Für einen
Kammerdiener gibt es keinen Helden. Nicht, weil der Held kein Held
ist, sondern weil der Kammerdiener ein Kammerdiener ist. Sagte Hegel
und hatte Recht. Irma Nelles, die jetzt ihre Erinnerungen an den
bedeutendsten Publizisten der alten Bundesrepublik aufgeschrieben
hat, war sicher dichter dran an ihrem Rudolf Augstein, als es je ein
Kammerdiener hätte sein können. Dennoch oder trotzdem ist ihr ein
Porträt gelungen, das viele Gesichter ihres Chefs zeigt. Keine
Sensationen. Keine Affären. Keine Enthüllungen, sondern nur der
genaue Bericht über eine dreißigjährige Beziehung, die zu Nähe
führte, aber nicht zu Intimitäten.
Das Buch beginnt mit Rudolph Augsteins Ende. Irma Nelles, die fast
drei Jahrzehnte für ihn arbeitete und zu einer ungewöhnlich engen
Vertrauten wurde, verabschiedet sich, als eine von Wenigen, vom
sterbenden Herausgeber.
Nelles, 1946 auf einer nordfriesischen Insel geboren, wuchs in einem
alt-katholischen Pfarrhaushalt auf. Ihr Vater, ein »Spiegel«-Leser,
sagte damals schon zu seinen fünf Kindern: »Dieser Augstein ist der
intelligenteste Kopf, den ich kenne.« Mit 26 hat sie zwei kleine
Kinder, ist geschieden und fängt als Sekretärin im Bonner Büro des
»Spiegel« an. Sie jobbt dort auch weiter, als sie Pädagogik
studiert.
Persönlich begegnet sie Augstein das erste Mal 1973. Sie ist
überrascht, wie sich bei den sonst so selbstbewussten Bonner
Redakteuren »Angst breitmacht« vor dem scharfzüngigen, oft auch
unberechenbaren Machtmenschen. Augstein kennt Gott und die Welt, hat
aber sehr wenige wirkliche Freunde. Henri Regnier, Regisseur beim
NDR und seine Frau, gehören zu diesem kleinen Kreis. Sie machen sich
Sorgen um ihn, er trinkt viel zu viel und hat heftige depressive
Phasen, in denen er sich völlig zurückzieht. Die Regniers haben, als
sie Nelles näher kennenlernen, einen Plan. Diese unkomplizierte
junge Frau hätte bestimmt einen guten Einfluss auf ihn. Auf ihr
Bitten zieht sie tatsächlich nach Hamburg und wird zunächst
Redakteurin für Leserbriefe in der Spiegel-Zentrale. Ab 1993 dann
Redakteurin in Augsteins Büro, später sogar dessen Leiterin. Es gibt
genügend Augstein-Biographien und Bücher über die politische
Situation der BRD in den Jahren 1960 bis 2000. Das Außergewöhnliche
an diesen Erinnerungen ist der ganz besondere Blickwinkel auf den
Menschen Augstein.
Nelles‘ eigene Biographie ist ganz eng mit dem Leben Augsteins
verbunden. Wie kommt es, dass dieser »hoch intelligente Mensch,
reich und unabhängig dazu«, ausgerechnet sie auswählt, »um sich ihr
anzuvertrauen«? Frauen, Geliebte hat er genug, aber sie verkörpert
anscheinend etwas »jenseits von Liebe und Freundschaft«. Natürlich
versucht er auch, sie zu verführen. Eines Morgens empfängt er sie
nicht zum Diktat, sondern im Bademantel und fordert sie auf, sich zu
ihm zu legen. Sie meint nur, sie sei ausgeschlafen und wolle sich
morgens um 10 Uhr nicht wieder ins Bett legen. Er lässt nicht
locker: »Zweimal in der Woche … das wird doch wohl nicht so
schwierig sein.« Doch sie bleibt standhaft. Warum diese Beziehung
ein Leben lang bestehen bleibt? Er weiß es genau: »Du fragst nichts,
du interessierst dich für nichts, willst doch auch gar nichts
wissen. Mit dir kann ich mich also auch über nichts streiten. Das
hat etwas kolossal Beruhigendes.«
Augstein hatte die unangenehme Eigenschaft, Menschen erst einmal
klein zu machen. Sie aber ist souverän genug und wegen solcher
Frechheiten nicht beleidigt. Wenn er sie braucht, auch manchmal
nachts, ist sie zur Stelle. Sie ist schnell zur Stelle, denn sie
wohnt in einer Villa von ihm, direkt neben seiner eigenen. So wird
die Kehrseite des Genies sichtbar, seine Krankheiten, sein
Alkoholismus, aber eben auch sein Genie. Dabei wird naturgemäß »Der
Spiegel« nicht ausgespart, politische Themen, wie die Barschel- oder
Strauß-Affäre, die Entmachtung des Chefredakteurs Kilz und Augsteins
Verhältnis zu dem neuen Chefredakteur Stefan Aust. Neben sehr
kuriosen Anekdoten erzählt das Buch von dem Lebensweg zweier äußerst
unterschiedlicher Menschen, die über viele Jahrzehnte eine Art
Lebensgemeinschaft bilden.
Artikel
online seit 10.05.16
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Irma Nelles
Der Herausgeber
Erinnerungen an Rudolf Augstein
Aufbau Verlag
320 Seiten
22,95 Euro
Leseprobe
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