Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 


Von Durazzo bis Kabul

Steffen Kopetzkys »Risiko« liefert ein abenteuerliches Stück Weltgeschichte
mit einer Prise Capus, Lawrence und Karl May

Von Jürgen Seul

 

Im Sommer 1914 liegt der junge Marinefunkoffizier Sebastian Stichnote mit seinem Schiff vor der albanischen Küste. Der Erste Weltkrieg beginnt, und so muss sich die unterlegene deutsche Flotte nach den ersten Gefechten mit der Royal Navy durch das Mittelmeer nach Konstantinopel retten. Damit endet der erste Teil der Odyssee des jungen Deutschen, der jedoch nur den Prolog einer abenteuerlichen Exkursion darstellt, die den eigentlichen Kern der geschilderten Geschichte darstellt. In der noch neutralen Türkei wartet der Diplomat und Orientkenner Freiherr Max von Oppenheim mit einem abenteuerlichen Plan auf: Unter der Führung von Oberleutnant Oskar Niedermayer schickt er eine Geheimexpedition auf den Weg nach Kabul, um im Auftrag des »Sultans von Deutschland« Hadschi Wilhelm el-Almani ein Bündnis mit den Afghanen gegen die britischen Kolonialherren bzw. deutschen Weltkriegsgegner zu schließen.

Eine fast vergessene deutsche Geheimexpedition

Die Vertreter des Deutschen Reiches planen nicht mehr und nicht weniger, als die Muslime, die bislang ihr geknechtetes Dasein unter dem Joch des britischen Empires fristen mussten, zum Dschihad, zum Heiligen Krieg, aufzurufen. Heutzutage dürfte so ziemlich jeder auch nichtmuslimische mitteleuropäische Leser von dieser mehr als zweifelhaften pseudoreligiösen Agitation – offiziell im Namen und Sinne Allahs – gehört haben. Und schon damals waren es alles andere als religiöse Beweggründe, die den Glauben im Sinne machtpolitischer, weltlicher Interessen missbrauchten.

Auch Marinefunkoffizier Sebastian Stichnote gehört im Roman dem bunten Expeditionskorps an. Seine Aufgabe besteht in der Betreuung einer transportablen Funkanlage, was allerdings nur bis Isfahan gelingt. Anschließend müssen Brieftauben die notwendigen Informationen übermittlen. Neben Stichnote reisen u.a. der NZZ-Journalist Adolph Zickler und der britische Spion Andrew Gilbert alias Gilbert Khan mit.

Die abenteuerliche und verlustreiche Reise, deren Geheimauftrag nicht lange im Verborgenen bleibt, führt die illustre Gesellschaft aus Militärs und Zivilisten nach Syrien, Bagdad, Teheran, Isfahan, die persische Wüste bis zum tatsächlichen Expeditionsziel.

Ein Brettspiel als Handlungselement

Ein besonderer Kniff des Romans besteht in der besonderen Rolle, die darin das Brettspiel »The Great Game« (in Deutschland unter dem Namen »Risiko« bekannt) spielt, ein Strategiespiel mit Weltkarte und Spielfiguren, die es den Spielern bzw. Protagonisten erlauben, »für Stunden eine eigene Welt zu bilden, die ihre Spieler so manches Mal mehr packte, als die wirkliche es je vermocht hätte.« Dem Spiel, das regelmäßig ausgepackt wird und in dem sich vor allem Stichnote als ein wahrer Meister zeigt, kommt die Rolle zu, auch die Gesamtsituation des Krieges sozusagen en miniature begleitend zum Handlungsverlauf des Romans noch einmal wieder zu spiegeln. Auf der einen Seite wirken die regelmäßig geschilderten Duelle im Handlungsrahmen eher fehl am Platz; auf der anderen Seite jedoch fügt sich »The Great Game« wieder in die Groteske der gesamten Geheimaktion wie auch die fehlende Sinnhaftigkeit des Krieges überhaupt ein.

Literarische Verwandtschaften

Während die Figur des Stichnote fiktiv ist, um vor allem die beiden Romanteile miteinander logisch verbinden zu können, prägen zahlreiche historische Personen der damaligen Zeitgeschichte wie Oskar Niedermayer das Geschehen. Und in dieser Mischung aus tatsächlichen historischen Ereignissen und fiktiven Elementen liegt letztlich der besondere Reiz des Romans. Speziell abenteuerliche Exkursionen im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. kennt die Literatur natürlich schon – siehe etwa den brillanten und auf ebenso wahren Tatsachen beruhende Roman von Alex Capus: »Eine Frage der Zeit«, in dem drei norddeutsche Werftarbeiter im Jahr 1913 beauftragt werden, ein Dampfschiff in seine Einzelteile zu zerlegen und am Tanganikasee südlich des Kilimandscharo wieder zusammenzusetzen. Zur gleichen Zeit beauftragt Wilhelm Churchill ein Kommando mit dem Transport zweier Kanonenboote über Land durch halb Afrika an den Tanganikasee. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs liegen sich dann Deutsche und Engländer an den pittoresken Ufern des tropischen Sees in feindseliger Absicht gegenüber. 

Der Autor Steffen Kopetzky selber bekannte sich in einem Interview (intellectures, 29. April 2015) insbesondere zu den Werken von Karl May und Lawrence von Arabien alias Thomas Edward Lawrence. Vor allem »Die sieben Säulen der Weisheit« von Lawrence inspirierte ihn im Hinblick auf die seinerzeitige Problematik der Homosexualität für »die Geschichte des NZZ-Korrespondenten Adolph Zickler«. Interessant sind Kopetzkys Aussagen über Karl May, in dessen Romanräumen (Osmanisches Reich, Persien) sich der Roman zu großen Teilen bewegt:

»Weder als Kind noch später wurde ich recht warm mit seiner Literatur. Aber während der Recherche habe ich schon bestimmte Bücher von ihm mit gewinnendem Vergnügen gelesen, angefangen von Durch das Land der Skipetaren über Durchs wilde Kurdistan bis hin zu Von Bagdad nach Stambul. Das sind ja auch die Settings meines Romans, da kam ich gar nicht dran vorbei.«

Auch im Roman selber wird Karl May thematisiert, indem der erwähnte Zickler das Buch »Von Bagdad nach Stambul« mit sich führt, da es »die beste Einführung in die Geschichte des Islam und die Lebensart des Orients, die es auf Deutsch gebe«, sei. Andererseits empfindet Zickler – und hierbei spricht er vermutlich Kopetzky aus der Seele –, dass »ersten hundert Seiten […] mühsam gewesen (waren), ein einziges Hin und Her zwischen Kara Ben Nemsi und seinen Leuten und irgendwelchen auf komplizierte Weise verfeindeten Kurden.«

Vorzüge und Manko

Nun, mühsam erscheinen auch die ersten hundert, zweihundert Seiten von »Risiko«, die – sieht man einmal vom Prolog ab (der eigentlich ein Epilog ist) – den Gang der Handlung nur langsam voranschreiten lassen und die den Leser auch vor die Frage stellen, wann denn eigentlich die Geheimexpedition an den Hindukusch beginnen wird. In diesem langen Anlauf zum Auftakt der »eigentlichen« Story liegt ein Manko des Romans.

Dagegen zählen Stichnotes Drogenalpträume zu den literarisch beeindruckenden Romanpassagen, die auch zugleich den jungen Marinefunkoffizier als Antihelden mit all seinen Schwächen zeigen. Sehr plastisch und erschreckend werden die Szenen geschildert, wie etwa:

»Ein abgeschnittenes Ohr, das tropfend auf dem Tisch lag. Ein persisch sprechendes Pferd mit teuflischen Augen. Buntschillernde Schlangen, die seine Tauben vertilgten, auf Stichnote zuschnellten, sich ihm um den Hals wickelten und ihn würgten. Aber dies waren Schrecken am Rande gewesen.«

Mit »Risiko« gelingt es ihm ferner, dem Leser einen kurzen Blick in die Hintergründe jener politischen Konflikte zu vermitteln, die gerade heutzutage – siehe Afghanistan, Irak, Syrien, IS-Terrorismus usw.– mehr denn je die politischen Nachfahren Kaiser Wilhelms II. in Atem halten. Es ist der fatale Fehler der westlichen Welt, den fundamentalistischen politisierten Islam lange Zeit unterschätzt zu haben und bzw. im eigenen Interesse benutzen zu wollen, bis er letztlich dem fremden Machtzugriff entgleitet, sich selbständig macht und gegen den Westen richtet.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass Kopetzky mit seinem aktuellen Roman »Risiko« an der Wiederbelebung des historischen Romans teilnimmt, zu deren Höhepunkten zuletzt u.a. Christian Krachts »Imperium« oder Daniel Kehlmanns »Vermessung der Welt« gehörten.

Für viele historisch interessierte Leser ist das Sujet des Buches gewiss eine Überraschung, aber gerade das gehört ebenfalls zu seinen Vorzügen, denn die »klassischen« Schilderungen im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg benötigen keine ständige literarische Wiederholung. Trotz seiner gelegentlichen Längen und einer etwas verwirrenden Erzählstruktur ist Kopetzkys Werk lesenswert.  

Artikel online seit 20.07.15
 

Steffen Kopetzky
Risiko
Roman
Klett-Cotta
731 Seiten
24,95 €
978-3-608-93991-0

Leseprobe


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Filme   Impressum - Mediadaten