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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Widerspruch zwecklos

Über Rainald Goetz' neueste Zeitmitschriften:
»LOSLABERN: Traktat,
Traktat über den Tod, über Wahn, Sex und Text, und, erheitert von
diesem soeben durch ihn hindurchgefahrenen Expressivitätsereignis:
Bericht!, der Herbst 2008!...«

Von Gregor Keuschnig
 

Eine große (großspurige?) Eröffnung. Dann: "loslabern" als ethischer Akt. Als neue Diskursform im Habermasien der Nullerjahre? Und natürlich auch gleich die "passende" literaturhistorische Selbsteinstufung: Ein richtig losgelaberter Text würde seine, dass man aber dann, ohne sich dabei zu unter; Finsternis: Steuer, Erwachsenenleben, Verantwortung, Einsicht, Vernunft; ENDHÖLLE. Verstanden? Nein? Macht nichts. "loslabern" ist eben auch zwangloses bzw. -haftes Absondern. (Das aber glücklicherweise eher selten.)
Vom Größenwahn wechselt Rainald Goetz dann bisweilen ins theatralische und geriert sich auch schon mal als der Gefangene. Aber tröstend für den Leser: Er meint wenig in diesem Buch wirklich Ernst. Hinter diesen Textkaskaden steckt (zu) oft (zu) wenig. Nur ab und an ist das anders, etwa wenn er Schirrmacher vorhält, die Seriosität des (FAZ-)Feuilletons drohe nachzulassen. Dann blitzt die Angst des Kindes hervor, seine Spielwiese zu verlieren. Denn Goetz weiß sehr wohl, was er an seiner Spielwiese hat.
Mit Wortkreationen wie Eitelkeitsimplikationen, Geistesabtötungeffekt, Kitschreaktionärheiten (über Botho Strauß), Unterschichtenschmutz (Privatfernsehen) hat sich Goetz wohl endgültig in den Thomas-Bernhard-Himmel geschrieben. Das bedeutet nicht, dass er ein simpler Bernhard-Epigone wäre oder einfach nur die (späten) bernhardschen Weltbeschimpfungen kopiert. Goetz gelingen Momente, die durchaus eine eigene Stimme erkennen lassen (zumal er der spielerischere Autor ist - im Gegensatz zum austriakisch-bärbeißigen Vorbild [ja, Vorbild]). Und die in taumelnden Textsuaden eingeflochtenen kurzen, jeweils nur wenige Seiten langen Erzählungen (Theologisches Konvikt und 1918) sind tatsächlich kleine Perlen.

Amüsantes vom Feuilleton-Groupie
Dennoch kommt einem das Handke-Wort vom "Witzel" in Bezug auf den späten Thomas Bernhard in den Sinn (Handke verehrte die frühe Prosa Bernhards), wenn man nun diese Klatsch- und Lügengeschichten eines doch arg nervösen Feuilleton-Groupie liest (Goetz spielt damit, seinen Schilderungen erfundene Passagen hinzuzufügen und sie dadurch zu literarisieren). Dabei ist das alles durchaus amüsant (insbesondere wenn man den jeweiligen Kontext kennt, d. h. mindestens FAZ-Leser und Fernsehzuschauer ist; die regelmäßige Perlentaucher-Lektüre schadet auch nichts).
Auf scheinbar jeden "labert" Goetz ein (der Leser merkt nicht immer sofort, ob es sich um innere Monologe oder reale Dialoge handelt). Es ist die Kassiererin an der Supermarktkasse, der Zeitschriftenverkäufer (der ihm 15 Cent Wechselgeld in 1-Cent-Stücken zurückgibt) oder eben die Crème-de-la-Crème des deutschen Feuilletons, die hier durch den Textmahlstrom gezogen wird. So wie Frank Schirrmacher (dessen Artikel im Herbst 2008 er als durchgeknallt bezeichnet und im Gespräch auf dem FAZ-Herbstempfang maßt sich Goetz unvermittelt an, ihn einfach zu bitten, wegzugehen), Don Alphonso (der umschmeichelt wird), Christian Kracht (über dessen zweites Buch er verzweifelt), Peter Sloterdijk (dem mal eben die Welt erklärt wird [peinlich]), Joachim Lottmann (vor dem er sich sogar fürchtet) oder Daniel Kehlmann (der wie ein Streber-Schuljunge abgekanzelt wird). Von Ferne beobachtet er auch Kai Diekmann (Goetz' wilde Assoziation: Diekmann benutze als Haargel das Scheidensekret von Lady Bitch Ray), Broder; Diekmann und Broder ("Arte"-Film!), Nils Minkmar (der Sonderbeauftragte für Brandbeschleuniger beim ZK der FAS), Middelhoff (Achtung: Namenswitze), Döpfner, Stuckrad-Barre (obwohl Springer-Kolumnist mit aufmunternden Worten versehen).
Es gibt auch Reminiszenzen zu Martin Walser, Enzensberger, Bernhards "Preise" (er rubriziert es als schwächeres Werk im Œuvre ein), zur Tellkamp-Lektüre vom "Turm" (dazu einige grottenfalsche Lesarten, etwa wenn er Ostrom in Tellkamps Roman einem realen Ort zuordnet oder suggeriert, ein Verteidiger des DDR-Scheißstaat[es] könnte sich auf dieses Buch berufen – obwohl durchaus konzediert wird, dass Tellkamp die Atmosphäre der DDR treffend schildert). Oder einen Spontanvergleich über Berliner Schnoddrigkeit und Münchner Freundlichkeit. Die Verfilmung von Austs "RAF"-Buch (Drecksfilm). Joachim Kaisers Totaltraurigkeit zum 80. Geburtstag-Interview in der SZ (und wie sonst nur selten spricht einem da der Autor aus der Seele). Haiders Unfall und das Autowrack als Kunstwerk. Und natürlich die sich anbahnende "Finanzkrise" (nebst Lehman-Pleite) – es gibt fast nichts, was im Herbst 2008 en vogue war und sich nicht in diesem Buch bearbeitet findet (inklusive der Reflexionen, die wiederum nur Reflexionen auf frühere Reflexionen sind, wie etwa über Schleef und dessen Theaterkunst, Handkes letzten Satz aus "Wunschloses Unglück" oder den schlechte[n] Schriftsteller Alfred Döblin, diesen Ödnisproduzent[en]). Gegen Ende vermisst man intuitiv dann doch einige(s) und fragt sich warum.
Affirmation von Tratsch und übler Nachrede als Kunst, so referiert Goetz einmal in einer Suada über Döpfner – aber der Leser hat unvermittelt einen Anhaltspunkt, wie er die vorliegende Prosa charakterisieren könnte. Dabei sind manche dieser Reflexionen von luzider Kraft, etwa wenn er über die Jahre der Schröder-Kanzlerschaft sagt: Nur in den rot-grünen Jahren gab es kurz einmal den Versuch einer direkten Affirmation der Macht, und man konnte an Schröders Beispiel gut sehen, dass sogar in der Politik der Wille zur Macht so direkt nicht affirmiert werden darf, weil die Macht sich mit dieser Selbstaffirmation selbst gefährdet, sogar selbst zerstören kann. Leider wendet sich Goetz dann wieder seinem Gesprächsgast zu, statt diesen belebenden Gedanken weiter auszuführen.

Qualitätsjournalismus und Diskursirrsinn
Gelungen die historische Allegorie zum aktuellen Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft. Seit Jahren, so Goetz, wird der Politik die Vorrangstellung von der Wirtschaft streitig gemacht (was – unüblich in diesem Buch – sehr zurückhaltend formuliert ist). Diesen Kampf zwischen Politik und Wirtschaft um den gesellschaftlichen Spitzenrang sieht er nun parallel zur historischen Konfrontation zwischen Kirche und Reich, Papst und Kaiser in den zurückliegenden Jahrhunderten. (Da erinnert man sich dann an seinen Geschichtsunterricht.)
Zum Qualitätsjournalismus führt Goetz kurzerhand eine Art "Beweislastumkehr" ein: Mehr denn je war…die öffentlich zugängliche Information in einer solchen Massenhaftigkeit, Zugänglichkeit und Unüberblickbarkeit zugänglich, dass das Problem intellektueller Qualität, also auch das Problem für den Qualitätsjournalismus, längst umgekippt war aus dem Bedarf an Information in das Gegenteil, in Bedarf an Nichthaben von Information… Zu Recht merkt er an, dass 90 Prozent der überall wichtigtuerisch weitergeflüsterten Hintergrundinformationen…totaler Sozialmüll, Unsinn, Jauche seien, die auch dem Qualitätsjournalismus viel zu oft das Hirn viel zu sehr überschwemmt. Demnach bestünde Qualitätsjournalismus durchaus (oder gerade) auch im Nicht-Melden allzu banaler und/oder lächerlicher bzw. ungeprüfter, einfach nur abgesonderter "Informationen". (Eine mehr als zutreffende Einschätzung, wie man beispielsweise aktuell an der lachhaften Pseudo-Berichterstattung der sogenannten Qualitätsmedien zu den Koalitionsverhandlungen sehen kann.)
Und wenn Goetz richtig wütend und dabei genau ist, dann ist die Lektüre tatsächlich mehr als nur amüsantes Plaisir. Etwa, wenn er aus Anlaß der Finanzkrise gekonnte Medienkritik betreibt und den kompletten Diskursirrsinn konstatiert, der die gesamte Presse, besonders aber die Feuilletons, und unter denen am allerheftigsten natürlich gerade auch wieder das allerhysterischste, das der Faz, befallen hatte, wo jetzt in mehr oder weniger täglich erscheinenden Artikeln die Revolution ausgerufen wurde, die morgen gleich über uns hereinbrechende REVOLUTION vorhergesagt wurde, Revolution, egal eigentlich von was und wofür, Revolution aber auf jeden Fall täglich angefragt und angemahnt wurde […] und jeder von uns Schriftstellern musste, das war in diesen Wochen Pflicht, per Artikel oder Interview das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen verkünden, das neu heraufkommende Zeitalter der Vernunft ankündigen, das jetzt im Zusammenbruch der Irrsinnigkeiten des Kapitals sichtbar werden würde […] je besser bezahlt der Feuilletonredakteur, umso radikalantikapitalistischer der Neoantikapitalismus, umso orthoorthodoxer der Basalmarxismus, es war in der gesamten Öffentlichkeit kurz eine Stimmung wie früher in der Alternativkultur, Wirgefühl, Gruppendruck, Unsinnsparolen und richtiger Lügen natürlich auch, mit dem unangenehm modischen Triumpfgefühl, es immer schon gewusst zu haben, aber links ist nicht nur mit den Schwachen im Sozialen, links ist im Diskurs manchmal auch kurz da, wo eine Wahrheit schwach ist aktuell…

Baby Schimmerlos mit lichten Momenten
Da ist dann doch dieser Hang auf der richtigen Seite stehen zu wollen (was er den anderen vorwirft). Unter diesem Konformismus büßt Goetz' Denken dann an Schärfe ein; es wird eindimensional und leicht auszurechnen. So lehnt er natürlich ganz "korrekt" den Nationalstaat ab (besonders heftig sein Ekel vor den Schleimer[n] und Mitmacher[n] der nur so tropfenden, so fürchterlich gewesenen mittleren Nullerjahre hier in diesem DEUTSCHLAND VERRECKE usw, Grausigkeitstiefstpunkt war der WM-Sommer 2006 gewesen), während er den Wohlfahrtsstaat selbstverständlich bejaht (angekotzt ist er von einem Buch mit der Kapitelüberschrift "Warum ist der Staat überhaupt notwendig"). Über die Ambivalenz dieser beiden Einstellungen ist sich Goetz (wie viele andere Intellektuelle) gar nicht im Klaren.
Nicht nur hier seufzt der Leser ob des Privilegs eines nicht argumentieren müssenden Buches: Man erklärt es ganz schnell zur Literatur, damit man die Inkonsequenzen nicht erläutern muss. Widerspruch ist in diesem Konzept nicht nur nicht vorgesehen, er ist sinnlos. Oder warum (und vor allem: wie) sollte man widersprechen, wenn beispielsweise Gorbatschow zum etwa drittwichtigste[n] Mensch des 20. Jahrhunderts apostrophiert wird, nach Lenin und Hitler und wohl sicher vor Stalin?
Eindeutig leidet darunter das, was man Seriosität des Autors nennen könnte (ein Begriff, den Goetz voraussichtlich in drei Sätzen à je zweieinhalb Seiten aufs Schärfste als Unfug abtun würde). Aber es gibt auch gewollt komische Passagen in diesem Buch, wenn der Autor beispielsweise eine Art Fehlersuchspiel entwirft:

Giovanni di Lorenzo, Die Zeit […]
Helmut Markwort, Focus […]
Gerhard Steidl, Steidl-Verlag
Elke Heidenreich, Spinat

Oder wenn er launig die sieben großen "W" des Journalismus aufzählt:
wer? // was? // wie? // wo? // wann? // warum?

Bei aller Albernheit: Goetz versteht sich (seit "Abfall für Alle") als Chronist (inzwischen der perversen Nullerjahre). Und dies macht er rebellisch-posierend, bernardesk-wütend in einer Mischung zwischen Baby Schimmerlos des FAZ/taz/SZ/Spiegel/Zeit-Feuilletons und eines "écriture automatique"-Adepten der 1920er Jahre.

Man vergesse jedoch nicht: Hier wird ein Schauspiel aufgeführt. Goetz ist natürlich längst nicht mehr das enfant terrible. Er ist "angekommen" und berichtet aus dem Zentrum des "Betriebs" und nicht von dessen Rand (auch das unterscheidet ihn beispielsweise von Bernhard). Man achte beispielsweise darauf, wen er nicht erwähnt. Es gibt bei ihm auch keine "Entdeckungen", keine "Außenseiter"-Sichten. Er stiftet keine "Diskurse", er nimmt sie nur auf, spinnt sie teilweise ins Absurde aber manchmal gelingen ihm dabei belebende Ideen. Seine Kreativität ist dennoch auf die Re-Aktion beschränkt. Goetz' "loslabern", Teil eines großen Projekts, sind Aufzeichnungen, die den am Feuilleton interessierten Leser eine Schlüssellochperspektive suggerieren. Wie lange die Kraft dieser Beobachtungen attraktiv bleibt, ist fraglich. Der Chronist der Nullerjahre scheint manchmal mit eher kurzer Lebensdauer zu berichten. Aber vielleicht irrt der Leser da und in zwanzig Jahren sind diese Bücher kanonisiert. Mindestens werden sie den dann noch lebenden Zeitgenossen als Erinnerungsstützen dienen. Gregor Keuschnig

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch

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Artikel online seit 2008
 

Rainald Goetz
Loslabern Bericht. Herbst 2008
Suhrkamp
Gebunden, 187 Seiten
17,80
ISBN: 978-3-518-42112-3

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