Eine große (großspurige?) Eröffnung. Dann: "loslabern" als ethischer Akt.
Als neue Diskursform im Habermasien der Nullerjahre? Und natürlich
auch gleich die "passende" literaturhistorische Selbsteinstufung: Ein richtig
losgelaberter Text würde seine, dass man aber dann, ohne sich dabei zu unter;
Finsternis: Steuer, Erwachsenenleben, Verantwortung, Einsicht, Vernunft;
ENDHÖLLE. Verstanden? Nein? Macht nichts. "loslabern" ist eben auch
zwangloses bzw. -haftes Absondern. (Das aber glücklicherweise eher selten.)
Vom Größenwahn wechselt Rainald Goetz dann bisweilen ins theatralische und
geriert sich auch schon mal als der Gefangene. Aber tröstend für den
Leser: Er meint wenig in diesem Buch wirklich Ernst. Hinter diesen Textkaskaden
steckt (zu) oft (zu) wenig. Nur ab und an ist das anders, etwa wenn er
Schirrmacher vorhält, die Seriosität des (FAZ-)Feuilletons drohe nachzulassen.
Dann blitzt die Angst des Kindes hervor, seine Spielwiese zu verlieren. Denn
Goetz weiß sehr wohl, was er an seiner Spielwiese hat.
Mit Wortkreationen wie Eitelkeitsimplikationen, Geistesabtötungeffekt,
Kitschreaktionärheiten (über Botho Strauß), Unterschichtenschmutz
(Privatfernsehen) hat sich Goetz wohl endgültig in den Thomas-Bernhard-Himmel
geschrieben. Das bedeutet nicht, dass er ein simpler Bernhard-Epigone wäre oder
einfach nur die (späten) bernhardschen Weltbeschimpfungen kopiert. Goetz
gelingen Momente, die durchaus eine eigene Stimme erkennen lassen (zumal er der
spielerischere Autor ist - im Gegensatz zum austriakisch-bärbeißigen Vorbild
[ja, Vorbild]). Und die in taumelnden Textsuaden eingeflochtenen kurzen, jeweils
nur wenige Seiten langen Erzählungen (Theologisches Konvikt und 1918)
sind tatsächlich kleine Perlen.
Amüsantes vom
Feuilleton-Groupie
Dennoch kommt
einem das Handke-Wort vom "Witzel" in Bezug auf den späten Thomas Bernhard in
den Sinn (Handke verehrte die frühe Prosa Bernhards), wenn man nun diese
Klatsch- und Lügengeschichten eines doch arg nervösen Feuilleton-Groupie liest
(Goetz spielt damit, seinen Schilderungen erfundene Passagen hinzuzufügen und
sie dadurch zu literarisieren). Dabei ist das alles durchaus amüsant
(insbesondere wenn man den jeweiligen Kontext kennt, d. h. mindestens FAZ-Leser
und Fernsehzuschauer ist; die regelmäßige Perlentaucher-Lektüre schadet auch
nichts).
Auf scheinbar jeden "labert" Goetz ein (der Leser merkt nicht immer sofort, ob
es sich um innere Monologe oder reale Dialoge handelt). Es ist die Kassiererin
an der Supermarktkasse, der Zeitschriftenverkäufer (der ihm 15 Cent Wechselgeld
in 1-Cent-Stücken zurückgibt) oder eben die Crème-de-la-Crème des deutschen
Feuilletons, die hier durch den Textmahlstrom gezogen wird. So wie Frank
Schirrmacher (dessen Artikel im Herbst 2008 er als durchgeknallt bezeichnet und
im Gespräch auf dem FAZ-Herbstempfang maßt sich Goetz unvermittelt an, ihn
einfach zu bitten, wegzugehen), Don Alphonso (der umschmeichelt wird), Christian
Kracht (über dessen zweites Buch er verzweifelt), Peter Sloterdijk (dem mal eben
die Welt erklärt wird [peinlich]), Joachim Lottmann (vor dem er sich sogar
fürchtet) oder Daniel Kehlmann (der wie ein Streber-Schuljunge abgekanzelt
wird). Von Ferne beobachtet er auch Kai Diekmann (Goetz' wilde Assoziation:
Diekmann benutze als Haargel das Scheidensekret von Lady Bitch Ray), Broder;
Diekmann und Broder ("Arte"-Film!), Nils Minkmar (der Sonderbeauftragte für
Brandbeschleuniger beim ZK der FAS), Middelhoff (Achtung: Namenswitze),
Döpfner, Stuckrad-Barre (obwohl Springer-Kolumnist mit aufmunternden Worten
versehen).
Es gibt auch Reminiszenzen zu Martin Walser, Enzensberger, Bernhards "Preise"
(er rubriziert es als schwächeres Werk im Œuvre ein), zur Tellkamp-Lektüre vom
"Turm" (dazu einige grottenfalsche Lesarten, etwa wenn er Ostrom in Tellkamps
Roman einem realen Ort zuordnet oder suggeriert, ein Verteidiger des
DDR-Scheißstaat[es] könnte sich auf dieses Buch berufen – obwohl durchaus
konzediert wird, dass Tellkamp die Atmosphäre der DDR treffend schildert). Oder
einen Spontanvergleich über Berliner Schnoddrigkeit und Münchner Freundlichkeit.
Die Verfilmung von Austs "RAF"-Buch (Drecksfilm). Joachim Kaisers
Totaltraurigkeit zum 80. Geburtstag-Interview in der SZ (und wie sonst nur
selten spricht einem da der Autor aus der Seele). Haiders Unfall und das
Autowrack als Kunstwerk. Und natürlich die sich anbahnende "Finanzkrise" (nebst
Lehman-Pleite) – es gibt fast nichts, was im Herbst 2008 en vogue war und sich
nicht in diesem Buch bearbeitet findet (inklusive der Reflexionen, die wiederum
nur Reflexionen auf frühere Reflexionen sind, wie etwa über Schleef und dessen
Theaterkunst, Handkes letzten Satz aus "Wunschloses Unglück" oder den
schlechte[n] Schriftsteller Alfred Döblin, diesen Ödnisproduzent[en]).
Gegen Ende vermisst man intuitiv dann doch einige(s) und fragt sich warum.
Affirmation von
Tratsch und übler Nachrede als Kunst,
so referiert Goetz einmal in einer Suada über Döpfner – aber der Leser hat
unvermittelt einen Anhaltspunkt, wie er die vorliegende Prosa charakterisieren
könnte. Dabei sind manche dieser Reflexionen von luzider Kraft, etwa wenn er
über die Jahre der Schröder-Kanzlerschaft sagt: Nur in den rot-grünen Jahren
gab es kurz einmal den Versuch einer direkten Affirmation der Macht, und man
konnte an Schröders Beispiel gut sehen, dass sogar in der Politik der Wille zur
Macht so direkt nicht affirmiert werden darf, weil die Macht sich mit dieser
Selbstaffirmation selbst gefährdet, sogar selbst zerstören kann. Leider
wendet sich Goetz dann wieder seinem Gesprächsgast zu, statt diesen belebenden
Gedanken weiter auszuführen.
Qualitätsjournalismus und
Diskursirrsinn
Gelungen die
historische Allegorie zum aktuellen Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft.
Seit Jahren, so Goetz, wird der Politik die Vorrangstellung von der
Wirtschaft streitig gemacht (was – unüblich in diesem Buch – sehr
zurückhaltend formuliert ist). Diesen Kampf zwischen Politik und Wirtschaft
um den gesellschaftlichen Spitzenrang sieht er nun parallel zur historischen
Konfrontation zwischen Kirche und Reich, Papst und Kaiser in den
zurückliegenden Jahrhunderten. (Da erinnert man sich dann an seinen
Geschichtsunterricht.)
Zum Qualitätsjournalismus führt Goetz kurzerhand eine Art "Beweislastumkehr"
ein: Mehr denn je war…die öffentlich zugängliche Information in einer solchen
Massenhaftigkeit, Zugänglichkeit und Unüberblickbarkeit zugänglich, dass das
Problem intellektueller Qualität, also auch das Problem für den
Qualitätsjournalismus, längst umgekippt war aus dem Bedarf an Information in das
Gegenteil, in Bedarf an Nichthaben von Information… Zu Recht merkt er an,
dass 90 Prozent der überall wichtigtuerisch weitergeflüsterten
Hintergrundinformationen…totaler Sozialmüll, Unsinn, Jauche seien, die
auch dem Qualitätsjournalismus viel zu oft das Hirn viel zu sehr überschwemmt.
Demnach bestünde Qualitätsjournalismus durchaus (oder gerade) auch im
Nicht-Melden allzu banaler und/oder lächerlicher bzw. ungeprüfter, einfach nur
abgesonderter "Informationen". (Eine mehr als zutreffende Einschätzung, wie man
beispielsweise aktuell an der lachhaften Pseudo-Berichterstattung der
sogenannten Qualitätsmedien zu den Koalitionsverhandlungen sehen kann.)
Und wenn Goetz richtig wütend und dabei genau ist, dann ist die Lektüre
tatsächlich mehr als nur amüsantes Plaisir. Etwa, wenn er aus Anlaß der
Finanzkrise gekonnte Medienkritik betreibt und den kompletten Diskursirrsinn
konstatiert, der die gesamte Presse, besonders aber die Feuilletons, und
unter denen am allerheftigsten natürlich gerade auch wieder das
allerhysterischste, das der Faz, befallen hatte, wo jetzt in mehr oder weniger
täglich erscheinenden Artikeln die Revolution ausgerufen wurde, die morgen
gleich über uns hereinbrechende REVOLUTION vorhergesagt wurde, Revolution, egal
eigentlich von was und wofür, Revolution aber auf jeden Fall täglich angefragt
und angemahnt wurde […] und jeder von uns Schriftstellern musste, das war in
diesen Wochen Pflicht, per Artikel oder Interview das Ende des Kapitalismus, wie
wir ihn kennen verkünden, das neu heraufkommende Zeitalter der Vernunft
ankündigen, das jetzt im Zusammenbruch der Irrsinnigkeiten des Kapitals sichtbar
werden würde […] je besser bezahlt der Feuilletonredakteur, umso
radikalantikapitalistischer der Neoantikapitalismus, umso orthoorthodoxer der
Basalmarxismus, es war in der gesamten Öffentlichkeit kurz eine Stimmung wie
früher in der Alternativkultur, Wirgefühl, Gruppendruck, Unsinnsparolen und
richtiger Lügen natürlich auch, mit dem unangenehm modischen Triumpfgefühl, es
immer schon gewusst zu haben, aber links ist nicht nur mit den Schwachen im
Sozialen, links ist im Diskurs manchmal auch kurz da, wo eine Wahrheit schwach
ist aktuell…
Baby Schimmerlos mit
lichten Momenten
Da ist dann
doch dieser Hang auf der richtigen Seite stehen zu wollen (was er den anderen
vorwirft). Unter diesem Konformismus büßt Goetz' Denken dann an Schärfe ein; es
wird eindimensional und leicht auszurechnen. So lehnt er natürlich ganz
"korrekt" den Nationalstaat ab (besonders heftig sein Ekel vor den
Schleimer[n] und Mitmacher[n] der nur so tropfenden, so fürchterlich
gewesenen mittleren Nullerjahre hier in diesem DEUTSCHLAND VERRECKE usw,
Grausigkeitstiefstpunkt war der WM-Sommer 2006 gewesen), während er den
Wohlfahrtsstaat selbstverständlich bejaht (angekotzt ist er von einem
Buch mit der Kapitelüberschrift "Warum ist der Staat überhaupt notwendig"). Über
die Ambivalenz dieser beiden Einstellungen ist sich Goetz (wie viele andere
Intellektuelle) gar nicht im Klaren.
Nicht nur hier seufzt der Leser ob des Privilegs eines nicht argumentieren
müssenden Buches: Man erklärt es ganz schnell zur Literatur, damit man die
Inkonsequenzen nicht erläutern muss. Widerspruch ist in diesem Konzept nicht nur
nicht vorgesehen, er ist sinnlos. Oder warum (und vor allem: wie) sollte man
widersprechen, wenn beispielsweise Gorbatschow zum etwa drittwichtigste[n]
Mensch des 20. Jahrhunderts apostrophiert wird, nach Lenin und Hitler und
wohl sicher vor Stalin?
Eindeutig leidet darunter das, was man Seriosität des Autors nennen könnte (ein
Begriff, den Goetz voraussichtlich in drei Sätzen à je zweieinhalb Seiten aufs
Schärfste als Unfug abtun würde). Aber es gibt auch gewollt komische Passagen in
diesem Buch, wenn der Autor beispielsweise eine Art Fehlersuchspiel entwirft:
Giovanni di Lorenzo, Die
Zeit […]
Helmut Markwort, Focus […]
Gerhard Steidl, Steidl-Verlag
Elke Heidenreich, Spinat
Oder wenn er launig die
sieben großen "W" des Journalismus aufzählt:
wer?
// was? // wie? // wo? // wann? // warum?
Bei aller Albernheit:
Goetz versteht sich (seit "Abfall für Alle") als Chronist (inzwischen der
perversen Nullerjahre). Und dies macht er rebellisch-posierend,
bernardesk-wütend in einer Mischung zwischen Baby Schimmerlos des FAZ/taz/SZ/Spiegel/Zeit-Feuilletons
und eines "écriture automatique"-Adepten der 1920er Jahre.
Man vergesse jedoch nicht:
Hier wird ein Schauspiel aufgeführt. Goetz ist natürlich längst nicht mehr das
enfant terrible. Er ist "angekommen" und berichtet aus dem Zentrum des
"Betriebs" und nicht von dessen Rand (auch das unterscheidet ihn beispielsweise
von Bernhard). Man achte beispielsweise darauf, wen er nicht erwähnt. Es
gibt bei ihm auch keine "Entdeckungen", keine "Außenseiter"-Sichten. Er stiftet
keine "Diskurse", er nimmt sie nur auf, spinnt sie teilweise ins Absurde aber
manchmal gelingen ihm dabei belebende Ideen. Seine Kreativität ist dennoch auf
die Re-Aktion beschränkt. Goetz' "loslabern", Teil eines großen Projekts, sind
Aufzeichnungen, die den am Feuilleton interessierten Leser eine
Schlüssellochperspektive suggerieren. Wie lange die Kraft dieser Beobachtungen
attraktiv bleibt, ist fraglich. Der Chronist der Nullerjahre scheint manchmal
mit eher kurzer Lebensdauer zu berichten. Aber vielleicht irrt der Leser da und
in zwanzig Jahren sind diese Bücher kanonisiert. Mindestens werden sie den dann
noch lebenden Zeitgenossen als Erinnerungsstützen dienen. Gregor Keuschnig
Die kursiv gesetzten
Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch
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Begleitschreiben
Artikel
online seit 2008
|
Rainald Goetz
Loslabern
Bericht. Herbst 2008
Suhrkamp
Gebunden, 187 Seiten
17,80
ISBN: 978-3-518-42112-3
Leseprobe |