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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Die Last der Freiheit

Ein Roman über die Zeit der 68er. In »Das indiskrete Leben der Alice Horn«
zeichnet die dänische Autorin Anne Lise Marstrand- Jørgensen das Bild einer
Familie in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, in der jeder versucht,
auf seine Weise durch die neuen Freiheiten sein Glück zu finden, und auf seine
Weise an diesen Möglichkeiten scheitert.
 

Von Daniela Konzelmann

 

»Es ging etabliert, ordentlich und solide zu, und doch war alles so neu und spannend, dass das Gefühl entstand, am Aufbau von etwas Neuem beteiligt zu sein.«

Das Ende der sechziger Jahre und der Anfang der siebziger Jahre. Aufbruch, Wohlstand, sexuelle Revolution und freie Liebe. Und mittendrin eine durchschnittliche Vorstadtfamilie in den Wirren der neuen Freiheiten. All diese Themen hätten »Das indiskrete Leben der Alice Horn« zu einem vielschichtigen Familienroman und einem pointierten Gemälde dieser wilden Epoche machen können. Würde der Roman diese großartigen Themen nicht in der Schwerfälligkeit seiner Protagonisten und seiner 671 Seiten ertränken.

Alice und Eric Horn leben scheinbar das perfekte, unaufgeregte Leben einer kleinbürgerlichen Vorstadtfamilie im Dänemark der späten Sechziger. Aufgewachsen in den Nachkriegsjahren, genießt Alice den neuen Wohlstand und die damit verbundenen Annehmlichkeiten. Das Haus, das Auto und die Tatsache, dass sie selbst nicht arbeiten gehen muss, sondern Hausfrau und Mutter sein kann, genau wie alle anderen Mütter in der Nachbarschaft. Doch sie fühlt eine innere Unruhe, ein Gefühl der Leere, das durch nichts gefüllt werden kann. Eric ist ebenfalls innerlich zerrissen. Er gefällt sich in seiner Rolle als Versorger der Familie, als erfolgreicher Geschäftsmann und Familienvater, doch er liebäugelt mit den neuen sozialen Veränderungen. Durch seine Studienfreunde lernt er die Welt der Kommunen, der Demonstrationen und der Emanzipation kennen, die ihn fasziniert und deren Ideale er sich verschreibt. Er möchte ein Stück vom Kuchen abhaben und sucht sich das für ihn schmackhafteste Stück aus: freie Liebe und Sexualität. Er überredet Alice zu einer offenen Beziehung, er schläft mit anderen Frauen, drängt Alice dazu das selbe zu tun und glaubt, damit den Spagat zwischen seinen bürgerlichen Vorstellungen und seiner sexuellen Interessen zu meistern und eine moderne Ehe zu führen. Er merkt nicht, wie sehr Alice leidet und wie sehr sie darum kämpft, mit der ihr aufgezwungenen Freiheit umzugehen. Die beiden entfremden sich immer mehr und nach Alices drastischem Entschluss, dem allen zu entfliehen, versteht Eric seine Frau, sich selbst und die Welt nicht mehr.

Die Handlung des Romans entwickelt sich quälend langsam, der Leser wird gefangen in der Trägheit der um sich selbst kreisenden Gedanken der Protagonisten, die es nicht schaffen, sich aus ihren Verhaltensmustern zu lösen, die sie unglücklich machen. Man möchte Eric und Alice schütteln, um den einen aus seiner Ichbezogenheit und die andere aus ihrer Lethargie zu wecken. Stattdessen folgt der Leser ihnen weiter in ihrer Abwärtsspirale, die schließlich auch die drei Kinder der beiden mit ihn ihren Sog nimmt. Der zweite und dritte Teil des Romans widmen sich der Entwicklung der Kinder Marie-Louise, Flora und Martin, wobei der Fokus auf der rebellischen Flora liegt. Flora, dieses wilde und fantasievolle Kind, ist auch die einzige Figur, die mein ehrliches Interesse und meine Sympathie gewinnen konnte. Die Töchter sind dabei, die Fehler der Eltern auf ihre Weise zu wiederholen, während der verschlossene Martin während des gesamten Romans im Hintergrund bleibt. Am Ende steht die Familie wieder an einem Wendepunkt, der jedoch nichts Gutes verspricht. Nach über 600 Seiten werden schließlich noch neue Fäden aufgenommen, die dann jedoch als lose Enden einen ratlosen und enttäuschten Leser zurücklassen.

Der Titel der deutschen Übersetzung ist leider aus zweierlei Gründen unglücklich gewählt. Zum einen suggeriert er, dass es sich bei Alice Horn um die eigentliche Protagonistin des Romans handelt. Dies gilt allerdings, wenn überhaupt, nur für das erste Drittel des Romans, danach ist Alice nur noch in der immer mehr verschwimmenden Erinnerung ihrer Familie lebendig und der Fokus verschiebt sich auf das Leben ihres Mannes und ihrer Kinder. Zum anderen ist Alices Leben alles andere als indiskret; Indiskretion ist das letzte, was sie anstreben würde. Der dänische Originaltitel »Hvad man ikke ved« (dt. »Was man nicht weiß«) ist deutlich passender und verweist auf die vielen Geheimnisse, die hinter den Fassaden der hübschen Vorstadthäusern warten und die um des Seelenfriedens Willen besser untergründet bleiben.

Leider kann »Das indiskrete Leben der Alice Horn« die Erwartungen an einen Roman über die 68er Jahre und die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen nicht erfüllen. Die Figuren bleiben unnahbar und unverständlich. Der Roman stellt Fragen nach echter und aufgezwungener Freiheit, doch schafft er es nicht, den Leser mitzureißen. Angesichts des Unglücks der Figuren stellt sich eher Resignation und Frust ein als Mitgefühl und Melancholie. Am Ende bleibt wenig außer dem Gefühl, dass diese neue Freiheit es den Protagonisten ermöglicht, jeder nach seiner Fasson unglücklich zu werden.

Artikel online seit 19.01.16

 

Anne Lise Marstrand-Jørgensen
Das indiskrete Leben der Alice Horn
Roman
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Insel Verlag
671 Seiten, 24,95 € (Gebunden)

978-3-458-17613-8

Lesestoff
 


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