Nur zwei Jahre
nach ihrem ersten Roman »Aller Liebe Anfang«, der, vorsichtig
gesagt, eine gemischte Aufnahme fand, viel Schelte, wenig Lob, hat
Judith Hermann jetzt ein neues Buch vorgelegt. Erzählungen unter dem
Titel »Lettipark«. Diese Geschichten werden vermutlich wieder nicht
allgemeinen Beifall finden, aber es sind starke Geschichten, einige
wunderbar, die Beifall verdienen und meinen haben.
Siebzehn Geschichten, nie länger als zwölf Seiten. Keine einzige
Story dabei. Judith Hermann betrachtet vielmehr, häufig wie in einem
Brennspiegel, eine Situation, einen Tag, ein Ereignis im Leben von
Menschen, den Beginn einer Beziehung, ein Wiedersehen nach
Jahrzehnten. Es geschieht nichts Spektakuläres, es werden keine
Pointen gezündet, es geht um das ganz normale Leben.
Tess ist eine alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern. Als
beide krank sind und sie zu einem Vorstellungsgespräch muss, ruft
sie Nick an. Nick kommt immer, wenn es um die Kinder geht, obwohl er
nicht der Vater ist. Nick bastelt mit ihnen Papierflieger, die sie,
wenn es dunkel ist, fliegen lassen wollen. Auch Nick und Tess gehen
sehr achtsam, fast liebevoll miteinander um. »Du solltest auf jeden
Fall eine Mütze aufsetzten, es ist eiskalt draußen«, rät er ihr.
Zurückgekehrt, berührt sie ihn an der Schulter. »Bleib noch zum
Abendessen. Bleib noch ein wenig, Nick, ich koche uns was, und im
Kühlschrank steht noch ein kaltes Bier.«
Es könnte eigentlich so einfach sein. »Sie sagt, manchmal möchte ich
alles noch mal zerlegen. Neu zusammensetzen. Nicht noch mal von
vorne anfangen, das meine ich nicht. Aber mit dem, was da ist, was
andres machen. Naja, und das geht eben nicht.« Judith Hermann ist
eine genaue Beobachterin. Sie erfasst Stimmungen und kann sie
beschreiben. Sie arbeitet an ihren Sätzen. Jedes einzelne Wort
scheint kalkuliert und wirkt doch wie selbstverständlich. Man sollte
die Geschichten langsam, vor allem genau lesen. Manchmal reicht ein
Wort, um eine Situation ins Kippen zu bringen. Ein junges Pärchen
freut sich auf Ferien in Odessa am Schwarzen Meer. Es ist September,
die Nächte zwar schon kalt, »aber die Tage werden sicher noch warm
sein.« Am Bahnhof halten, wie hier üblich, Frauen Pappschilder hoch,
auf denen sie Unterkunft anbieten. Jessica freut sich auf ein Zimmer
»mit einem wirklich sauberen Bett, weiß gestärkten Laken und
knisternde Federdecken«. Was ihnen angeboten wird, sind dreckige
Löcher ohne Toilette, verrottet, unbewohnbar. Die alte Frau, die
ihnen diese Löcher zumutet, ist selbst abgestumpft, ohne irgendeine
Regung nimmt sie ein Trinkgeld entgegen und verschwindet. Ari sagt:
»Wir gehen zum Meer runter. Wir finden was Schönes, ich versprech’s
dir. Ich verspreche es dir.«
Eine dunkle, eine trostlose Geschichte. In »Lettipark«, der
titelgebenden Erzählung, trifft Rose nach Jahrzehnten Elena wieder.
Sie hatte Elena als junges Mädchen bewundert, sie war nicht nur
schön und selbstbewusst, sie hatte auch Erfolg bei Jungen. »Sie war
kräftig, mutig, heiter … und sie war immer auf der Hut.« Jetzt im
Supermarkt ist sie „schwer und alt geworden, phlegmatisch und
langsam.“ Der sichtbare Verfall dieser einst so tollen Frau geht ihr
unter die Haut.
Die Geschichten, in denen kleine Kinder ein Rolle spielen, und das
ist fast die Hälfte, scheinen am authentischsten. Ganz besonders
eindrucksvoll ist die des kleinen Vincent. Da werden nicht viele
Worte gemacht. Eckdaten genügen. Und das Elend steht einem vor
Augen. Die Mutter des Vierjährigen stirbt, einige Jahre, nachdem ihr
Mann sie verlassen hat, an – da sind sich alle einig – »gebrochenem
Herzen«. Die jungen Leute, die anscheinend zusammen auf dem Land
leben, schaufeln tonnenweise Kohlen in den verlassenen Stall. Der
kleine Vincent steht auf einmal da und packt mit an. Sie alle
denken, wie der Tod »Vincents ganzes Leben bestimmen würde, und wir
nahmen die Kohlen aus seinen kleinen schmutzigen Händen wie Hostien
entgegen.« Der Kleine, der davon nichts merkt, schleppt weiter die
Kohlen. Solche Bilder bleiben. Eindringlich beschreibt Judith
Hermann die ständige Suche der Menschen nach Nähe, wobei
eindringlich sicher nicht das richtige Wort: wie hingehaucht
skizziert sie ihre Bilder. Mit wenigen Strichen zeichnet sie
teilweise unvergessliche Figuren.
In ihrem »Lettipark« hat Judith Hermann wieder einmal gezeigt, was
Poesie leisten kann.
Artikel
online seit 24.06.16
Wir danken dem
Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt & Rhein-Main
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Judith Hermann
Lettipark
Erzählungen
S. Fischer Verlag, 201
189 Seiten
18,99 Euro
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