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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Arktische Kälte im Namen des Sozialismus

Vergraben in einem Weckglas im Garten ihres Elternhauses findet man
das Manuskript von Dalia Grinkevičiūtės beängstigender Geschichte.
»Aber der Himmel – grandios« ist ein Zeugnis des Unsäglichen, die Geschichte
eines jungen, litauischen Mädchens in der Verbannung in den eisigen Polarwintern Sibiriens.

Von Maxi Weber

 

Nachdem die Rote Armee 1940 in Litauen einmarschiert und das Land annektiert, wird Litauen zur Litauischen SSR und tritt der übermächtigen Sowjetunion bei. Es ist im Sommer 1941, als Dalia Grinkevičiūtė mit ihrer Mutter und ihrem Bruder ihrer litauischen Heimat Kaunas entzogen wird. Ohne genau zu wissen, was mit ihr und ihren Mitgefangen eigentlich passiert, geht die Reise in erniedrigenden Viehwaggons von Bahnhof zu Bahnhof und entfernt die Deportierten immer mehr von ihrer geliebten Heimat.

»Leiskit į Tėvynę«

Es ist der Blick eines 14-jährigen Mädchens, deren Erinnerungen, auf losen Blättern festgehalten, die Verbrechen des Gulag dokumentieren. Sie erzählt von ihren Mitdeportierten, die zwischen schwarzen, sich verändernden Wäldern und kleinen Lichtblicken die Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit suchen, »Das ist nicht schlimm, wir werden hier nur das Badehaus besuchen und dann - dann geht es auf die amerikanischen Dampfschiffe. Das ist wirklich wahr.« ‚Amerika‘: der Ort der ewigen Hoffnung. Aber der Glaube an dessen Existenz wird mit jedem weiteren Halt immer bröckeliger. Und immer wieder tönt das Lied »Leiskit į Tėvynę« (Lasst uns in die Heimat zurück).

Von den Eisenbahnwaggons siedeln sie über auf die Wasserwege. Auf ihrer gefährlichen Reise mit mehr oder weniger seetauglichen Booten landen sie schließlich an der Mündung der Lena in einem arktischen Arbeitslager. »Aber der Himmel – grandios. In allen Farben tanzte das erhabene Nordlicht. Alles ist hier erhaben: die grenzenlose Tundra, grausam und weit wie der Ozean […]«. Dalia berichtet von der tödlichen Gewalt des Winters und den Strapazen, denen sie ausgesetzt sind, ohne dabei die Schönheit im Schrecklichen aus den Augen zu verlieren. »Der Schnee tanzt graziöse Menuette auf den Bäuchen der Toten, fällt sacht auf offene Augen. Noch ist Spätherbst, bald beginnt der Winter. Was erwartet uns? Wie viele von uns werden überleben?«

»Hier, hinterm Polarkreis, wütet die Natur.«

Unter widrigsten Bedingungen, härtester Arbeit und ständigem Nahrungsmangel trotzt Dalia den Erniedrigungen der Lageraufseher und verliert dabei nie ihren Stolz und ihr Rückgrat. Mit großer Wortgewalt berichtet sie von ihrer Gefangenschaft und beeindruckt durch ihre Unbeugsamkeit und ihren nicht zu brechenden Optimismus. »Ich habe Angst vor meinen Erinnerungen. Sie zerreißen mich. Aber für eines sind sie gut - sie wecken in mir den unbändigen Wunsch zu leben, zu kämpfen und alles zu überstehen, so schlimm es auch kommen mag. Ich will leben, leben, leben, verdammt, ich will zurück ins Leben.«

Auf den ersten Blick weckt die Veröffentlichung von Dalias loser Blättersammlung Assoziationen zu Anne Franks Tagebüchern, ist in ihrer Ausführung aber weniger an die Gedankenwelt der Autorin geknüpft als an die grausamen Geschehnisse, die sie miterleben musste. Dalia nimmt kein Blatt vor den Mund und beschreibt die menschenunwürdigen Zustände und heutzutage nicht mehr geläufigen Krankheiten in den Baracken detailliert, was einem den einen oder anderen Schauer über den Rücken laufen lässt. Auf eine trockene Art und Weise berichtet Dalia von ihrer Zeit im Zwangsarbeitslager und überrascht den Leser doch ab und an mit einigen tragikomischen Kommentaren, bei denen man – wenn man tief in ihrer Erzählung steckt – auch grinsen kann. »Jeder ging seinen Geschäften nach. Der eine stirbt, der andere sitzt auf dem Topf, man isst und plaudert.«

»Insgesamt 229 lose Blätter, Kaunas, Perkūno Allee 60.«

Nach ihrer Flucht, sieben Jahre später, gelingt es Dalia, ihre Erlebnisse in Eile aufzuschreiben und ihre Aufzeichnungen in einem Weckglas im Garten ihres Elternhauses zu vergraben, da sie Angst hat, dass sie vom KGB entdeckt werden könnten, von dem sie bereits beschattet wird. Dalia Grinkevičiūtė, die zwischendurch Medizin studieren konnte, wird erneut deportiert und darf danach lange nicht in ihrem Beruf arbeiten, da sie den Behörden ein Dorn im Auge ist. Ihre alten Aufzeichnungen scheinen ihr verloren gegangen zu sein und sie rekonstruiert sie in einer komprimierteren Form. Erst nach ihrem Tod 1987, in 1991, findet man ihr ursprüngliches Manuskript, auf dem dieses Buch basiert und es findet den Weg ins Nationalmuseum in Vilnius und wird zur Pflichtlektüre litauischer Schüler.

Die Authentizität des Buches und damit von Dalias Erzählung wird verstärkt durch ihre unvorhergesehen wechselnden Erzählperspektiven und den emotionalen Satzbau, bei dem man manchmal merkt, dass es sich um Übersetzungen handelt. Eigentlich beschreibt sie die Geschehnisse ihrer Verschleppung in der Gegenwartsform, lässt aber ab und an Erkenntnisse vom Zeitpunkt des Aufschreibens im Versteck mit einfließen.

Untermalt mit einigen Privatfotos aus Dalias Kindheit und Landkarten, wird so aus »Aber der Himmel – grandios« ein dokumentarischer, lebendiger Zeitzeugenbericht über das Leid, das den deportierten Litauern in der Verbannung widerfahren ist. Die Geschichte einer jungen Heldin, die alles dafür gab, dass wir jetzt von ihrem Leben erfahren und gleichzeitig eine Anklage an die Verbrecher, die solche Dinge anderen antaten und immer noch antun. Ein wichtiges Buch, das auch über die Grenzen Litauens hinweg Gehör finden sollte.

Artikel online seit 10.10.15

Dalia Grinkevičiūtė
Aber der Himmel - grandios

Aus dem Litauischen von Vytene Muschick
Matthes & Seitz Berlin, 2014
EUR 19,90
978-3-88221-387-4

 


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