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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Eher bescheiden

Jan-Werner Müller erklärt »Was ist Populismus?« Aber seine
Vorschläge zum Umgang mit Populisten bleiben in Allgemeinplätzen
und demokratietheoretischen Volten stecken.

Von Gregor Keuschnig

 

Inzwischen gibt es kaum noch eine Nachrichtensendung, die ohne den Begriff des "Populismus" aufkommt; meist in der Form als "Rechtspopulismus", etwa wenn es um die österreichische FPÖ, den französischen Front National, die ungarische oder die polnische Regierung geht. Aber was ist eigentlich Populismus? Welche Folgen hat er, könnte er haben? Jan-Werner Müller, Lehrer für politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton, möchte mit seinem Buch "Was ist Populismus?"abseits tagespolitische Aufgeregtheiten eine "kritische Theorie des Populismus" formulieren.

Bereits auf den ersten Seiten bilanziert er seine These: Populismus sei "der Tendenz nach zweifelsohne antidemokratisch". Populisten gefährdeten die Grundprinzipien der repräsentativen Demokratie. Populismus sei "eine ganz bestimmte Politikvorstellung, laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen". Daher engagierten sich Populisten für plebiszitäre Elemente, aber, so die These, "Populisten interessieren sich gar nicht für die Partizipation der Bürger an sich; ihre Kritik gilt nicht dem Prinzip der politischen Repräsentation als solchem … sondern den amtierenden Repräsentanten, welche die Interessen des Volkes angeblich gar nicht vertreten."

Zwei Merkmale für Populisten

Es gibt laut Müller zwei essentielle Identifikationsmerkmale für Populismus, die ineinander greifen. Zum einen ist er antipluralistisch (nicht per se anti-institutionell). Und zum anderen nimmt er für sich und seine politischen Thesen die alleinige moralische Vertretung in Anspruch. Und so kommt es, dass, "wer sich ihnen [den Populisten] entgegenstellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch bestreitet", "automatisch nicht zum wahren Volk" zugeschlagen und am Ende ausgegrenzt werde. Populisten sagen: "Wir - und nur wir - repräsentieren das Volk", und das nicht als empirische, sondern als moralische Aussage.

Antipluralismus und moralischer Alleinvertretungsanspruch greifen zwar durchaus ineinander. Ist aber eines der Kriterien nicht erfüllt, handelt es sich – so die These – nicht um Populismus. So gerierten sich Populisten zwar gegen die bestehenden Formen politischer Repräsentation und gegen das politische Establishment, aber – und das macht die Sache kompliziert – "nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist ein Populist". Und auch wer "auf der Grundlage moralischer Absolutheitsansprüche agiert, sich jedoch nicht über das Kollektivsubjekt Volk legitimiert" sei kein Populist sei. Während Populisten ihrem Verständnis nach 100% des Volkes repräsentieren, hätte die Occupy-Bewegung von sich als Vertreter der "99%" gesprochen. Demzufolge sei, so der Schluss, Occupy nicht populistisch. 

Durch diese Volte wird, wie sich später zeigen wird, Populismus auf nationalistische, ja völkische Dimensionen verengt. Und dies übrigens trotz der von Müller immer wieder, womöglich aus Gründen eines diffusen Ausgewogenheitsgefühls eingestreuten Beispiele eines sogenannten Linkspopulismus venezolanischer oder, von ihm seltener berücksichtigt, bolivianischer Prägung, die beide bei näherer Sicht stark nationalistische Elemente aufweisen.

Müller gibt einen kurzen historischen Überblick und beschäftigt sich mit dem amerikanischen Populismus-Verständnis, dass deutlich von dem europäischen variiert. Und es gibt einen kurzen Abriss über tatsächliche oder vermeintliche populistische Strömungen in der Geschichte, bevor er zu dem Schluss kommt, dass Populismus ein relativ neues Phänomen der Moderne ist.

Müller erkennt im Populismus eine ambivalente Gegenströmung zur repräsentativen Demokratie. Repräsentation sei auch "an sich" kein rein demokratisches Prinzip. Dies habe damit zu tun, dass es in einer Demokratie kein imperatives Mandat geben könne – aber genau dies könne man aus der Repräsentation herauslesen. Hier gibt es einen Hiatus: Der politische gewählte Repräsentant, der Abgeordnete ist laut Grundgesetz ausschließlich seinem Gewissen verantwortlich und nicht den Wählern. Populisten instrumentalisierten nun den Gedanken eines imperativen Mandats, welches plebiszitär vergeben würde.

Populisten an der Macht

In der Praxis zeige sich, wenn Populisten erst einmal an der Macht seien, ihr "real praktizierte[r] Antipluralismus" überdeutlich, so Müller. Da wäre zunächst der Versuch der "Vereinnahmung des gesamten Staates". Verfassungen und Gesetze würden zurechtgebogen, das System von "Checks and Balances", essentiell für demokratische Strukturen, ausgehebelt. Gesellschaftlich relevante Institutionen würden mit loyalen Personen unterwandert. Das nennt Müller "Massenklientelismus". Jeder bekomme das Gefühl, an der Umsetzung des "Volkswillens", der in Wahrheit natürlich nur der Willen der Partei oder der Bewegung darstellt, mitzuwirken. Schließlich würden oppositionelle Teile der Zivilgesellschaft inklusive der Medien unterdrückt bzw. auf Regierungslinie gebracht. Einher geht dies mit einem fortgesetzten Alarmismus. "Krise wird zum Dauerzustand stilisiert", so Müller. Der Wahlkampf ende für Populisten nie.

Die Beispiele, die genannt werden, sind schlüssig (Polen, Ungarn, die Türkei unter Erdoğan und auch hier wieder Venezuela als Antipode). Aber wann wird die Schwelle vom Populismus zur Demagogie überschritten? Eine genaue Ausarbeitung dieser Problematik unterbleibt. Und noch eine Frage bleibt unbeantwortet. Schlüssig erklärt Müller, dass populistische Parteien, sobald sie an der Macht sind, dazu neigen, ihren Alleinvertretungsanspruch zügig zu institutionalisieren und damit zu festigen. Aber wann wird dann daraus eine Diktatur? Das Abhalten von Wahlen ist ja nach Müller kein hinreichendes Abgrenzungskriterium mehr. Er weist darauf hin, dass sich Populisten zumindest zu Beginn durch Wahlen in ihrer Politik bestärken lassen. Wann schlägt es also um?

Gespannt ist man auf das Kapitel "Vom demokratischen Umgang mit Populisten". Hier hat der Autor Probleme bei der allzu schnellen und schroffen Exklusion von Populisten aus dem Debattendiskurs. Er warnt außerdem vor voreiligen oder allzu griffigen Deutungen, warum Wähler populistischen Strömungen zuneigen. Die gängigen soziologischen Erklärungen, etwa dass die Anhänger populistischer Parteien Modernisierungsverlierer seien, lehnt er aus empirischen Gründen ebenso ab wie pauschale "psychologische Unterstellungen", wie beispielsweise die Attestierung eines autoritären Charakters von Populismus-Anhängern. Bei der Zuweisung dieser Attribute schwinge immer etwas von "Herrenreiter-Attitüde" mit, ein herablassend-fürsorglicher Gestus. An ihren Worten soll man die Populisten erkennen – nicht an ihren Wählern, so Müller. Und sogar die These, dass der Populismus einfache Lösungen fordere, wird verworfen.

"Zivilisierter Pluralismus" statt Dämonisierung

Eine weitere Gefahr sieht der Autor darin, dass der Populismus-Vorwurf  inflationär für jede missliebige Meinung verwenden würde (hier nennt er die kritischen Stimmen bei der sogenannten "Euro-Rettung" der letzten Jahre, die allzu oft und in Windeseile zu "EU-Gegnern" und, zuweilen, zu Friedensfeinden gemacht worden waren). Er ist gegen Sprechverbote; statt Illiberalität den Illiberalen gegenüber plädiert er für eine "Auseinandersetzung", die in einem Klima des "zivilisierte[n] Pluralismus" stattzufinden habe. Es gehe darum, die "moralische Dimension des populistischen Weltbildes" zu verstehen und ernst zu nehmen, statt zur Denkfaulheit neigende Dämonisierungen vorzunehmen. Dabei stellt Müller klar, dass manche Einwände gegen Populisten ebenfalls antipluralistisch und mit Alleinvertretungsanspruch daherkämen. Man kämpfe für die "richtige Sache" – etwas, was eben auch Populisten für sich in Anspruch nehmen. Aber demokratische Debatten würden weder einen Garanten noch ein vorbestimmtes Ende kennen.

Müller bemerkt eine veritable Verunsicherung der politischen Eliten. Ihre Projekte wanken und ihre Deutungshoheit wird bedroht. An zwei Beispielen wird dies ausgeführt. Da ist zunächst die zunehmende Ablehnung der Institution(en) der Europäischen Union gegenüber (allzu schnell als "antieuropäisch" denunziert). Bis in die 1990er Jahre hinein seien die Maßnahmen zur fortschreitenden Integration der EU ohne große Akzeptanzprobleme verlaufen. Es habe zwischen Bevölkerung und Politik einen "permissiven Konsens" gegeben, was "Europa" angehe. Erst als die politischen Maßnahmen immer mehr Bereiche des Alltags berührten, begann die Zustimmung zu bröckeln. Als besonders einschneidend wurden hier die Aufgabe der Nationalwährungen zu Gunsten des Euro und sich seit 2008 zeigenden, krisenhaften Symptome wahrgenommen. Müller macht die von den politischen Entscheidungsträgern aufgebaute Fatalität der Alternativlosigkeit für die Eskalation für diese EU-Verdrossenheit mit verantwortlich.

Der andere Punkt betrifft die Flüchtlingskrise im Herbst 2015. Auch hier seien berechtigte Bedenken gegen die Politik der Bundeskanzlerin schon im Ansatz diffamiert worden. Müller markiert hier eine Konfliktlinie zwischen zwei Politikentwürfen: der "Integration" und der "Demarkation". Beide Seiten beanspruchten für sich je die absolute Wahrheit. Die Kosmopoliten (Integration), die der uneingeschränkten Aufnahme der Flüchtlinge das Wort redeten, hätten in populistischer Manier einen moralischen Alleinvertretungsanspruch geltend gemacht. Dieser sei aber nicht in einem demokratischen Verfahren legitimiert worden. Die Ausgrenzung der Demarkations-Befürworter durch die Kosmopoliten sei einer demokratischen Entwicklung nicht förderlich.

Es gibt nun politische Kommentatoren, die eine Art künstlichen Populismus von links als Gegengewicht etablieren wollen. Mit diesen Entwürfen beschäftigt sich Müller ausgiebig – um sie am Ende zu verwerfen (was er auch muss, wenn er seine Bilanz Ernst nimmt). Wortreich erklärt er schließlich, warum er zur Bewältigung der Legitimationskrise der Europäischen Union einer  "Öffnung Europas für politische Auseinandersetzungen" (à la Habermas) zustimmt und warum dies kein Linkspopulismus ist.

Das Prozedere dieser Öffnung bleibt diffus. Müller spricht von "Politisierung von oben". Da aber eigentlich vom Autor plebiszitäre Elemente abgelehnt werden, andererseits aber von einem "Risiko" gesprochen wird, kann man mutmaßen, dass es zu einer wie auch immer gearteten Form einer Abstimmung kommen wird, die Legitimation erzeugen soll.

Müllers Buch wird inzwischen schon als Standardwerk herumgereicht. Aber es bietet leider nur eine reduzierte Sicht; unablässig wiederholt der Autor seine Thesen, fasst sie am Ende noch einmal in zehn Punkten zusammen. So bleibt etliches auf der Strecke. Wie sieht es zum Beispiel mit dem Populismus von per se nicht unter Populismusverdacht stehenden Parteien aus? Müller kritisiert, dass Populisten Länder häufig wie Unternehmen führen wollen (Berlusconi ist da ein gutes Beispiel). Dabei unterschlägt er, dass der Populismus sich auch bei einem wie Gerhard Schröder zeigte, der zum Regieren nur "Bild, BamS und Glotze" brauchte. Und die Nachfolgerin? Fällt einem nicht sofort der Atomausstieg 2011 nach dem Unfall von Fukushima ein? Obwohl einige Monate vorher noch die Atomenergie gesetzliche und damit rechtsverbindliche Sicherungszusagen erhielt, wurde praktisch über Nacht eine 180-Grad-Wende vollzogen; nicht zuletzt um die drohende Niederlage bei einer Landtagswahl noch abzuwenden (was nicht gelang). Populismus wird nämlich nicht nur von antipluralistischen Demokratieverächtern eingesetzt (die man schnell in eine Schmuddelecke stellen kann), sondern eben auch von "normalen" Parteien, wenn sie glauben, dass es ihnen dienen könnte.

Müller versäumt es, das Scheitern populistischer Wahlkämpfe zu beschreiben, wie sie beispielsweise die SVP in der Schweiz durchaus erlebt (medial ist es nur dankbarer, die vermeintlichen Erfolge der SVP in den Abstimmungen herauszustellen). Auch der dezidiert zuwanderungsfeindlich geführte und am Ende gescheiterte Wahlkampf der CDU in Hessen unter Roland Koch von 1999 wird nicht erwähnt. Es gibt also sehr wohl Möglichkeiten, populistischen Parolen jenseits TINA ("There Is No Alternative") etwas entgegenzusetzen.

Populistische Haken auch in "normalen" Parteien

Damit kommt man zum Urgrund dessen, was Populismus eigentlich ist, aber bei Müller ebenfalls nicht vorkommt.  Populismus ist ein Politikstil, der mittels unterkomplexer, vermeintlich populärer Phrasen Komplexität leugnet. Stattdessen werden eingängige Phrasen als Lösungen für komplizierte politische Sachverhalte angeboten. Die politische Spannbreite ist dabei enorm. Sie reicht von "Ausländer 'raus" über "Wir schalten jetzt alle AKW und Kohlekraftwerke ab" bis zu "Hartz IV abschaffen". Populismus ist also zunächst einmal ein rhetorisches Mittel um (durch Umfragen wahrgenommene) Stimmungen bei potentiellen Wählern für die eigene Agenda aufzunehmen. Populisten wissen in der Regel, dass ihre Forderungen nicht derart umsetzbar sind wie dies suggeriert wird bzw. keine grundsätzlichen Lösungen geboten werden. Sie werden dennoch verwendet um zu demonstrieren, dass man handelt bzw. handeln würde.  Insofern ist die Regierung im Gegensatz zur Opposition vor Populismus meist gefeit – sie müsste einfach nur handeln. Wo dies nicht geht, werden dann doch zuweilen populistische Haken geschlagen, in dem das Nicht-Handeln mit fremden Zwängen begründet wird (bei Problemen innerhalb der EU wird dies gerne auf die Gremien in Brüssel geschoben oder innenpolitisch werden die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat herangezogen).

Populisten schielen nach Mehrheiten. Dies alleine genügt inzwischen um plebiszitären Elementen gegenüber skeptisch eingestellt zu sein. Hier entwickelt Müller einen Paternalismus, den er den Gegnern des Populismus vorwirft. Dieser ist übrigens längst Konsens im linksgrünen Spektrum geworden; entgegen dem, was man vor noch rund 20 Jahren dachte, als eine verstärkte Partizipation der Bürger als notwendig erachtet wurde. Das inzwischen gereifte Misstrauen gegenüber "Volksentscheiden" nimmt zuweilen absurde Züge an. Es gipfelt darin, dass die Begriffe "Volk" und "Volkswillen" als inexistent deklariert werden. "Die" Volksmeinung gebe es nicht, weil sie sich ständig ändere und auch nicht klar sei, wer unter dem Begriff "Volk" zu subsummieren sei. Die Berufung von Populisten auf die "schweigende Mehrheit" sei demzufolge nur eine Behauptung um für sich die Legitimation zu erhalten. Dass es so etwas wie eine "Schweigespirale" gibt, scheint er zu negieren. 

Zwar hat Müller formal Recht – selbst am Wahltag einer Bundestagswahl würde die Wahl, wenn man sie zwei Stunden später noch einmal stattfinden lassen würden, sicherlich anders ausfallen. Aber entfernt man die diskreditierten Begriffe "Volk" und "Volkswillen" und ersetzt sie durch "Wähler" und "Mehrheit der Wähler", so löst sich diese Argumentation und damit ein Baustein seiner Populismus-Theorie fast schon auf. Und hier zeigt sich dann auch das Manko seines "Occupy"-Vergleichs. Nur weil diese sich als Sprachrohr für 99% sehen, sind sie nicht weniger populistisch als diejenigen, die, so Müller, für sich 100% Zustimmung in Anspruch nehmen. Und so dumm kann kein Populist sein, dass er für sich 100% Zustimmung reklamiert (es sei denn, er ist Diktator). Insofern führt Müllers Verwendung des  Tocqueville-Begriffs der "Tyrannei der Mehrheit" nicht weiter. Dabei sollte längst Konsens sein, dass demokratische Politik immer auf Mehrheitsentscheidungen basiert, die allerdings durch entsprechende institutionalisierte Kontrollmechanismen ausbalanciert werden muss. Erst wenn diese Kontrollmechanismen nicht mehr funktionieren bzw. Hand an sie gelegt wird, droht Ungemach. Das ist aber dann kein Populismus mehr, sondern Diktatur.

Ursachenforschung fehlt

Aus der Ablehnung plebiszitärer Elemente spricht  neben der Furcht vor dem "falschen" Resultat – vorsichtig ausgedrückt – auch eine Geringschätzung des potentiellen Wählers. Dieser könne, so die unausgesprochene These, die komplexen Sachverhalte nicht "richtig" bewerten. (Inwiefern dies die Repräsentanten können, die 1000-seitige Konvolute über EU-Rettungsschirme binnen 24 oder 48 Stunden lesen, verstehen und bewerten sollen, wird nicht diskutiert.) Daher versucht man erst gar nicht mittels argumentativer, anti-populistischer Auseinandersetzung die "richtige" Politik nahezubringen. Die Furcht vor dem "falschen" Resultat ist zu groß. Indirekt zeigt sich damit auch, dass die Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte versagt hat.  Die gelegentlich so hochgehaltene "Schwarmintelligenz" hat scheinbar dort ihre Grenzen, wo sie wichtige politische Entscheidungen treffen soll. Stattdessen tritt eine Art tautologischer Politikstil in den Vordergrund: Etwas ist richtig, weil es richtig ist.

Die Vorschläge Müllers zum Umgang mit Populisten im Tagesgeschäft fallen eher bescheiden aus. Auf die Gründe für das Erstarken der populistischen Parteien (oder Bewegungen) geht er kaum ein. Die über Jahrzehnte als Erstarrung wahrgenommene Politik der sogenannten "etablierten" Parteien, die allzu oft in Großen Koalitionen Probleme nur noch "auf Sicht" verwalten statt neu zu strukturieren, könnte eine Erklärung für die merkwürdige Stärke der Populisten liefern.

Die Ambivalenzen der Repräsentation sieht Müller ja durchaus. Aber seine Sicht ist demokratie-theoretisch, richtet sich gegen den eher abstrakten Begriff des imperativen Mandats. Die "moderne Demokratie", so Müller, kenne nur das "freie Mandat". Das dies eine reine Behauptung ist, die durchaus kontrovers diskutiert werden könnte, kommt gar nicht vor. (Häufig empfinden sich deutsche Abgeordnete als Repräsentanten ihrer Partei, die sie zur Wahl aufgestellt und ihren Wahlkampf bestritten hat. Es gibt also auch noch ein imperatives Mandat in Bezug auf die Partei. Dies ist bei der Betrachtung des Populismus allerdings zu vernachlässigen, da diese Parteien häufig auf eine Person ausgerichtet sind.)    

Was aber, wenn erhebliche Teile des öffentlichen Meinungsspektrums in den Parlamenten gar nicht mehr repräsentiert werden? Sollte man nicht auf eine gewisse Art und Weise populistische (nicht extremistische!) Parteien sogar begrüßen, da sie notwendige Diskussionen anstossen? (Müller negiert das nicht ganz.) Aber dies ist natürlich anstrengend, denn dass eine Dämonisierung sinnlos ist, müsste jedem auch noch gutwilligen Aktivisten inzwischen dämmern. Ein einfaches Nachplappern von Populismen zwecks "Stimmenfang" ist auf lange Sicht auch nicht zielführend, da man bereits gesehen hat, dass lieber der Originalton als das Echo gewählt wird. Insofern ist das jahrzehntelange taktisch angelegte Konzept der Unionsparteien, dass rechts von ihnen keine starke politische Kraft entstehen darf, gescheitert.    

Überall lauert der Populist

Im Herbst 2017 wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. Bereits jetzt mahnen, ja: beschwören einige Politiker, Experten, Sozilogen, Politikwissenschaftler, Lobbygruppen und NGOs, dass bestimmte Themen bitte in keinem Fall in den bevorstehenden Wahlkampf eingebracht werden sollten. Aber ist diese Art von Tabuisierung nicht das Gegenteil dessen, was in Wahlkämpfen eigentlich stattzufinden hat. Wieso darf man nicht Qualifizierung und Integration von Zuwanderern thematisieren, auf die eventuelle Belastung der Sozialsysteme und Schulen, des Wohnungs- und Arbeitsmarktes hinweisen und hierfür politische Lösungsvorschläge einbringen? Warum sollen Diskussionen über neue Rentensysteme und –formeln nicht geführt werden? Welche Gründe gibt es dafür, nicht über die Zukunft der Europäischen Union in den nächsten fünf bis zehn Jahren zu streiten? Warum sind angeblich Nationalstaaten zukunftslos und Supranationalität das Gebot der Stunde? Die Liste der Themen ließe sich noch fortsetzen. Stattdessen führt(e) man lieber Wahlkampf über lächerliche Rand- bzw. Scheinthemen wie PKW-Maut, Betreuungsgeld, Elektroautos oder die Brosche der Kanzlerin und den Stinkefinger des Kandidaten.  

Wird das 2017 anders werden? Schon klar: Überall lauert der Populist, der hieraus, so die Furcht, Wasser für seine Mühlen abzweigen könnte. Müller spricht von einem Bodensatz von 10-15% populistischer Wähler. In Österreich und Frankreich zeigt sich allerdings, dass die populistischen Parteien in dem Maße Zulauf gewinnen, in dem man sie mit Empörungsritualen, künstlichen Ausgrenzungen und Anhängerbeschimpfung versucht zu bekämpfen oder, das erwähnt Müller, einzelne politische Entscheidungen nicht anfasst oder, anders herum, in Aktionismus verfällt. Vieles spricht also dafür, den dornigen Weg des Diskurses zu beschreiten.  Dabei müssten die politischen Eliten agieren, versuchen, zu überzeugen statt von oben herab zu dekretieren. Und spätestens hier würde den (öffentlich-rechtlichen) Medien eine wichtige Rolle zukommen: Weg von der personalisierten Schlagzeilenberichterstattung hin zu einer sachbezogenen, vertiefenden aber eben nicht paternalistischen Aufklärung. "Politik von oben" alleine wird nicht funktionieren.

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Artikel online seit 09.06.16

 

Jan-Werner Müller
Was ist Populismus?
Ein Essay
Suhrkamp
Broschur, 160 Seiten
15,00 €
978-3-518-07522-7

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