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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Geruhsamer Kehraus

György Konráds »Gästebuch« ist Erinnerung & lebensphilosophische Betrachtung

Von Wolfram Schütte

 

Der 1933 in Debrecen geborene ungarische Schriftsteller György Konrad ist einer der bekanntesten europäischen Autoren. Dabei ist der durch puren Zufall in Budapest dem Holocaust Entkommene nicht der Autor eines singulären Buches, wie sein  vier Jahre älterer Landsmann Imre Kertész, der dafür auch den Literarturnobelpreis erhielt. Konrad, der Soziologie studiert & als Budapester Stadtplaner gearbeitet hat, ist ein Autor von Romanen, autobiographischer Prosa & politischen Essays, die zu ihrer Zeit Aufsehen erregten, weil der in seiner Heimat lebende unverkennbare Dissident darin z.B. den grenzüberschreitenden Begriff „Mitteleuropa“ kreierte & in der bipolaren Weltzeit  (s)eine „Antipolitik“ ins Gespräch brachte – an denen er bis heute festhält.

György Kónrad war aber auch  zeitlebens ein Grenzgänger: persönlich (als ein Schriftsteller, der sowohl im ungarischen Zuhause als auch zeitweise in der Fremde lebte); & literarisch, weil sein kontinuierlich von Hans-Henning Paetzke ins Deutsche übertragenes Oeuvre die literarischen Genres immer entschiedener & riskanter vermischt & überschreitet - hin zu einem aufs schönste & eleganteste immer wieder aphoristisch verdichtetem Prosamäandern zwischen Narration & Diskursivität, Fiktion & Autobiographie, Beschreibung & Reflexion.

Der Autor György Konrád, der  sowohl Präsident des Welt-PEN als auch der Westberliner Akademie der Künste gewesen ist, erweckt bei seinen Lesern den Eindruck, Schreiben sei ihm gewissermaßen so alltäglich wie Atemholen: ein unausgesetzter, quasi natürlicher Vorgang, während dessen über vierzigjähriger Dauer ein höchst umfangreiches, vielgestaltiges Werk entstanden ist, das dem langen & breiten Fluss der Donau gleicht, wenn man es nicht sogar (wegen seiner Unübersichtlichkeit) mit dem wilden Schwemmland des Donaudeltas vergleichen wollte.

Dieser Versuch, sich einer bildlichen Vorstellung von György Konráds literarischen Arbeiten zu  machen, die seit den späten 60iger Jahren bei Suhrkamp auf  Deutsch erschienen, wird von mir gewagt in der Hoffnung, dass man auch als Rezensent einmal das Glück hat, dass sich  auf einem “die Metaphern niederlassen wie Bienen auf dem Pfirsichbaum“.

Diese aphoristische Metapher des Ungarn stammt aus seiner jüngsten Arbeit, dem „Gästebuch“ des Achtzigjährigen, das dem „Nachsinnen über die Freiheit““ gewidmet ist. Der Titel ist jedoch irreführend, weil es sich nicht, wie im üblichen Gebrauch des Wortes, um eine Sammlung von Eintragungen handelt, die von den Gästen stammen, die bei einem zu Besuch waren.  (Konrads deutscher Verleger hatte ein solches Gästebuch in seiner Frankfurter Wohnung zum gefälligen Gebrauch seiner meist illustren Gäste aufliegen.)

Konrads „Gästebuch“ ist so etwas wie eine kursorische Summe seines Lebens, Schreibens & Denkens. Ein umherschweifend-meditierender Kehraus von Erinnerungen, Anekdoten, Lebensweisheiten & -ansichten des heute teils in seinem Haus mit Garten am Plattensee  (wo ihm die oben zitierte Metapher sinnfällig wurde), teils in seiner Budapester Wohnung mit seiner jüngeren Frau & seinen zwei Kindern glücklich lebenden Schriftstellers: “Ich friere nicht, werde nicht naß, habe zu essen und ein Buch in der Hand. Was sollte mir fehlen?“

Der ältere Herr, der da in Budapest über das geschützte Glück seiner Selbstzufriedenheit meditiert, beschreibt seine literarische Arbeit an seinem „Gästebuch“ als ein „Mich-Zurückbeugen zum kontinuierlichen Gestern, das bis zum gegenwärtigen Augenblick reicht“. Denn: „Der junge Mensch hat Phantasie, der Erwachsene handelt und der Alte erinnert sich“.

Konráds Erinnern reicht weit in die Kindheit & Jugend zurück. Ihm geht es aber nicht darum, bloß zu erinnern; sondern die literarische Schönheit seines „Gästebuchs“ ist dort besonders intensiv & eigenartig, wo wir als Mitleser gewissermaßen intim dabei sind, wenn sich dem Memorierenden die Vergangenheiten in kleinen Momentaufnahmen übereinander legen, z.B. in der folgenden Passage über die Erotik & die Lebensalter: „Wer war jene Frau?“ fragt der Memorierende sich beim Versuch, das diffuse erste Erinnerungsbild auszumalen; und er fährt dann fort: „Entscheide dich endlich, was sie für eine Haarfarbe hatte. Dass du ihr in den Mantel geholfen hast, hat nicht viel zu bedeuten, denn das hast du mit allen andern Frauen auch getan. Du darfst ihren Nacken streicheln, auch ihr Zöpfchen betasten. Doch diese schreckliche, besitzergreifende Paschabewegung! Dass der Herr seine Hand auf den Schenkel der Dame am Steuer legt, wodurch er auch den Automatismus des auf dem Gaspedal lastenden Fußes durcheinander bringen könnte, geht über jede Stilkritik hinaus. Du siehst das kleine Mädchen bäuchlings auf dem Teppich liegen, während es mit den in weißen Kniestrümpfen steckenden Beinchen strampelt. Gestern standest du in einem Krankensaal an der Seite einer sterbenden alten Frau. Alte Augen, bettlägerige Gefangene, beobachteten dich schweigend, der du noch auf eigenen Beinen den Saal verlassen konntest“.

Hier purzeln Erinnerungsbilder verschiedener Lebensalter & Orte übereinander & rufen im erotischen Verhältnis zu Frauen alle Lebensalter auf; ebenso kommentiert er sowohl erlaubte Zärtlichkeit als auch besitzergreifendes Paschagehabe des Mannes, der er selbst war – wie zuletzt die schmerzhafte Trennung von der „sterbenden alten Frau“ im Krankensaal, den er „noch auf eigenen Beinen verlassen konnte“, wie er mit den Augen der „bettlägerigen Gefangen“ empfindet.

Möglicherweise kann man den sowohl prekären als auch höchst illuminierten ästhetischen Charakter von György Konráds kleinen Memorabilien erst so recht schätzen & lieben, wenn man sich als Leser selbst in der Nähe seines Alters befindet. Zumindest trifft das auf alle jene Passagen zu, in denen der Achtzigjährige von seiner existenziellen Situation spricht. Er kann das mit einer ebenso aufrichtigen wie ironischen Selbstverständlichkeit tun, weil Konrád – wie eigentlich schon immer – ein gewissermaßen „buddhistischer“ Charakter ist, weil er ein dezidiert ziviles, ironisches, Konflikte ausgleichendes Temperament besitzt, wenn auch gelegentlich durchaus kompromisslos entschieden sein kann!

Bekanntlich hat Konrad unmisserständlich & gezielt gegen den autoritären ungarischen Ministerpräsidenten Orban sich geäußert. „Bescheidene Menschen gefallen mir besser als diejenigen, die ihr Kinn in die Höhe recken“. Aber in seinem allgemein gehaltenen „Gästebuch“ kann man seine politisch-moralische Grundhaltung zu den reaktionären postkommunistischen Entwicklungen in seiner Heimat nur indirekt ermitteln – sub specie aetatis gewissermaßen.

Obwohl der Ungläubige „am Anfang des neunten Jahrzehnts“ sich seiner jüdischen Vorfahren erinnert, die religiösen Riten des Judentums pflegt & er aus dem Talmud zitiert – z.B. „Weisheit ist nur bei den Demütigen“, „Auch der Sünder darf nicht erniedrigt werden“ oder „Der größte Schmerz, der dem Menschen zugefügt werden kann, ist die Beschämung“ -, sind für ihn „die heiligen Texte der verschiedenen Religionen doch nur Teil der Weltliteratur“. Denn „nur uns Menschen gibt es, sonst nichts“, versichert er gleich eingangs seines „Gästebuchs“ den Lesern, die ein „Roman“ erwartet, der einem kaleidoskopisch erschüttelten literarischen Mixtum compositum gleicht. Weil es immer wieder um dieselben Themen kreist, stellen sich auch manche Wiederholungen ein – wie es eben der Fall ist, wenn ein älterer Mensch von sich & seinem Leben spricht. Solche Themen & Variationen machen den Freundschaft stiftenden Charme des intimen Bekenntnisbuchs & seines sympathisch unaufgeregten, abwägenden Autors aus.

Manchmal ist sein Held György Konráds Alter ego: „Kalligaro“; öfter aber memophantasiert der Autor höchstselbst. Er betrachtet den Leser als seinen befreundeten Gast, mit dem zusammen er „über das Leben philosophiert“, indem er seine ereignisreiche  Biographie zur Laterna Magica eines großen sowohl ungarischen als auch welterfahrenen Schriftstellers des vergangenen Jahrhunderts macht.

Zu deren kuriosesten Szenen gehört die herrliche Passage, in welcher der weltberühmte Autor erzählt, wie nach dem Ende des kommunistischen Systems ihm hochoffiziell von seinen inoffiziellen Spitzeln der Abbau seiner Überwachung vorgeführt wurde: ein ebenso zivilisierter wie komischer Vorgang.

Man könnte sich dergleichen in der Deutschen Demokratischen Republik nicht vorstellen, weil in ihr der protestantische Rigorismus des bürokratischen Preußentums noch präsent gewesen war; ich vermute, dass in diesem ungarischen Staats-Akt der nachträglichen Höflichkeit & des Respekts vor dem international bekannten Intellektuellen noch eine längst vergangene Lebens-Kultur mit- & nachwirkt, die weit über die K. & K.-Zeit hinausreicht, womöglich noch bis ins Osmanische Reich. 

Das, was ich Konrads konstitutionellen Buddhismus nenne, äußert sich nicht nur in seiner liberalen Duldsamkeit, sondern auch in seiner absoluten Abscheu vor dem Töten von Mit-Menschen. Eine seine vielen Definition des Intellektuellen gewinnt eben dadurch ihre verblüffende Originalität: „Intellektueller ist, wer sich artikuliert und nicht tötet, im Gegenteil, Verteidiger des Lebens ist. Der Mensch tötet aus Angst vor dem Tod; wer keine Angst vor dem Tod hat, tötet nicht“.

Artikel online seit 14.07.16

 

György Konrad
Gästebuch
Nachsinnen über die Freiheit
Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke
Suhrkamp Verlag Berlin 2016.
281 Seiten,
22.95€

Leseprobe

 


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