«. Die
Kernfrage lautet: Warum bedürfen wir dieser Frage?
12.
Der Historiker
François Walter beschreibt, dass die Inanspruchnahme Gottes als Ursache für die
über die Menschen hereinbrechenden Katastrophen ein Akt der Traumabewältigung7
gewesen sei. Lieber noch dem göttlichen Zorn als der absoluten Sinnlosigkeit
ausgesetzt sein: »Es ist für den Menschen sicher tröstlicher, das ihm
widerfahrende Gute und Böse Gott zuzuschreiben, als einem launischen oder gar
blinden Schicksal diese Ehre zu erweisen«, so Abbé Nicolas Sylvestre Bergier,
ein französischer Theologe des 18. Jahrhunderts.8
So sehr das verheerende Vernichtungswerk einer Überschwemmung, eines
Stadtbrandes oder eines Erdbebens auch mein Leben hätte auslöschen können; durch
die Hypothese »Gott« verkehrt es sich in das Hohelied über die Sinnhaftigkeit
meines Seins.
13.
In ebendieser Weise
fungiert die Ausgangsfrage »Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?« als
ein Quell der Sinngebung. Wenn ich nur einigermaßen glaubhaft machen kann, dass
das »nichts« möglich gewesen wäre, insinuiere ich zugleich einen Grund, warum es
gerade dazu nicht gekommen ist: Wenn es die Materie im Allgemeinen und so
etwas Tolles wie uns Menschen im Besonderen gibt – da muss schon etwas Großes
dahinter stecken, das alles so wunderbar ins Werk gesetzt hat.
14.
Diese Denkfigur hat
vordergründig verdammte Ähnlichkeit mit einem Gottesbeweis, der bereits mehr als
700 Jahre alt ist: dem Kontingenzbeweis von Thomas von Aquin. Thomas entfaltet
seine Argumentation vor dem Gegensatz von Zufälligkeit und Notwendigkeit. Das
Werden und Vergehen der Dinge zeige uns, dass sie sein oder auch nicht sein
können. Weil sie aber sind, müssen sie eine Ursache haben und sind also
notwendig. Diese Ursache selbst kann wieder aus einer anderen Ursache entstanden
sein, die dann ihrerseits... Diese Ursache-Wirkung-Kette führt nun nicht ins
Unendliche, sondern hat einen Anfang, der »ein durch sich selbst Notwendiges ist
und […] die Ursache seiner Notwendigkeit nicht woandersher hat, statt dessen
aber die Ursache der Notwendigkeit der anderen ist, und das nennen alle ‚Gott‘«.9
15.
Der
Kontingenzbeweis von Thomas von Aquin hat eine für unsere Fragestellung
spannende Konsequenz. Denn wenn die Wirkung durch seine Ursache den Status einer
Notwendigkeit erlangt, ist die Verursachung der Wirkung ebenfalls notwendig. Es
liegt also nicht im Belieben der Ursache, so oder anders oder gar nicht zu
wirken. Welche Konsequenzen das für das Gottesbild hat, soll nicht weiter
erörtert werden. In jedem Fall ist das Sein nach Thomas notwendig. Bei Licht
besehen findet unsere hier abzuhandelnde Fragestellung auch bei ihm keine
Heimstatt.
16.
Zudem findet die Vorstellung, Gott habe die Welt aus dem Nichts erschaffen,
keine Grundlage in der Bibel. Denn wie der unmittelbare Augenzeuge des
Schöpfungsaktes glaubhaft versichert, existierte vor dem Schöpfungsakt bereits
ein Etwas, nämlich das Tohuwabohu: »die Erde aber war wüst und leer, Finsternis
lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es
werde Licht. Und es wurde Licht«10.
Mit anderen Worten: Gott beginnt die Schöpfung »erst mit der Erschaffung des
Lichtes. Sein Schöpfungshandeln ist also ursprünglich keine creatio ex nihilo,
keine Schöpfung aus dem Nichts, sondern die Welt ist schon vorhanden, gestaltlos
zwar, aber vorgegeben.« 11 Der liebe Gott ist jemand, der das
Licht macht. Ein Lucifex.
17.
Nach dem »nichts«
zu fragen kann nur, wer es als eine reale Größe betrachtet. Die einfache,
voraussetzungslos anmutende Frage »Warum gibt es etwas und nicht vielmehr
nichts?« schleppt also in Wirklichkeit den ganzen Rucksack abendländischer
Metaphysik und Theologie mit sich herum und präfiguriert bereits die Antwort.
Wer mit dieser Frage hausieren geht, ist nicht mehr ergebnisoffen. Er will –
bewusst oder unbewusst – auf Gott hinaus.
18.
Sinn ist kein
Bestandteil der objektiven Welt. Sinn erzeugt der Mensch aus sich selbst heraus.
Immer fragt er nach dem Warum und stellt Verknüpfungen zwischen den Dingen her.
Denn nur so kann er sich in der verwirrenden Vielfalt der Realität orientieren,
also sinn-voll verhalten.12 Und deshalb wird er erst ruhig,
wenn er eine befriedigende Antwort gefunden hat. Er ist damit auch sehr weit
gekommen: Die Erde bebt, weil sich die zwischen tektonischen Platten aufgebaute
Spannung ruckartig löst. Es blitzt, weil sich eine in den Wolken aufgebaute
elektrostatische Spannung entlädt. Ein Vulkan bricht aus, weil sich in tieferen
Erdschichten ausdehnendes Magma explosionsartig Platz verschafft. In
voraufklärerischer Zeit wussten wir über diese Zusammenhänge nichts. Doch auch
da haben wir – wie oben gezeigt – das uns jederzeit bedrängende Warum mit einer
allseits überzeugenden Antwort sedieren können: mit Gott.
19.
Spätestens das
Erdbeben von Lissabon in 1755 hat die Universalbegründung »Gott« brüchig werden
lassen. Deshalb haben wir sie danach in vielen Wissensbereichen sukzessive durch
viele unterschiedliche naturwissenschaftliche Erklärungen abgelöst. Dieser
nachhaltige Trend setzt mit einem Male aus, wenn es um unsere eigene Existenz
geht. Einerseits wissen wir heute, dass wir das Resultat einer biologischen
Evolution sind, müssen dann aber zugeben, ein reines Zufallsprodukt zu sein. Das
darf nicht sein! Und so hängen wir in punkto der eigenen Existenz auch weiterhin
unlösbar an unserer Universalbegründung »Gott« wie der Junkie an der Nadel. Denn
nur dann können wir die Illusion aufrechterhalten, das Ziel allen Seins zu sein.
Dabei geschieht etwas Entscheidendes: Sinn – eben noch reine
Ursache-Wirkung-Relation – ist nun die uns nicht zugängliche Ursache hinter der
Ursache, der Sinn hinter dem Sinn. Damit erhält »Sinn« mit einem Male ein
sorgsam herausgeputztes ontologisches Qualitätssiegel, das mit seinem Glanz nun
erfolgreich von dem wahren Kern unserer Sinnsuche abzulenken versteht: von
unserer abgrundtief gekränkten Eitelkeit, unsere Existenz einem Zufall verdanken
zu müssen.
20.
Vom Sein der
Materie auf Gott zu schließen, ist gerade vor dem Hintergrund der
jüdisch-christlichen Tradition nicht ohne Ironie. Am Anfang ist Materie Ausdruck
des göttlichen Willens. Wie die Bibel dokumentiert, richtete Gott alles ganz
nach seinem Gusto ein: »Gott sah, dass es gut war.«13 Diese
positive Grundeinstellung bekam jedoch schon bald einen Knacks. Denn
ausgerechnet die Krone der Schöpfung schlägt so richtig aus der Art. Das ist der
Grund, warum der liebe, der gütige, der sanfte Gott gleich die ganze Menschheit
ersäufte. Wie wir weiter lesen können, berappelt sie sich aber schon bald wieder
und tritt in einen Bund mit dem Allerhöchsten ein. Deshalb bleibt die Materie
auch weiterhin die Bühne göttlichen Handelns: Im Alten Testament greift Jahwe
unentwegt in die Geschicke des von ihm auserwählten Volkes ein, womit der
Materie ein gewisser Grad an göttlicher Würde geblieben ist. Das wird anders
durch das Christentum. Die neue Lehre reicht – beeinflusst insbesondere durch
Gnosis und Neuplatonismus14 – die Materie mit leichter Hand
nach unten durch, an das unterste Ende der Werteskala. Ab jetzt ist sie »nichts«-würdig,
das wahre Sein verkrümelt sich ins Jenseits. Dass nun die nicht mehr zu
unterbietende Minderwertigkeit der Materie gerade als Indiz für die Existenz
Gottes herhalten muss, ist eine nicht mehr zu überbietende Absurdität. Wenn es
das Werk ist, das den Meister lobt, dann stellen die Christen ihrem Gott ein
denkbar schlechtes Zeugnis aus.
21.
Das Erdbeben von
Lissabon hat eine wichtige Frage auf die Tagesordnung unseres Denkens gestellt:
Wenn unser Dasein Sinn nur durch Gott erhält, welchen Sinn erhalten dann Leid
und Unrecht in diesem Szenario? Eine bis heute heikle Fragestellung, um die kein
Gottesapologet herumkommt und die ihn zu einer Rechtfertigungstheologie der
untersten Schublade zwingt: »Nur wenn die Existenz des Menschen über den Tod
hinausreicht«, so lässt sich Erfolgsautor Manfred Lütz ein, »dann mag in jenem
Jenseits die tiefe existenzielle Bewährung eines Menschen im stets zeitlich
begrenzten irdischen Leid ewigen Sinn für ewiges Glück gewinnen«.15
Bis heute ist die Diskussion unentschieden, wie die Rolle des Judas zu
beurteilen ist: Hat er Böses getan, weil er Jesus verraten hat? Oder hat er
Gutes getan, weil er die Heilsgeschichte durch seinen Verrat erst möglich
gemacht hat?16 Wenn ich dem irdischen Sein einen göttlichen
Sinn unterstelle, dann muss ich unbedingt der zweiten Meinung zuneigen. Dann
muss ich aber auch jeden hergelaufenen Menschenschlächter als Heilsbringer
bejubeln, da er seine Delinquenten mithilfe einer Phase »tiefer existenzieller
Bewährung« den direkten Weg in das ewige Glück des Himmels weist.
22.
Sinn indes hat der stolze weiße Schwan der Metaphysik für all diese Argumente
nicht. Selbstverliebt betrachtet er sein Spiegelbild im Wasser, putzt dabei sein
strahlend weißes Kleid und beschäftigt sich auch weiterhin mit der Frage: »Warum
gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?«. Weil seine Beine sehr kurz sind und
sich zudem relativ weit hinten am Körper befinden, bewegt er sich auf dem festen
Boden des Uferbereichs besonders schwerfällig und tapsig. Deshalb hält er sich
lieber auf der schwankenden Oberfläche eines Gewässers auf. Dort taucht er
zuweilen seinen langen Hals in die aquatische Zauberwelt – und gründelt.
Anmerkungen:
(1) http://dwb.uni-trier.de/de/
(2) Weischedel, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe, München: DTV 2011, S.
78f.
(3) 1. Kor 2,1 ff.
(4) Pinker, Steven: Wie das Denken im Kopf entsteht, Frankfurt: Fischer 22012,
S. 57.
(5) vgl. Vaas, Rüdiger: Vom Gottesteilchen zur Weltformel, Stuttgart: Kosmos
2013, S. 175.
(6) vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, München: Goldmann
21980, S. 26.
(7) vgl. Walter, François: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins
21. Jahrhundert, Stuttgart: Reclam 2010, S. 36. (Künftig zitiert: Katastrophen)
(8) zit. n. Walter: Katastrophen, S. 121.
(9) Bromand, Joachim und Guido Kreis (Hg.): Gottesbeweise von Anselm bis Gödel,
München: Suhrkamp 2011, S. 96.
(10) Gen 1,2f.
(11) Beltz, Walter: Gott und die Götter. Biblische Mythologie, Hamburg: Nikol,
62007, S. 43.
(12) vgl. Scobel, Gert: Der Ausweg aus dem Fliegenglas, Frankfurt: Fischer 2012,
S. 222.
(13) Gen 1,10.
(14) Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich, München: Heine 52012,
S. 27f.
(15) Lütz,
Manfred: Gott. Eine
kleine Geschichte des Größten, München: Knaur 2009, S. 160.
(16) vgl. Klauck,
Hans-Joseph: »Ein Wort, das in die ganze Welt erschallt«. Traditions- und
Identitätsbildung durch Evangelien, in: Graf, Friedrich Wilhelm, und Klaus
Wiegandt: Die Anfänge des Christentums, Frankfurt: Fischer 22009, S. 86.
Artikel
online seit 21.03.2015
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