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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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»Alles wegfieren!»

Rudyard Kiplings in Aufbau und Sprache meisterhafter Roman »Über Bord«
erzählt vom Erwachsenwerden und der harten Arbeit der Fischer.

Von Georg Patzer

 

»Dieser junge Cheyne ist die schlimmste Pest an Bord«, sagte ein Mann im Friesmantel; er knallte die Tür zu. Ein weißhaariger Deutscher empfahl, ihn mit einem »Dampen« zu schlagen, aber ein Mann aus New York meinte, er sei doch eigentlich ganz harmlos: »Hat mehr Mitleid verdient als sonst was. Den hat man doch von Hotel zu Hotel geschleppt, seit er ganz klein war. Ich hab mich heut früh mit seiner Mutter unterhalten. Sehr liebe Frau, aber mit dem Jungen wird sie wirklich nicht fertig.«

Wer so kurz und liebevoll vorgestellt wird, ist der 15-jährige, völlig verzogene Sohn eines amerikanischen Multimillionärs, Harvey Cheyne. Auf dem Schiff tut er so, als wenn er erwachsen wäre. Als er aber vom Deutschen eine Zigarre bekommt, bekommt sie ihm nicht. Er schleppt sich auf Deck, »wurde ohnmächtig vor Seekrankheit, und ein Rollen des Schiffs kippte ihn über die Reling auf die glatte Kante des Schildkrötendrecks. Dann kam eine flache graue Mutterwelle aus dem Nebel, nahm Harvey sozusagen unter dem Arm und zog ihn herunter und fort nach Lee; das große Grün schloss sich über ihm, und er schlief ruhig ein.«  Niemand hat etwas gemerkt, die See war kabbelig, keiner sonst war draußen.

Zu seinem Glück wird er vom Kabeljaufischkutter »We're here«  aufgefischt, der gerade in den Nordatlantik ausläuft. Natürlich verlangt der arrogante Junge, dass sie ihn sofort wieder zurück nach New York bringen, und erzählt, dass sie dafür reichlich belohnt werden würden. Natürlich glaubt ihm niemand, den Namen Cheyne hat an Bord noch niemand gehört. Nein, er muss als Ersatz für den ertrunkenen Schiffsjungen Otto an Bord Dienst tun, muss sich schnellstens an die harte Arbeit gewöhnen, muss auch den rauhen Ton über sich ergehen lassen, bis er merkt, dass das nur die harte Schale ist: Im Grunde sind die Fischer herzensgute Menschen. Seine Erzählungen von seinem reichen Leben und dem monatlichen Taschengeld, das den Jahreslohn eines Fischers weit übersteigt, halten sie natürlich für abstruse Märchen, für Wichtigtuerei: »Biste sicher, dasste dir nich irgendwo den Kopf gestoßen hast, wie du über Bord gefallen bist?« Nach und nach freundet er sich mit dem etwa gleichaltrigen Sohn des Kapitäns an, Dan, der ihm sogar zu helfen versucht: »Zieh den Kopp ein und geh bei mir längsseits, sonst kriegste 'ne Abreibung un ich auch, weil ich dir helf.« 

Nach und nach lernt Harvey, dass es noch ein anderes Leben gibt, eines, wo die Mutter nicht schon Zustände bekommt, wenn er sich mal die Füße nass macht. Er beginnt, sich in sein Schicksal zu fügen, er lernt hart zu arbeiten, und er lernt, dieses Leben an der frischen Luft sogar zu genießen. »Da er ein Junge und sehr beschäftigt war, zerbrach er sich den Kopf nicht zu sehr mit Denken. Es tat ihm sehr leid um seine Mutter, und oft sehnte er sich danach sie zu sehen und ihr vor allem von diesem wundervollen neuen Leben zu erzählen und wie hervorragend er seine Sache machte. Ansonsten fragte er sich lieber nicht zu genau, wie sie wohl mit dem Schock seines vermeintlichen Todes fertig würde.« Am Schluss des Romans ist er ein Mann geworden, er hat gelernt, mit einfachen Menschen ein einfaches, aber erfülltes Leben zu führen. Sein Vater ist stolz auf ihn, und was ihm noch wichtiger ist: Sein Kapitän ist stolz auf ihn.

Diese Geschichte von Rudyard Kipling, »Über Bord«, ist ein abrupter Bildungsroman, die Geschichte eines Jungen, der nach allerlei Abenteuern zu einem Mann heranwächst. Es ist aber auch eine Sozialstudie und eine präzise, detaillierte Beschreibung eines alten Handwerkes: der Seefahrt. Das Buch wimmelt von Ausdrücken, die man im Binnenland nie zu hören bekommt: »hart nieder«, »hart nach Lee«, »alles wegfieren«, »Klüver bergen«, »staken«. Es ist, anders als Melvilles mystisch und mythisch überhöhter »Moby Dick« ein harter und realistischer Roman von der zeitraubenden und auch gefährlichen Arbeit auf hoher See, um die hungrigen Mäuler einer austrebenden Nation zu füllen. Ausgelaufen wird im Frühjahr, die Rückkehr ist im September, dazwischen ist nur die Weite der See, die Enge der Kajüte und viel körperlich harte Arbeit.

Der Roman ist auch ein hervorragendes Beispiel für Kiplings sprachliche und literarische Meisterschaft. Zum einen das Tempo: Auf der ersten Seite ist bereits klar, was für ein Ekel der junge Harvey ist, nach drei Seiten ist er schon von der See verschlungen worden. Mit nur wenigen Worten steht jeder Charakter sofort lebendig vor den Augen des Lesers. Und die Handlung wird geradezu durch das Buch gepeitscht. Das machte ihm damals kaum einer nach, und die gesamte deutsche Literatur der Jetztzeit wird einem nach diesem Roman zur Einschlaflektüre. Gespickt ist das alles mit wunderbaren Geschichten und Anekdoten, die immer wieder eingeflochten werden, und die von der überbordenden Fantasie des Autors künden.

Und seine Sprache. Sie war damals, 1896, als der Roman als hoch bezahlter Vorabdruck in »McClure's Magazine« erschien, so modern und experimentell wie heute. Kipling spielt, wie auch Mark Twain es in »Huckleberry Finn« getan hat, mit den Dialekten, die auf dem Schiff gesprochen wurden, mit den oft verkürzten Fachausdrücken der Seemanssprache, mit dem Pidgin des Portugiesen Manuel und des schwarzen Kochs MacDonald, mit gälischen Wurzeln und nrmalem Umgangsslang, der bei dem Übersetzer Haefs, der dies alles wunderbar ins Deutsche bringt, zu einer Art Norddeutsch wird. Und zwischendurch gibt es dichte Beschreibungen der Natur, die einem fast die Gischt ins Gesicht treiben: »Harvey, der alles andere als stumpf war, begann all dies zu begreifen und zu genießen; den trockenen Refrain von Wolkenkämmen, die mit einem Geräusch wie von unablässigem Reißen überschlagen; die Hetzjagd der Winde, die über offenen Weiten die tiefblauen Wolkenschatten zusammentreiben, und den herrlichen Aufruhr des roten Sonnenaufgangs«. Elf Jahre später bekam Kipling den Nobelpreis für Literatur zugesprochen, als erster englischsprachiger Autor und bis heute der jüngste, mit knapp 42 Jahren. Er ist bis heute nach Shakespeare der Autor mit dem größten Wortschatz und, ebenfalls nach Shakespeare und der Bibel, der meistzitierte in England.

Die Neuausgabe, die unter dem Titel »Über Bord« erschien, lehnt sich an die 2007er-Ausgabe im Mare Verlag an, wurde vom Übersetzer Gisbert Haefs, der den Roman schon 1995 für den Haffmans Verlag übertragen hatte, überarbeitet und mit Anmerkungen und einem kenntnisreichen Nachwort versehen. Der Band ist schön gestaltet, von Christian Schneider fantasievoll illustriert und hat als Clou als loses Blatt eine kleine Seekarte des Nordatlantiks.

Artikel online seit 30.12.15

 

Rudyard Kipling
Über Bord
Roman
Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Gisbert Haefs.
Illustriert von Christian Schneider
Edition Büchergilde
300 Seiten
25 Euro
978-3-86406-060-1

 


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