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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

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Aus dem Land der Richter und Henker

Gibt man dem Menschen Macht, nutzt er sie. Jeder die seine.
Der eine baut Staaten und Heere, der andere Strophen und Verse.
Der Band »Aus den Kerkern Europas« stellt nun Gedichte der Dichter
und Denker aus den Kerkern der Richter und Henker vor.
 

Von Niklas Schmitt

 

Es muss irgendwann im Jahr 1779 gewesen sein, Goethe hatte seine frühen Glanztaten bereits hinter sich und war seit vier Jahren Geheimer Rat in Weimar. Er kehrte gerade von einer Reise in die Schweiz zurück und auf Einladung Carl Eugens, Herzog von Württemberg, in dessen herzoglichen Militärakademie ein. In der versammelten Menge, die den verehrten Werther-Dichter, dem dieses ganze Zeremoniell bloß fade Pflicht war, begeistert empfing, saß auch ein junger aufstrebender Dichter namens Friedrich Schiller. Unweit dieser Szenerie auf dem Hohenasperg befand sich seit zwei Jahren auf Geheiß des großzügig einladenden Herzogs der Dichter und Komponist Christian Friedrich Daniel Schubart in Kerkerhaft und sollte dort noch acht weitere Jahre seines Lebens verbringen. Vier Jahre später, 1783, wird Schiller seine Räuber fertig schreiben und vor dem Herzog in die Freiheit fliehen und Goethe in Weimar das Todesurteil über die Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn mittragen. Ach Deutschland, du Land der Dichter und Denker.

Aber keine Sorge: Obwohl wir Deutschen uns gerne viel auf unsere Dichter einbilden und auch im Bereich Schreckensherrschaft neue Maßstäbe setzen konnten, sind das keine Leistungen, deren wir alleine uns rühmen könnten. Dass auch in anderen europäischen Ländern große Denker in dunklen Verließen gelandet sind und darin nur gegen eine Wand schreibend angehen konnten, zeigt nun der von Werner von Koppenfels zusammengestellte Band »Aus den Kerkern Europas. Poetische Kassiber von Villon bis Pound«.
Wie er selbst im knappen Nachwort schreibt, bietet das Buch »ein denkbar europäisches Potpourri aus fünfhundert Jahren.« Eingeteilt in elf, chronologisch vom Mittelalter bis zur Nachkriegszeit geordnete Kapitel, werden die dunklen Flecken der Geschichte anhand ihrer lichten Stellen ex negativo vorgestellt. Mal Englands Katholikenverfolgung, mal Diktaturen in Spanien, Deutschland, Russland oder das Frankreich im ausgehenden Mittelalter. Doch es gilt: wenn auch jedes blutgefügte Reich eingeht, wie Oskar Loerke schrieb, jedwedes lichtgeborne Wort wirkt weiter, fort und fort. Und genau dazwischen liegt die Spannung dieser Gedichte. Man kann die Schönheit mancher ebenso wenig ignorieren wie die Umstände ihrer Entstehung. Koppenfels spricht von einem Potpourri europäischer Dichter, die hier zusammenkommen, und das ist es auch, eine illustre Runde an bekannten Namen – Villon, Wilde, Mandelstam, Kempowski –, aber es ist eben auch ein Ausdruck der Qual, der hier präsentiert wird und den man zur eigenen Unterhaltung, oder wenigstens noch Erbauung liest.

Aber genau davor warnt der Band eben auch, dass man die Gedichte vielleicht ebenso schnell liest und abtut wie die Geschichte aus der sie entstanden sind. Denn was einst in einem Gefängnis galt, gilt heute noch immer. So schreibt auch Koppenfels abschließend in seinem vielleicht etwas für einen einordnenden Überblick wie einer weiterweisenden Interpretation zu kurz und pathetisch geratenen Nachwort von viereinhalb Seiten: »Zur Überheblichkeit angesichts der anderswo unverändert gängigen Verfolgungen von Autoren besteht kein Anlaß – wohl aber zum Widerspruch.« In Deutschland sind Kassiber, also schriftliche Mitteilungen von Gefangenen, nach §115 des Ordnungswidrigkeitsgesetzes noch immer genauso verboten wie in früheren Zeiten. Unser Glück ist es vielleicht einzig, dass bei uns keine Dichter aus staatlicher Repression wegen ihrer Kunst mehr im Gefängnis sitzen – oder wir davon nichts mitbekommen. Aber wer sind wir, nur nach uns zu schauen? Das uns in diesem Band vorgestellte Leid des Künstlers wird auch heute noch oft genug ertragen. Dass wir dies wissen, liegt manches Mal an mutigen Zellengenossen oder, wie im Falle Mandelstams und seiner Frau, im ausgezeichneten Gedächtnis, durch das dieses ›Kassiber-Wunder‹ (Koppenfels) geschehen konnte. Vergessen wir aber nicht jene, deren Verse die Mauern nicht überwinden konnten. Die Gedichte halten uns auch und gerade heute zur Verantwortung gegenüber dem freien Mensch und seinem Wort an, das wir in Europa und dem Rest der Welt bewahren müssen, auch und gerade wo sie nicht unseren Überzeugungen und Werten entsprechen. So darf auch der in seinen späteren Jahren bekennende Faschist Ezra Pound nicht fehlen, der nach Kriegsende in einem Pisaner Straflager der rettenden amerikanischen Armee bis zum physischen Zusammenbruch gepeinigt wurde: »Die Ameise ist Kentaur in ihrer Drachenwelt.«

Davon einmal abgesehen, wurde hier eine thematisch natürlich enge, aber darin doch adäquate Lyrikgeschichte vorgelegt. Man folgt zuerst den formal klar strukturierten frühen Gedichten elegischen Charakters aus Frankreich oder England, folgt ihren Denkbewegungen zurück in die Antike, zu Gott, der Hölle und anderen großen Begriffen, die uns heute etwas benutzt vorkommen mögen, aber in ihrem strengen, beeindruckenden Bau dann doch funktionieren, weil darin der Klang, das spezifisch Lyrische liegt. Was, wo notwendig, an den meist wirklich sehr guten Übersetzungen, die, wenn nicht von den kanonischen Übersetzungen genommen, von Koppenfels selbst besorgt wurden, liegt.
Celan als Mandelstam-Übersetzer ist natürlich großartig. Wobei Paul Zechs Nachdichtungen von Villon diesem und dem derben Galgenhumor seiner Verse näher sind als was K.L. Ammer korrekt übersetzt. Weniger wichtig dürfte sein, ob jemand meterlang an einem Ulmenast oder einem klafterlangen Strick hängt. Wichtig ist, dass er am Hals spürt, wie schwer sein Arsch wiegt und nicht wie der Hals spürt, wie schwer sein Hintern wiegt. Da geht denn leider doch etwas in der Exaktheit verloren. Aber auch das fällt insgesamt weniger arg ins Gewicht, da es durch den fremdsprachigen Gedichten oft vorangestellten prägnanten Strophen in der Originalsprache aufgefangen wird. Das zeigt auch gleich wieder, wie eigen jeder Umgang mit dem Kerker ist. Man kann in den Originalklang eintauchen, in die Lyrik, die ganz auf sich selbst vertrauend die Welt des Gefangenen und die in ihrer Zeit gefangene Welt vermisst. Wird in früheren Zeiten noch Gott angerufen, sich nach dem Tod als Erlösung gesehnt – »für mich war es kein Tod, nur für mein Leid« –, vergeht auch diese außerweltliche letzte Hoffnung mit den Jahrhunderten und endet im KZ in knappen schmucklosen Versen: »Brot rettet mich,/ Brot tötet dich,/ Brot, das du deinem Bruder entrangst/ vor Hunger und Angst.« Da wird nicht mehr nach Regel und Harmonie gebaut, nur noch die letzte Angst widergegeben. Zwischen diesen Gedichten spannt sich nicht nur eine Lyrikgeschichte, auch eine Geschichte Europas auf, die mal mehr, mal weniger eindringlich wiedergegeben wird. Auf manche Gedichte hätte man vielleicht verzichten können, aber keines stört zwischen jenen, die einem nahe gehen, weil dort alles zusammenkommt, das ertragene Leid in einer unmittelbar erfahrbaren lyrischen Sprache. Etwas schmal ist der Band vielleicht, aber als schlaglichternde Andeutungen – jeder Dichter bekommt nur Raum für wenige Gedichte – durchaus ausreichend. Vor allem fällt das wegen der präzisen Einordnungen der jeweiligen Lebensgeschichten im Anhang wenig ins Gewicht, da die Lektüre so oft nur der Anfangspunkt ist. Möglicherweise besorgt man sich bald auch das Kleine und Große Testament Villons oder spart schon mal für die zweisprachige Ausgabe der Cantos Pounds.

 

Tommaso Campanella schließt im 16. Jahrhundert sein Sonett »Am Kaukasus« in resignativer Fügung: »So bleib ich, wie Gott will, der niemals irrt.« Das wird ihm genauso geholfen haben, wie die kämpferische Anrufung Bonhoeffers aus dem letzten Jahrhundert: »Brüder, bis nach langer Nacht/ unser Tag anbricht,/ halten wir stand!« Ach Europa, vergiss das Land nicht, wo die Kanonen blühen, das Land der Richter und Henker.

Artikel online seit 22.05.15
 

Werner von Koppenfels (Hrsg.)
Aus den Kerkern Europas

Poetische Kassiber von Villon bis Pound
C.H.Beck
Klappenbroschur, 135 Seiten
978-3-406-66800-5
€ 14,95

Leseprobe

 


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