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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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»All diese Orte zur selben Zeit«

In seinem neuem Roman »Aufstieg und Fall großer Mächte« schickt Tom Rachman
den Leser auf eine Reise durch drei Jahrzehnte und drei Kontinente – auf der Suche
nach dem roten Faden in der verworrenen Biografie seiner Protagonistin.

von Daniela Konzelmann

 

»Triviale Menschen glauben, gibt es nur Gegenwart – Vergangenheit ist vorbei, Zukunft kommt noch. Aber Vergangenheit ist wie Übersee: Sie existiert weiter, auch wenn du selbst bist nicht mehr hier. Zukunftszeit auch. Ist jetzt schon da.« Mit viel Lebensweisheit und einem starken russischen Akzent erklärt Humphrey Tooly seine Sicht auf die Welt und die Geschichte. Der verschrobene Humphrey, Büchernarr, Schachspieler und laut eigener Aussage »nicht praktizierender Marxist« ist nur eine der exzentrischen Figuren, die Tooly Zylberbergs Kindheit und Jugend geprägt haben.

Als Mädchen entführt und auf eine wilde Reise mit Stationen unter anderem in Bangkok, Rom und New York genommen, erlebt Tooly eine Kindheit jenseits aller Konventionen und lebt mit den unterschiedlichsten Menschen zusammen. Neben Humphrey sind das der schüchterne IT-Experte Paul, der sein Leben der Vogelbeobachtung widmet; Sarah, die plötzlich auftaucht und ebenso schnell wieder verschwindet und jedes Mal Chaos und Verwirrung hinterlässt; und Venn, der Tooly in seinen Bann zieht, der sich um sie kümmert, obwohl er sonst keinerlei Verantwortung im Leben übernimmt, die ihn an einen bestimmten Ort binden würde.

Genau wie Humphrey die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betont, wird auch der Leser auf eine Reise mitgenommen, die nicht chronologisch verläuft und auf der für Tooly die losen Enden ihrer Geschichte erst am Ende zusammenlaufen. Der Roman spielt parallel auf drei Zeitebenen: 1988 lernen wir die zehnjährige Tooly in Bangkok kennen, während der Jahrtausendwende erleben wir sie mit College-Studenten in New York und 2011 ist sie schließlich Besitzerin einer kleinen Buchhandlung in Wales. Dort versucht sie, zur Ruhe zu kommen und ihre Vergangenheit, die sie nicht durchschauen kann, hinter sich zu lassen. Dies gelingt ihr so lange, bis ein Anruf sie erneut mit den losen Enden ihrer Vergangenheit konfrontiert. Sie macht sich auf die Reise, diese Enden zusammenzuführen, ein Weg der sie erneut nach New York bringt und von dort aus weiter nach Italien und Irland; immer auf der Suche nach Antworten und nach den Menschen ihrer Kindheit. Als Leser durchschaut man das Wirrwarr aus Vergangenheit und Gegenwart nur langsam, doch gerade dadurch entfaltet der Roman seine Wucht umso kräftiger. Man folgt Toolys Erinnerung an eine ungewöhnliche Kindheit und merkt ebenso wie sie nur langsam, dass nicht alle Menschen für sie das waren, was sie zu sein vorgaben.

»Die Menschen behielten ihre Bücher, dachte Tooly, nicht, weil sie sie noch einmal lesen wollten, sondern weil die Bücher ihre Vergangenheit enthielten – die Struktur des eigenen Ichs an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit.« Da in Toolys Kindheit weder Orte noch Menschen feste Bezugspunkte für sie sein können, werden die Figuren aus ihren Büchern zu den Konstanten in ihrem Leben. Die Bücher, die sie im Laufe ihres Lebens (zum Teil immer wieder) liest, spiegeln für sie die Stationen ihrer Geschichte wider und bilden ein festes Fundament ihrer ansonsten wackeligen Identität. »Solange sie las, gab es für sie nur ihre papiernen Gefährten, das eigene Lesen erstarrte.«

Nach seinem grandiosen Debüt-Erfolg mit dem Journalisten-Roman »Die Unperfekten« im Jahr 2010 legt Rachman nun mit »Aufstieg und Fall großer Mächte« erneut einen großartigen, komplexen Roman vor. Wie die vielen literarischen Verweise innerhalb des Buches, hauptsächlich vorgebracht von Literaturliebhaber Humphrey, ist auch der Titel des Romans eine Anspielung auf das Werk des Historikers Paul Kennedy, der 1987 mit seinem Buch »Aufstieg und Fall der großen Mächte« den ökonomischen Wandel von Großmächten erläutert und damit einen Bestseller geschrieben hatte. Jedoch drängt sich beim Lesen das Gefühl auf, das weder der Roman seinem Titel noch der Titel dem Roman gerecht wird. Ein weniger weitreichender und großspuriger Titel hätte den Inhalt und die Magie dieses Romans vielleicht besser zum Ausdruck gebracht. Doch auch so lädt der Titel zusammen mit dem wunderschön schlicht gestalteten Cover den Leser zu Tooly Zylberbergs Reise ein.

»Aufstieg und Fall großer Mächte« ist ein Roman über die Suche einer jungen Frau nach ihrer eigenen Identität und Geschichte, aber es ist auch ein Roman, der die Stimmung dreier Jahrzehnte heraufbeschwört und das Nomadenleben exzentrischer Außenseiter und Weltenbummler beschreibt. Doch vor allem ist es ein Buch über Freundschaft und Liebe, die nicht an verwandtschaftliche Bindungen geknüpft sein müssen und unabhängig von Jahrzehnt und Kontinent bestehen können.

 Artikel online seit 21.05.15
 

Tom Rachman
Aufstieg und Fall großer Mächte
Roman
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Deutscher Taschenbuch Verlag
496 Seiten, (Gebunden)
21,90 €
978-3-423-28035-8


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